Inschriftenkatalog: Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises II

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 79: Rhein-Hunsrück-Kreis II (2010)

Nr. 54(†) Ravengiersburg, Kath. Pfarrkirche St. Christophorus 1497

Beschreibung

Tafel mit datierter Memorialinschrift, eine 1074 getätigte Stiftung des gräflichen Ehepaars Berthold und Hadewig betreffend. Die 1751 erstmals textlich und bereits 1761 in weitgehend sorgfältiger Nachzeichnung überlieferte Tafel1) wurde vermutlich während des Neubaus der heutigen Kirche zwischen 1708 und 1711 innen in die Nordwand des Schiffs in der Nähe des Marienaltars eingemauert2). Im Rahmen der vollständigen Innenrenovierung der Kirche in den Jahren 1964 bis 1967 wurde sie von dort entfernt, überarbeitet und am heutigen Standort innen im Erdgeschoss des Nordturms an der Westwand angebracht. Querrechteckige schmucklose Tafel aus weißgelbem Sandstein mit Inschrift in sechs Zeilen. Laut Zeichnung und Beschreibung befand sich ehemals links neben der Tafel ein „wirfelig tiefes in den Stein eingehauenes ... Loch“, das mit einem Schieber zu verschließen war und in dem noch 1761 „zweÿ große Schenkel Knochen“ zu sehen waren3). Unterhalb der Tafel war eine reliefierte Löwengruppe eingelassen, die heute ebenfalls im Erdgeschoss des Nordturms aufbewahrt wird4).

Die bis auf das ergänzte rechte untere Eck gut erhaltene Tafel wurde – den deutlich sichtbaren Scharrierspuren und den scharfkantigen Konturen der Buchstaben zufolge – stark überarbeitet, ohne aber – bis auf ganz wenige Ausnahmen – verfälschend in die Schriftstruktur einzugreifen. Ein Vergleich mit dem von Meyer 1909 publizierten Foto, das den Zustand der Inschrift lange vor der Überarbeitung zeigt, macht die nahezu perfekte Arbeit des ausführenden Steinmetzen deutlich: Vermutlich schliff er die angegriffene Oberfläche des Steines soweit ab, bis nur noch ein Rest der Kerben der Buchstaben übrig war, dann vertiefte er die Kerben und führte die Inschrift neu aus, wobei er mit nur wenigen Abweichungen5) die Linienführung der originalen Buchstaben beibehielt.

Maße: H. 72, B. 125, Bu. 5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/7]

  1. Chr(ist)ia) ◦ ob ◦ amore(m) ◦ Sa(n)ctiq(ue) ◦ m(arty)ris ◦ chr(ist)oferib) ◦ i(n) ◦ hono=/re(m) ◦ locu(m) ◦ hu(n)c ◦ co(n)tul(er)ec) ◦ g(e)n(er)os(us) ◦ bertold(us) ◦ comes ◦ Et ◦ / handewig(is)d) ◦ eius ◦ legicti(m)ad) ◦ deo ◦ fidelit(er) ◦ fa(m)ulan=/tib(us) ◦ An(n)o ◦ salutis ◦ Mo ◦ lxxiiii ◦ tercio ◦ nonas ◦ / maij ◦ hoc ◦ i(n) ◦ mauseoleod) ◦ pausantes ◦ celes=/tia ◦ bona ◦ expectantes ◦ 1497e) ◦ 5f) ◦ yd(us) ◦ au[g(usti)]g)

Übersetzung:

Aus Liebe zu Christus und zur Ehre des heiligen Märtyrers Christophorus haben der wohlgeborene Graf Berthold und seine Gemahlin Hadewig diese Stätte jenen übertragen, die Gott ergeben dienen, im Jahr des Heils 1074 am dritten Tag vor den Nonen des Mai (5. Mai). Sie ruhen hier in dieser Gruft und erwarten die himmlischen Wohltaten. 1497, am 5. Tag vor den Iden des August (9. August).

Kommentar

Die in gleichmäßigem Duktus ausgeführte, sorgfältig ins Vierlinienschema gesetzte Schrift ist bis in die Einzelheiten sorgfältig gearbeitet und weist einige zeitgenössische Besonderheiten auf. Der sich an Formen der Kapitalis orientierende A-Versal ist mit einem geschwungenen, nach links überstehenden Deckbalken gebildet, E- und S-Versal zeigen die typische Auflösung der Versalien der gotischen Minuskel in oben gebrochene und unten in Bögen verharrende Teile. M und X erinnern an vergrößerte Minuskeln, bei M ist der linke Schaft unten weit nach links geschwungen. Bei den oft mit auslaufenden Strichen verzierten Gemeinen fällt besonders das eigenwillige Schleifen-s am Wortende auf, das aus einer oben nach rechts gebrochenen Haste und einem daran ansetzenden zweistöckigen z gebildet wird; insgesamt sind die oberen Schaftenden der Gemeinen zum Teil asymmetrisch gespalten, bei p auch unten, i weisen vereinzelt Striche auf. Als Worttrenner der mit variantenreichen Kürzungszeichen versehenen Wörter dienen Quadrangel.

Die unzweifelhaft im Jahr 1497 angefertigte Inschrift6) bezieht sich auf eine 1074 urkundlich belegte Stiftung7) des Grafen Berthold und seiner Frau Hadewig zugunsten der von ihnen zuvor erbauten Kapelle/Kirche8) zu Ravengiersburg, vermutlich eine Gründung des erstmals 945 in einer Königsurkunde genannten Rabangar (Hraban). Erzbischof Siegfried I. von Mainz beurkundet im Jahr 10749), dass „Bertoldus comes et uxor eius ... Hadewic“ zunächst alle ihre Güter im Nahegau, im Trechirgau und auf dem Hunsrück dem Altar des Märtyrers St. Christophorus in „Rabengeresburc“ geschenkt und sie dann zusammen mit dem Ort Ravengiersburg selbst dem Martinsaltar im Mainzer Dom übertragen haben, damit in Ravengiersburg ein Kanonikerstift – mit Berthold als von den Kanonikern zu wählendem Vogt – eingerichtet werden könne. Die urkundlich mehrfach bezeugten Stifter waren im Königsdienst stehende Adelige10): Während Berthold der linksrheinisch agierenden Gaugrafenfamilie der Bertholde/Bezeline angehörte, entstammte Hadewig dem Gaugrafengeschlecht des urkundenden Mainzer Erzbischofs Siegfried I. von Eppstein. Da das Stifterpaar kinderlos blieb, gelangte die Ravengiersburger Vogtei über Kunigunde, die mit Emicho IV. verheiratete Schwester Bertholds, an die Nahegaugrafen, später an die Wild- und Rheingrafen.

Die großzügige, mit Zuwendungen des Mainzer Erzbischofs angereicherte Dotation erlaubte es, die neue Kirche im Verlauf des 12. Jahrhunderts als dreischiffige romanische Basilika mit Krypta und doppeltürmigem Westbau zu errichten. Da die Stiftskirche (bis auf den erhalten gebliebenen Westbau) um die Mitte des 15. Jahrhunderts einem Brand zum Opfer fiel und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als einschiffige spätgotische Kirche11) neu erbaut wurde, dürfte die Anfertigung der Inschrift im Jahre 1497 in diesem Zusammenhang zu sehen sein. Das ursprüngliche Grabdenkmal der Stifter – dessen Aussehen nicht überliefert ist – war vermutlich mit dem Brand untergegangen; man konnte offenbar nur noch Reste ihrer Gebeine bergen, die in einer verschließbaren Öffnung in der Wand der neuen Kirche beigesetzt wurden. Neben dieses mausoleum setzte man die neu angefertigte Tafel mit der sorgfältig ausgeführten Inschrift, die in eindrucksvoller Weise bezeugt, wie noch nach weit über 400 Jahren das Totengedenken des Stifterehepaars lebendig geblieben war.

Inhaltlich bezieht sich die Inschrift eindeutig auf die beiden Urkunden von 1072 und 1074. Der Verfasser muss mit beiden Schriftstücken vertraut gewesen sein, da er das Tagesdatum der Urkunde von 1072 „III No(nas) Mai“ auf die inschriftlich erwähnte Urkunde aus dem Jahr 1074 übertragen hat, die ihrerseits jedoch lediglich mit dem Jahresdatum versehen ist. Dabei bleibt offen, ob die Inschrift von 1497 eine frühere Inschrift kopiert oder ob sie in diesem Jahr vollständig neu formuliert wurde. Das oben erwähnte romanische, in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts zu datierende Löwenrelief12) befand sich wohl anstelle eines Kapitells außen am Westbau der Kirche und kann daher nicht „vom Sarkophag de(r) Stifte(r)“13) herrühren.

Textkritischer Apparat

  1. Befund Xpi mit Kürzungsstrich.
  2. Befund xpoferi mit Kürzungsstrich.
  3. contult Nachzeichnung, stillschweigend ergänzt zu contulit u. a. bei Kremer /Lamey und Brouwer/Masen.
  4. Sic!
  5. 1095 Wickenburg; 1457 Würdtwein.
  6. Septimo Wickenburg; 2 Würdtwein; 7 Acta Academiae.
  7. Ergänzt nach der Abb. bei Meyer.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu und zum Folgenden Kremer/Lamey fol. 180 (Abb. bei Kern S. 14).
  2. Diesen Zustand zeigt die Abb. bei Meyer.
  3. Die heute nicht mehr sichtbare Nische mit den Gebeinen war bereits auf der Abb. bei Meyer vermauert, verputzt und nicht mehr sichtbar.
  4. Das Vollrelief aus grauem Sandstein zeigt zwei steigende, sich einander zuwendende Löwen, die mit ihren Hinterpranken auf einer Bündelsäule aus zwei runden Schäften stehen, wobei der rechte als Würfelfries ausgearbeitet ist. Der Fries verleitete den Autor der bei Kremer/Lamey überlieferten Nachzeichnung offensichtlich zur Darstellung von zwei Wappenschilden mit Schachbrettmuster, die von den beiden Löwen in den Hinterpranken gehalten und in der Legende als „zweÿ Sponheimische Wappen-Schilde“ erklärt wurden. Das zwischen beiden Tieren stehende Löwenjunge (nach Falk ein Lämmchen) fand dagegen in der Nachzeichnung keine Berücksichtigung.
  5. Auffällig ist die pointierte Ausführung der Buchstaben, die der Minuskel einen geradezu expressiven Ausdruck verleihen. Bei folgenden Wörtern lassen sich deutliche Abweichungen in der Behandlung einzelner Buchstaben feststellen: Christi, amorem, honorem, bertoldus, comes, fideliter, famulantibus, salutis, celestia.
  6. Die von Wickenburg wohl mit Absicht falsch wiedergegebene Jahreszahl 1095 dokumentiert vermutlich den Versuch, die nicht zur Inschrift passende Jahreszahl 1497 zum Todesdatum der Stifter umzufunktionieren.
  7. Vgl. zum Folgenden ausführlich Wagner, Ravengiersburg 25ff.
  8. Die frühere Eigenkapelle war bereits 1072 mit Zustimmung des Mainzer Erzbischofs Siegfried I. aus dem Verband der Mutterkirche, bei der es sich um die sogenannte Nunkirche bei Sargenroth gehandelt haben dürfte, kirchenrechtlich gelöst und zur selbständigen Kirche mit eigenem Vermögen und eigenem Sprengel erhoben worden; vgl. dazu Seibrich, Pfarrorganisation 294ff. sowie die erhaltene Originalurkunde im LHAK Best. 159/2 bzw. den Druck im MzUb I Nr. 333 und die Wiedergabe bei Wagner, Ravengiersburg Taf. 5.
  9. MzUb I Nr. 341 (Original verloren, überliefert als Kopie des 13. Jh.).
  10. Vgl. dazu Wagner, Ravengiersburg 32ff. und die genealogische Tafel S. 40.
  11. Vgl. dazu die entsprechenden Bauzahlen Nr. 33.
  12. Vgl. zum Folgenden Kdm. 780 mit Abb. 696.
  13. So bereits die Vermutung von Falk. – Ebenso irren Meyer („einziger Rest des ursprünglichen Grabmals“) und Häuser/Renard, Ravengiersburg 81 („Reste des Stiftergrabes“).

Nachweise

  1. Wickenburg, Thesaurus Palatinus I fol. 317.
  2. Kremer/Lamey, Varia fol. 180 (mit Nachzeichnung).
  3. Würdtweinsches Epitaphienbuch 310.
  4. Acta Academiae 3, 35.
  5. Büttinghausen, Beyträge 255.
  6. BAT Abt. 95 Nr. 323 fol. 309v (Hommer, Pfarrgeschichte).
  7. Brouwer/Masen, Metropolis II, 246.
  8. (Falk), Wanderungen 184.
  9. Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler 671.
  10. Meyer, Ravengiersburg 10 mit Abb. S. 9.
  11. Busley, Kunstdenkmäler Simmern 233.
  12. Kdm. Rhein-Hunsrück 1, 775f. mit Abb. 715.
  13. Wagner, Ravengiersburg 44.
  14. Kern, Ravengiersburg 12 mit Abb. S. 13.

Zitierhinweis:
DI 79, Rhein-Hunsrück-Kreis II, Nr. 54(†) (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di079mz12k0005409.