Inschriftenkatalog: Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises II

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 79: Rhein-Hunsrück-Kreis II (2010)

Nr. 3 Rom, Biblioteca Apost. Vaticana (aus Kl. Ravengiersburg) 3. Viertel 12. Jh.

Beschreibung

Prachteinband einer liturgischen Handschrift1). Der Codex gelangte nach 1566 in kurpfälzischen Besitz, wurde im August 1623 als Teil der Bibliotheca Palatina aus Heidelberg nach Rom entführt und wird gegenwärtig in der Vatikanischen Bibliothek verwahrt (Cod. Pal. Lat. 502). Der Einband der in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Handschrift besteht aus braunem Rindsleder und ist mit sieben unterschiedlichen Blindstempeln verziert, darunter finden sich auf dem vorderen Einbanddeckel zwei Prägungen mit ihesus in gotischer Minuskel. Zum weiteren Schmuck des Deckels wurden verschiedene Elemente sakraler Schatzkunst aus älterer Zeit verwendet: Zentral in der Mitte ein anepigraphes Relief aus Walrosszahn mit der Darstellung des thronenden Christus in der Mandorla, umgeben von vier Emailplättchen, die halbfigürliche anthropomorphe Evangelistensymbole mit vorgehaltenen Namensbändern (A-D) zeigen. Direkt oberhalb und unterhalb des Reliefs befinden sich zwei kleinere runde Emails mit der Darstellung hockender Männer mit großen Krügen, aus denen Wasser fließt; sie stellen die namentlich bezeichneten Personifikationen zweier Paradiesflüsse dar (E, F). Die Ecken des Deckels sind mit vier größeren quadratischen Emailplättchen mit Ornamenten und Blütenblättern geschmückt, dazwischen sitzen zwei kleinere rechteckige Emailplättchen mit Blüten. Die Plättchen sind im Grubenschmelzverfahren hergestellt und bestehen aus vergoldetem Kupfer und Email. Das Relief sowie alle Plättchen wurden in das Leder eingelassen und zusätzlich angenagelt. Der Einband wurde Mitte des 19. Jahrhunderts restauriert.

Nach Foto.

Maße: H. 27,5, B. 19 (Einband); 10,5 x 5,5 (Relief); 3,8 x 4,3 (Evangelistensymbole); 3,3 x 3,3 (Paradiesflüsse) cm2).

Schriftart(en): Romanische Majuskel3).

Bibliotheca Palatina, Bildband S. 316 (Repro Thomas G. Tempel). [1/30]

  1. A4)

    MATHEV(S)

  2. B

    MARCVS

  3. C

    LVCAS

  4. D

    IOHANNES

  5. E

    ◦ GEON ◦

  6. F

    ◦ FIS//ON ◦

Kommentar

Die etwas größeren Buchstaben der Evangelistensymbole sind bis auf das unziale H durchgehend kapital ausgeführt. Auffällig sind breites trapezförmiges A mit links überstehendem Deckbalken und M mit halbhoch gezogenem Mittelteil. Die etwas kleineren Buchstaben der Paradiesflüsse sind ebenfalls kapital ausgeführt und zeigen als Varianten eingerolltes G. Als die Namen umgrenzende Zeichen dienen hier kleine Kreise.

Aufgrund der kunsthistorischen Forschungen von Rainer Kahsnitz dürfen sowohl die Provenienz des Codex aus dem ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift Ravengiersburg im Hunsrück als auch Herkunft und Datierung der unterschiedlichen Goldschmiedearbeiten weitgehend als geklärt gelten. Offensichtlich sind zum Schmuck des spätgotischen Einbandes in Ravengiersburg vorhandene Fragmente von Prachtbuchdeckeln des 12. Jahrhunderts verwendet worden. Ein Beispiel dafür ist das Relief des thronenden Christus, bei dem es sich um ein Werk aus der Nachfolge der in Köln angesiedelten, sogenannten gestichelten Gruppe aus dem 2. Viertel des 12. Jahrhunderts handelt. Da die Kombination des thronenden Christus mit vier ihn begleitenden Evangelisten(symbolen) als Motiv der Majestas Domini auf zeitgenössischen Evangeliaren5) überaus häufig nachzuweisen ist, dürften die vier Emailplättchen mit den anthropomorphen Evangelistensymbolen von demselben Prachteinband stammen. Im Gegensatz zum Relief haben sie jedoch ihre Vorbilder in der maasländischen Buchmalerei6) und dürften – ebenso wie die zugehörigen kleineren rechteckigen Emailplättchen mit dem Blütenmotiv – in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts zu datieren sein. Dagegen haben die beiden runden Plättchen mit den Paradiesflüssen Geon und Phison7) sowie die quadratischen Eckfelder offensichtlich eine andere Herkunft8). Sie gehören zu einem zweiten Kreis typisch maasländischer Emails, die zwischen 1150 und 1170/80 entstanden sind. Der epigraphische Befund steht beiden kunsthistorisch gewonnenen Datierungen nicht entgegen.

Für den Schmuck des Vorderdeckels der Handschrift, die vermutlich im Zusammenhang mit dem Anschluss des Augustiner-Chorherrenstifts an die Windesheimer Kongregation nach 1469 entstandenen ist, dürften also unterschiedliche Teile im Stift vorhandener älterer Schatzkunst verwendet worden sein. Überraschend ist dabei die Kombination des neu zusammengestellten, in der Spätgotik aber kaum noch verwendeten Motivs der Majestas Domini mit der gleichfalls längst überholten Darstellung zweier (von vier) Paradiesflüsse9); vermutlich waren hierfür hauptsächlich ästhetische und nicht mehr inhaltliche Gründe ausschlaggebend. Andererseits ist es im Hinblick auf die zeitliche Nähe der mit Inschriften versehenen sechs Emails nicht auszuschließen, dass bei der Neubindung des 15. Jahrhunderts die Elemente des ursprünglichen Buchdeckels verwendet worden sind.

Anmerkungen

  1. Vgl. zum Folgenden ausführlich Kahsnitz.
  2. Maße nach Kahsnitz 510.
  3. Vgl. zur Herstellungstechnik „email-positiv“ Bayer, Versuch 97f.
  4. Die Edition der Namen erfolgt gegen den Uhrzeigersinn und dokumentiert damit die übliche Anordnung der Evangelistensymbole um eine zentrale Darstellung Christi; freundlicher Hinweis meines Kollegen Clemens M. M. Bayer M. A., Bonn, Schreiben vom 4. März 2009.
  5. Ebenso in der zeitgenössischen Kunst, vgl. die vorhergehende Nr.
  6. Kahsnitz 512 weist darauf hin, dass die Darstellung der Evangelisten in Menschengestalt mit Tierköpfen in der maasländischen Kunst äußerst selten ist und bislang nur auf einem Phylakterion in Namur (Belgien) nachgewiesen werden konnte.
  7. In Gen 2, 10–14 wird von dem im Garten Eden entspringenden Strom berichtet, der sich in die vier Flüsse Phison, Geon, Tigris und Euphrat teilt, die zusammen das (irdische) Paradies bewässern.
  8. Auf Prachteinbänden von Evangeliaren findet man neben den vier Evangelistensymbolen häufiger noch ein oder sogar zwei weitere Quaternare, nämlich die Kardinaltugenden und die Paradiesflüsse; vgl. dazu Kat. Rhein und Maas Nr. G 19 und Kat. Ornamenta Ecclesiae 2 Nr. E 65.
  9. Vgl. dazu Poeschke, Paradiesflüsse 384.

Nachweise

  1. Kahsnitz, Prachteinband pass. mit Abb. (mit älterer Literatur).
  2. Knebel, Prachteinband mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 79, Rhein-Hunsrück-Kreis II, Nr. 3 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di079mz12k0000300.