Inschriftenkatalog: Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises II

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 79: Rhein-Hunsrück-Kreis II (2010)

Nr. 2 Ravengiersburg, Kath. Pfarrkirche St. Christophorus 1. Hälfte 12. Jh.

Beschreibung

Relief mit der Darstellung der Majestas Domini, eingefügt in den mittleren Abschnitt des ersten Obergeschosses der romanischen Westfassade zwischen (Pseudo-)Zwerggalerie und Mittelfenster. Unter mit Blattwerk verziertem Giebel von Säulen gestützter Rundbogen, darunter monumentales Bildnis des auf einem Regenbogen sitzenden Christus in der Mandorla, die Rechte segnend erhoben, auf dem Knie mit der Linken ein aufgeschlagenes Buch haltend, darin das auf beide Seiten verteilte Bibelzitat (A). Auf dem breiten Rand der Mandorla, die von den vier figürlich ausgeführten Evangelistensymbolen umgeben ist, verläuft die von innen zu lesende Umschrift (B). Das Relief ist leicht verwittert, aber noch im Original vorhanden. Der Giebel und die Evangelistensymbole sind dagegen während den zwischen 1977 und 1997 durchgeführten Restaurierungsarbeiten vollständig erneuert worden1).

Schriftart(en): Romanische Majuskel, griechische Schrift.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/6]

  1. A

    E/GO / SVM // ◦ A ◦ / ET ◦ / ◦ ω2)

  2. B

    + QVOS ◦ GRAVAT ◦ IN ◦ TERRIS ◦ PECCATIa) ◦ MORBIDAb) ◦ PESTIS+ / AD ◦ ME ◦ SI ◦ FVGITIS ◦ MEDICAMEN ◦ HABERE ◦ POTESTIS

Übersetzung:

(A) Ich bin das A und das O. – (B) Ihr, die euch auf Erden das krank machende Verderben der Sünde beschwert, könnt das Heilmittel erlangen, wenn ihr zu mir flieht.

Versmaß: Zwei Hexameter, caudati (B).

Kommentar

Die verhältnismäßig schwach eingehauene, vollkommen linear ausgeführte Inschrift zeigt neben leicht trapezförmigem A mit geradem Mittelbalken auch einmal spitzes A3), zudem rundes, mehr oder weniger eingerolltes G, kapitales und unziales E, durchgehend kapitales M mit mehrfach zur Grundlinie reichendem Mittelteil, fast kreisrundes O sowie offenes R mit leicht gewölbter, kaum geschwungener Cauda. Als Worttrenner dienen Punkte. Der auch durch die auffallende Variantenarmut hervorgerufene schlichte äußere Charakter der Inschrift wird durch die ausschließlich kapital verwendeten Formen bei F, H, N und T weiter verstärkt. Da bei den schlank gearbeiteten Buchstaben weder eine Tendenz zur Bogenschwellung noch zur Verbreiterung oder Einrollung der Buchstabenenden erkennbar ist und zudem konservative Formen wie spitzes A, fast kreisrundes O und R mit nur schwach gewölbter Cauda zu beobachten sind, bietet sich eine Datierung der Inschrift in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts an4); aufgrund der ausgesprochen schlanken Buchstaben und der fehlenden Unzialen mit Tendenz in das erste Drittel. Über die zeitliche Einordnung des Mittelbaus der ehemaligen romanischen Basilika, der sich zwischen den beiden Westtürmen befindet, herrscht in der kunsthistorischen Forschung keine Einigkeit5). Zu seiner genaueren Einordnung könnten nicht nur „Beobachtungen am Bau und Formenvergleiche“6) weiterhelfen, sondern eben auch die epigraphisch begründete Datierung des dort eingebauten Christus-Reliefs.

Das bereits ab 500 n. Chr. in der Ostkirche nachweisbare Motiv des thronenden, von den vier Lebewesen der Apokalypse umgebenen Christus in der Mandorla7) wird ab der Mitte des 9. Jahrhunderts – vermittelt über das Scriptorium von Tours – im Westen aufgenommen und diente zahlreichen Werken der artes minores als Schmuck, so auch als Frontispiz fast jeden Evangeliars aus diesem Zeitraum8). Nach 1100 wird die Majestas Domini zudem zum „Standardmotiv“ bei der Ausmalung romanischer Apsiskalotten und wird gleichzeitig als zentraler figürlicher Schmuck in den Bogenfeldern der Hauptportale romanischer Kirchen verwendet, bis sie gegen Ende des 12. Jahrhunderts durch andere Motive ersetzt wird. Auch wenn man das Ravengiersburger Christus-Relief heute nicht mehr als „roh byzantinisch“9) bezeichnen würde und auch wenn es sich zeitlich und motivisch unauffällig in diese Entwicklung einreihen lässt, so gewinnt es doch seine Bedeutung durch die ungewöhnliche Platzierung als singuläre, monumentale romanische Plastik weit oberhalb des Kirchenportals10). Auffallend ist auch die ebenfalls an ungewöhnlicher Stelle11) gesetzte Spruchinschrift, die sich in gereimten Versen direkt an die Gläubigen richtet und ihnen den Weg zur Vergebung ihrer Sünden eröffnet.

Textkritischer Apparat

  1. I klein eingestellt.
  2. MORBVS ET Falk; Kraus; Meyer; Wagner, Ravengiersburg; Kdm.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Wagner, Ravengiersburg/Nunkirche 6. – Den ursprünglichen Zustand dokumentiert die (spiegelverkehrte) Abb. im Ravengiersburger Bilderbogen.
  2. Offb 1,8 oder 22,13.
  3. In MORBIDA; das spitze A in HABERE ist wohl auf den Nexus litterarum zurückzuführen.
  4. Vgl. zu den Datierungskriterien Nikitsch, Epigraphik 174f. sowie die Hinweise bei Bauer, Epigraphik 30f. und Fuchs, Weiheinschriften 36.
  5. Da urkundliche wie chronikalische Nachrichten über den Bau der Kirche bis zum 18. Jh. fehlen und sich die wenigen erhaltenen Jahreszahlen (Nr. 33) auf den Neubau des spätgotischen Kirchenschiffs beziehen, gehen die kunsthistorischen Datierungsansätze des wohl gleichzeitig mit den beiden unteren Geschossen der Türme entstandenen Mittelbaus weit auseinander: 1. Viertel 12. Jh. (Dehio Rheinland-Pfalz 841); 2. Viertel 12. Jh. (Wagner, Ravengiersburg/Nunkirche 5); nach der Mitte des 12. Jh./um 1160 (Meyer 13); 2. Hälfte 12. Jh. (Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler 668); Anfang 13. Jh. (Irsch, St. Matthias 191; Arens 7); 2. Hälfte 12. Jh. bis drittes Jahrzehnt 13. Jh. (Häuser/Renard, Ravengiersburg 80).
  6. So Kdm. 736.
  7. Vgl. dazu van der Meer, Majestas Domini pass.
  8. Erstaunlicherweise hat sich ein im Augustiner-Chorherrenstift Ravengiersburg benutztes Exemplar in der Bibliotheca Palatina in Rom erhalten, vgl. dazu Kahsnitz, Prachteinband pass. sowie die folgende Nr.
  9. So Kugler, Kleine Schriften 218.
  10. Eben nicht im Tympanon, wie etwa in Worms aus der Zeit um 1165 mit der Inschrift EGO SVM VIA VERITAS ET VITA, vgl. DI 29 (Stadt Worms) Nr. 23 mit Abb. 9 oder in Trier aus der 2. Hälfte des 12. Jh. mit der nahezu gleichlautenden Inschrift EGO SVM A ω; vgl. DI 70 (Stadt Trier I) Nr. 145.
  11. Mit Inschriften versehene Mandorlen sind verhältnismäßig selten, vgl. dazu die wenigen, bei Favreau, Épigraphie médiévale 54 aufgeführten mitteleuropäischen Beispiele.

Nachweise

  1. Würdtweinsches Epitaphienbuch 309.
  2. (Falk), Wanderung 183.
  3. Kraus, Christliche Inschriften II Nr. 283.
  4. Meyer, Ravengiersburg 30.
  5. Busley, Kunstdenkmäler Simmern 217.
  6. Brucker, Bauplastik 8 mit Abb. S. 9.
  7. Ravengiersburger Bilderbogen, Abb. S. 128.
  8. Schellack/Wagner, Kirchen und Kapellen 32.
  9. Wagner, Ravengiersburg 42 mit Abb. 12.
  10. Kdm. Rhein-Hunsrück 1, 742.
  11. Arens, Ravengiersburg 6 mit Abb. S. 7.
  12. Eberts/Schönherr, Hunsrückdom 6 mit Abb. S. 5.
  13. Wagner, Ravengiersburg/Nunkirche 7 mit Abb.
  14. Kern, Ravengiersburg 10 mit Abb. S. 11.

Zitierhinweis:
DI 79, Rhein-Hunsrück-Kreis II, Nr. 2 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di079mz12k0000201.