Inschriftenkatalog: Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises II

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

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DI 79: Rhein-Hunsrück-Kreis II (2010)

Nr. 1 Kirchberg, Katholische Pfarrkirche St. Michael 6. Jh./1. H. 7. Jh.?

Beschreibung

Grabsteinfragment einer unbekannten Person. Im Verlauf der zwischen November 1967 und März 1968 durchgeführten Ausgrabungen in sekundärer Verwendung als Mauerstein aufgefunden, „benutzt in der Südmauer des rechteckigen Chors von Kirchenbau II“1); heute eben dort als oberster Stein (von Westen her) mit nach oben zeigender Inschriftenseite eingelassen2). Kleine, ehemals wohl quadratische Platte aus Kalkstein, oben schwach eingeritzte Inschrift in vermutlich drei Zeilen, unten vielleicht ein gleicharmiges Kreuz. Das oben rudimentär linierte Feld wird von zwei nicht immer ganz parallel laufenden Linien gerahmt. Der linke und der untere Rand der Platte fehlen völlig, die geglättete Oberfläche weist zahlreiche Hieb- und Kratzspuren auf.

Maße: H. 18 (frgm.), B. 20 (frgm.), Bu. 1,5 cm.

Schriftart(en): Vorkarolingische Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/3]

  1. HIC IN P[A]CE R/[EQVIESCITa) - - -] QVEb) / [- - -]c)

Übersetzung:

Hier ruht in Frieden (...), die/der (…).

Kommentar

Die flach und dünn in scriptura continua eingehauene, fast wie eingeritzt wirkende Schrift lässt aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes und der irritierenden Beschädigungen nur wenige sichere epigraphische Aussagen zu. Auffällig ist jedenfalls die wechselnde Spationierung, die nicht parallel gestellten Schäfte sowie insgesamt der meist breit angelegte Duktus der Buchstaben. Dieser spiegelt sich vor allem in dem weit ausgezogenen unteren Bogenabschnitt des runden C, den langen Balken des E und im überbreiten N wider. Da aber weder eckige Buchstabenformen (häufig bei C) noch verlängerte Hasten (häufig bei E) zu beobachten sind, bei denen es sich um wesentliche Charakteristika der hauptsächlich im 7. und 8. Jahrhundert nachweisbaren fränkischen Schrift3) handelt, dürfte die Inschrift früher entstanden sein. Einen Hinweis darauf könnte das hier verwendete Eingangsformular4) geben, das – auch wenn es nicht in der sonst üblichen Wortfolge HIC REQVIESCIT IN PACE abgefasst ist – mit der Verwendung des Wortes REQVIESCIT statt des früheren QVIESCIT auf eine Entstehung im 6., vielleicht auch in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts schließen lässt5).

Die durch zahlreiche römische Funde des 1. bis 3. nachchristlichen Jahrhunderts bezeugte, von Ausonius nach der Mitte des 4. Jahrhunderts als „Dumnissus“ erwähnte und auf der Tabula Peutingeriana als „Dumno“ bezeichnete Siedlung befand sich offensichtlich an der Stelle des heutigen Kirchberg6). Als „vicus“ erstreckte sie sich auf einer weithin sichtbaren Anhöhe entlang der damals wie heute mitten durch den Ort führenden Straße von Mainz über Bingen nach Trier7). Durch die Ausgrabungen in der etwa 30 Meter nördlich dieser Römerstraße gelegenen spätgotischen Michaelskirche konnten neben römischen Fundamenten drei bis dahin unbekannte steinerne Vorgängerbauten nachgewiesen werden. Da der Inschriftenstein nicht an ursprünglicher Stelle, vielmehr als in den Kirchenbau II verbaute Spolie aufgefunden wurde, der von den Ausgräbern mit aller Vorsicht in das 9. bis 10. Jahrhundert datiert wurde8), muss der Stein früher hergestellt worden sein und könnte theoretisch mit der in das 8. Jahrhundert datierten Vorgängerkirche in Verbindung stehen. Ob der Grabstein aber auf eine Bestattung inner- oder außerhalb der Kirche hinweist, bleibt offen, auch wenn dort im Inneren zwei beigabenlose Skelettgräber nachgewiesen werden konnten, welche die Ausgräber dem ersten Kirchenbau zuordnen. Da aber – wenn auch unter großem Vorbehalt – sowohl der epigraphische Befund als auch das verwendete Eingangsformular auf eine Entstehung des Grabsteins im 6. bzw. im beginnenden 7. Jahrhundert hinweisen, könnte er ebenso gut aus dem fränkischen Gräberfeld stammen, das bereits 1894 im Osten vor der mittelalterlichen Stadtbefestigung aufgedeckt wurde9). Die auf fränkischen Grabsteinen oft anzutreffende Zierform der Einfassung durch Doppellinien10) unterstützt diesen Datierungsansatz.

Trotz seiner nachlässigen Ausführung und seines fragmentarischen Zustandes kommt dem Kirchberger Grabstein eine überragende kultur- und religionshistorische Bedeutung zu, da mit ihm das früheste reale Zeugnis für christliches Leben in nachrömischer Zeit in dem großen Waldgebiet zwischen Mosel, Rhein und Nahe vorliegt. Zudem kann aufgrund der frühen Datierung des Grabsteins davon ausgegangen werden, dass sich die frühchristliche Gemeinde des späteren Kirchberg bereits in einem Vorgängerbau des archäologisch nachgewiesenen Kirchenbaus I versammelt hat. Bei diesem handelte es sich vielleicht um eine frühe Holzkirche oder gar um ein als kirchlicher Versammlungsort genutztes Privathaus11).

Textkritischer Apparat

  1. Möglich wären auch die Schreibweisen REQVIISCIT bzw. REQVISCIT.
  2. Das Geschlecht der verstorbenen Person ist aus dem Relativpronomen allein nicht sicher bestimmbar, weil qui und quae wechselnd für andere Genera benutzt wurden, freilich seltener quae bzw. die vulgäre Form que für männliche Verstorbene, vgl. dazu Gauthier, Recueil 38.
  3. Wenn auch die Inschrift in der zweiten Hälfte in etwa dem für frühchristliche Inschriften typischen Formular „Hic requiescit in pace NN. qui vixit annos NN. obiit NN.“ (vgl. dazu Boppert, Frühchristliche Inschriften pass.) entspricht, können die noch erkennbaren Buchstabenbestandteile in der zweiten und vielleicht auch noch dritten Zeile dennoch nicht sicher zugeordnet werden.

Anmerkungen

  1. Eiden/Müller-Dietrich, Ausgrabungen 17 mit Hinweis auf die „schwach zu erkennen(den)“ Buchstaben des Grabdenkmals.
  2. Die im Bereich des heutigen Chors befindlichen Ausgrabungsbefunde der drei Vorgängerkirchen wurden konserviert und über eine Außentreppe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
  3. Eine Variante der vorhergehenden römisch-christlichen Schrift, vgl. dazu Bauer, Mainzer Epigraphik pass. und die entsprechenden, anhand der frühchristlichen Inschriften Boppards getroffenen Beobachtungen in DI 60 (Rhein-Hunsrück-Kreis 1) LVf.
  4. Im reichen Trierer frühchristlichen Material lässt sich bislang nur ein Grabstein mit der Eingangsformel in der auf dem Kirchberger Stein gebrauchten Reihenfolge nachweisen; vgl. Gauthier, Recueil Nr. 145.
  5. Wie entsprechende Untersuchungen ergeben haben, kommt dieses Formular grundsätzlich „in den gallisch-germanischen Provinzen im 6./7. Jahrhundert vor“, allerdings mit regionalen Schwerpunkten am Mittelrhein mit Andernach und Boppard; vgl. dazu Boppert, Andernach 130 (Zitat) und DI 60 (Rhein-Hunsrück-Kreis 1) XXXVII. – In die gleiche Richtung deutet auch das Wiesbadener (vgl. DI 51, Stadt Wiesbaden, Nr. 2) und sogar das Trierer Material mit 101 Nachweisen für quiescit und lediglich 21 meist späteren Belegen für requiescit; vgl. dazu Gauthier, Recueil 38.
  6. Vgl. dazu und zum Folgenden Kdm. Rhein-Hunsrück 1, 511ff. und die Zusammenfassung bei Cüppers (Hg.), Römer in Rheinland-Pfalz 415f.
  7. Als bislang bedeutendste Funde gelten zwei 1938 entdeckte, mit sorgfältig ausgeführten Inschriften versehene Grabdenkmäler (Aschenkisten) vermutlich des 2. nachchristlichen Jh., die vom östlich der Siedlung liegenden römischen Friedhof stammen; vgl. dazu Eiden/Müller-Dietrich, Ausgrabungen 14f. mit Abb. 3f. und Wagner, Denzen 36ff.
  8. Eiden/Müller-Dietrich, Ausgrabungen 34; vgl. auch den Befundplan ebd. S.18, Abb. 5.
  9. Vgl. den Hinweis bei Eiden/Müller-Dietrich, Ausgrabungen 17 und den Plan bei Wagner, Ravengiersburg 28.
  10. Vgl. dazu die Beispiele bei Engemann/Rüger, Spätantike und frühes Mittelalter 152ff.
  11. Vgl. zu ähnlichen Überlegungen im Fall der frühchristlichen Gemeinde Boppards Nikitsch, Frühchristliche Inschriften 222.

Nachweise

  1. Nikitsch, Geschichte 45 mit Abb. S. 44.
  2. Nikitsch, Zeugnis 410 mit Abb. S. 409.
  3. Kern, Kirchberg 8 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 79, Rhein-Hunsrück-Kreis II, Nr. 1 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di079mz12k0000102.