Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 57: Stadt Pforzheim (2003)

Nr. 205 Ev. Schloßkirche (Stiftskirche St. Michael) vor 1592

Beschreibung

Grabdenkmal des Martin Achtsynit von Niefernburg und seiner beiden Frauen, Elisabeth geborene von Jestetten und Barbara geborene Goeslin. Im nördlichen Nebenchor an der Ostwand. Großer Aufbau aus hellgrauem Sandstein, vom üblichen Aedikula-Aufriß abweichend durch einen hohen Aufsatz in der Giebelzone, der die Inschrifttafel enthält und der von einem Giebel mit Christus als Schmerzensmann in Relief bekrönt ist. Die Inschrifttafel ist aus Schiefer oder Schiefer-Imitation mit Goldschrift. Die eigentliche Giebelzone trägt drei Rollwerk-Kartuschen mit drei Vollwappen, begleitet von Delphinen, Löwen-Masken mit Fruchtbündeln und zwei betenden Engeln (letztere wohl Ergänzungen des 19. Jh.). Das Hauptfeld ist als eine dreiteilige Arkatur über einer verkröpften Sockelzone und unter einem durchgehenden Kranzgesims gebildet. Die Figuren der Verstorbenen – in hohem Relief gearbeitet – stehen in rundbogigen Nischen, als ob sie hinter einer Brüstung in Hüfthöhe erscheinen, der Ehemann in der Mitte. In den Bogenzwickeln geflügelte Engelsköpfe. Da die Brüstungsfelder leer sind, waren hier vermutlich Inschrifttafeln mit den Grabinschriften der drei Personen vorgesehen, die aber nicht ausgeführt sind. Das Denkmal erhebt sich über einem ungegliederten Unterbau, der mit Roll- und Beschlagwerk dekoriert ist und ein querovales Medaillon mit einem Todesputto mit Sanduhr (Ergänzung des 19. Jh.) enthält. Reparaturen des 19. Jahrhunderts, so am Unterbau und an den Wappen in der Giebelzone.

Maße: H. ca. 500, B. 242, Bu. ca. 5–6 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/2]

  1. D(EO) . O(PTIMO) . M(AXIMO) . S(ACRVM)a) .SI QVIS FVERIM QVERIS , LEGENDO CERTIOR ERIS .ECCE FVI PRIMUS . A NIEFERNBVRGO MARTINVS .AMELIVS VEL ACHTSŸNIT DICTVS / PERPESSVS VVLNERA . ET ICTVS .EHEV , PECCATORVM , MORBORVM , ATQ(VE) LABORVM .AVLICVS PLVS QVADRAGENOS . DVLCES DVROSQ(VE) PER ANNOSPRINCIPVM SENIORVM . MARCHIONVM , ET IVNIORVMANNISQ(VE) DISTINCTIS TRIGINTA CANCELLARIVS ILLIS .TVNC AVLAE VALEDIXI . PLACIDAQ(VE) TEMPERIE VIXI .INGRESSVS NIEFERNBVRGVM . NIDVM SENECTVTIS AMOENVMQVOD ILLVSTRISa) CAROLIa) SVBSIDIO ANTIDORALI .AD ENTIVM FLVVIVM ILLVM DEO DANTE AD VSVMOPIBVS COLLECTIS LAPSIS CONSTRVXERAM ANNISIBI AGRICVLTVRA NEC NON ET ARCHITECTVRA .ET DVCE NATVRA ANTIQVARVM RERVM LECTVRAMVLTVM DELECTATVS DESIDIAQ(VE) VALDE LEVATVSINTER DVM AMICOS MIHI IN VICINIA CHAROSPRO TEMPORE VISITANS . ITERVMQ(VE) AD NIDVLVM ROTANSSIC VXORE CVM CHARA . FORMA ET VIRTVTIBVS CLARATEMPORA CONTRIVI SENEXQ(VE) SEQVENTES PRAEIVIIAM HAC IN FOSSA TEGVNTVR MEA FRIGIDA OSSAEXPECTANT PLACIDVM CHRISTIa) REDEMPTORIS ADVENTVM .
    NATVS FRIBVRGI BRISGOAE PENVLTIMA OCTOB(RIS) AN(N)O MDXXVI PARE(N)/TIBVS DO(MI)NO GEORGIO AMELIO MORAVO . I(VRIS) . VTRIVSQVE) . D(OCTORE) . IBIDEMQ(VE) PROFESSORE / ORDINARIO ET MAGDALENA NITLIN A TREPPBACH MORITVR ANNO / 〈. . . .〉 DIE 〈. .〉 MENSIS 〈. . . . . .〉 AETATIS SVE 〈. . .〉

Übersetzung:

Dem besten und höchsten Gott geweiht! Wenn du fragst, wer ich gewesen bin, wirst du es im Lesen erfahren. Sieh her, ich war der erste derer von Niefernburg, Martin Amelius oder Achtsynit genannt. Ich habe Wunden und Schläge, ach!, von Sünden, Krankheiten und Mühen erlitten und durch mehr als vierzig schöne und schwere Jahre hindurch war ich Diener am Hof der älteren und jüngeren Fürsten und Markgrafen, und in einem Abschnitt von dreißig Jahren war ich ihr Kanzler. Dann habe ich dem Hof Lebewohl gesagt und lebte in friedvoller Ausgeglichenheit, nachdem ich in der Niefernburg Einzug gehalten, in jenem behaglichen Alterssitz, den ich durch die als Belohnung gewährte Unterstützung des durchlauchten Karl an jenem Flußufer der Enz – mit Gottes Hilfe – zu meinem Gebrauch und durch erspartes Vermögen in den vergangenen Jahren errichtet hatte. Dort habe ich mich nicht nur mit Hingabe an der Landwirtschaft, sondern auch an der Architektur und – der eigenen Veranlagung folgend – am Studium der Vorzeit sehr ergötzt und bin dem Müßiggang spürbar enthoben worden. Bisweilen habe ich die mir teuren Freunde in der Nachbarschaft für eine Weile besucht, um dann wieder in mein kleines Nest zurückzukehren. So habe ich zusammen mit meiner lieben, durch ihre Schönheit ebenso wie durch ihre Tugenden berühmten Gattin meine Jahre verbracht und bin nun als Greis den Nachfolgenden vorangegangen. Nunmehr liegen meine erkalteten Gebeine in dieser Gruft verschlossen. Sie erwarten die friedenbringende Wiederkunft Christi, des Erlösers. – Er wurde geboren in Freiburg im Breisgau am vorletzten Tag des Oktober 1526. Seine Eltern waren Herr Georg Amelius aus Mähren, Doktor beider Rechte und dort ordentlicher Professor, und Magdalena Nüttel von Treppach. Er starb im Jahr 〈. . . .〉 am 〈. .〉 Tag des Monats 〈…〉 im Alter von 〈…〉.

Versmaß: Rhythmische Hexameter mit Binnenreim; Position des Binnenreims wechselt.

Wappen:
Jestetten1, Achtsynit2, Goeslin3.

Kommentar

Martin Achtsynit4 ist am 30. Oktober 1526 in Freiburg i. Br. als ältester Sohn des aus Mähren stammenden Dr. Georg Achtsynit genannt Amelius († 1541 an der Pest) und der Magdalena Nüttel von Treppach5 geboren. Nach dem Studium 1542 an der Universität Freiburg und einer Ausbildung in der Pforzheimer Kanzlei beendete er das Studium in Wien 1553 mit dem Doktor beider Rechte; zugleich wurde ihm dort der Briefadel verliehen. Nach seiner Rückkehr nach Pforzheim wurde er 1554 Amtsnachfolger des markgräflich badischen Kanzlers Oswald Gut6. Für seine Verdienste als Kanzler und Kirchenratsdirektor nach Einführung der Reformation belehnte ihn Markgraf Karl II. 1556 mit der Burg in Niefern (Gde. Niefern-Öschelbronn, Enzkreis) und verlieh ihm das Adelsprädikat Achtsynit von Niefernburg. Zur Zeit der Regentschaft der Markgräfin Anna stand Achtsynit bis zum Regierungsantritt des Markgrafen Ernst Friedrich 1584 weiter an der Spitze der Regierung. Er war seit 1548 in erster Ehe mit Elisabeth von Jestetten († 1579)7 verheiratet, in zweiter Ehe seit 1582 mit der Pforzheimerin Barbara Goeslin. Als Stadthof kaufte er vor 1559 zunächst das Anwesen Pfarrgasse 7, das vor Einführung der Reformation ein Stiftsherrenhaus gewesen war; 1565 konnte er das Gebäude-Ensemble des ehemaligen Hirsauer Klosterhofs erwerben8. Ab 1584 zog sich Achtsynit auf seinen Landsitz zurück, um sich seinen wissenschaftlichen und literarischen Neigungen zu widmen und den Ausbau der Niefernburg zu leiten9. Er starb 1592 (Datum unbekannt). Seine einzige Tochter Maria Magdalena († 1581) heiratete 1572 den vielseitigen Schriftsteller, Gelehrten und markgräflich badischen Amtmann zu Mundelsheim, Johann Wolff (1537–1600)10.

Die Inschrift zeigt durch die nicht ausgefüllten Todesdaten an, daß Achtsynit sein Grabmal zu Lebzeiten hat anfertigen lassen. Vermutlich hat er die lateinische Inschrift, mit der er den Leser in der Ich-Form anredet, selbst verfaßt11. Das Denkmal wird dem Bildhauer Matthias Kraus aus Schweidnitz in Schlesien zugeschrieben, der 1590–1594 in Diensten des badischen Hofes stand und für Markgraf Ernst Friedrich umfangreiche Arbeiten an Schloß Gottesau auszuführen hatte12. Gestützt wird diese Zuschreibung durch die stilistische Verwandtschaft der Grabmal-Figuren mit dem Figurenschmuck am Stuttgarter Lusthaus, an dem Kraus seit 1587 Bildhauer-Arbeiten übernahm13. Auch dort sind die Halbfiguren als Hüftstücke gebildet. Zweifellos war das Achtsynit-Denkmal in seinem dreiteiligen Aufriß von dem Wanddenkmal des Johann von Trarbach für Markgraf Karl II. von 1579 angeregt worden14. Im einzelnen wählte der Meister jedoch andere Motive für die Dekoration; so finden sich die mit Rustika-Spangen besetzten Pilaster hinter den schwächlichen Freisäulchen auf Entwürfen für Schloß Gottesau wieder. Der Aufriß mit dem extrem hohen Giebelaufsatz zeigt die Vorliebe für das freie Spiel mit manieristischem Formengut und für ungewöhnliche Proportionen. Dieser Aufriß ist mit Sicherheit unverändert erhalten; der Aufsatz mit der Inschrift ist keine spätere Zutat, wie behauptet wurde15.

Nach dem kunsthistorischen Befund steht das Denkmal in Pforzheim isoliert. Angesichts der auf wenige Jahre beschränkten Schaffenszeit des Bildhauers Kraus für die Markgrafschaft paßt der Charakter eines Importstücks gut zu einer Zuschreibung an diesen Meister. Auf den Import des Denkmals weist auch das in Pforzheim ungewöhnliche Material des hellgrauen Sandsteins. Wenn man der Ansetzung in die Jahre 1590–1592 nicht folgen will, weil man die Zuschreibung an Kraus anzweifelt, so bleibt eine Datierung zwischen 1582, der zweiten Hochzeit Achtsynits, und seinem Todesjahr 1592 plausibel.

Der epigraphische Befund macht wahrscheinlich, daß der Bildhauer für die Ausführung der Inschrift nicht herangezogen wurde. Die Inschrift ist in einer Kapitalis von klassischer Formgebung und mit deutlicher Verstärkung der Linksschrägen sehr flach eingehauen. Überhöhte Anfangsbuchstaben sind sparsam verwendet, so vor allem am Zeilenanfang sowie für Namen und Titel. Im einzelnen verwendet die Schrift extrem breite Formen für H, M und N. Typische Merkmale sind das H mit dünnen Schäften, aber einem kräftigen Mittelbalken, und das N ebenfalls mit dünnen Schäften, aber einem kräftigen Schrägschaft. Die Cauda des R ist bis unter die Grundlinie gezogen. Diese Schrift war schon auf den Epitaphien des Prinzen Albrecht16 und in der Grabinschrift des Markgrafen Karl II.17 verwendet worden, Monumenten aus der Werkstatt des Johann von Trarbach, deren Inschriften von einem wohl einheimischen Schriftkünstler geschaffen worden waren.

Textkritischer Apparat

  1. Durch besondere Größe der Buchstaben hervorgehoben.

Anmerkungen

  1. Stammsitz Jestetten (Lkr. Waldshut).
  2. Zweimal gespalten, überdeckt von einem mit drei Sternen belegten Balken, der oben und unten von einem Zickzackbalken in verwechselten Tinkturen begleitet ist.
  3. Wie nr. 25.
  4. Biographische Notizen bei Pantaleon, Heinrich, Prosopographia III, 1570, 450; Adamus, Melchior, Vitae germanorum iurisconsultum etc., Heidelbergae 1620, 110f.; Rott, Baden-Durlacher Hof 1917, 17f., 43, 55f.; NDB 1 (1953) 245 (Vf. Manfred Krebs).
  5. Stammsitz Treppach (Ostalbkreis); vgl. Alberti 559. – Sie war eine Verwandte des Georg Nittel (Nüttel) von Treppach, 1571 badischen Amtmanns zu Mundelsheim († 1572); zu seiner Grabplatte ebd. vgl. DI 25 (Ludwigsburg) nr. 345.
  6. Vgl. nr.151.
  7. Ihre Grabplatte ist erhalten; vgl. nr. 191.
  8. Ecke Altstädter Kirchenweg/Parkstraße. Abgegangen; vgl. KdmBadenIX/6, 275f.; Trost, Adelssitze 1961, 115; Haag/Bräuning, Stadtkataster 2001, 130, 143, nr. 83.
  9. Durch Bauinschriften belegt; vgl. DI 22 (Enzkreis) nrr. 210, 213, 224.
  10. Zu Wolff vgl. Irtenkauf, Wolfgang, Johann Wolff, Amtmann zu Mundelsheim. In: LudwigsburgerGbll 27 (1975) 89–116. – Die Grabmäler von Wolffs Familie sind in Mundelsheim (Lkr. Ludwigsburg) erhalten; vgl. DI 25 (Ludwigsburg) nrr. 382, 429, 457, 458, 490, 491, mit Abb.
  11. Frau Renate Vogeler, Eppelheim, und meinem Kollegen Ilas Bartusch, Heidelberg, sei herzlich für ihre Übersetzungsvorschläge gedankt.
  12. Erstmals ausgesprochen von Hans Rott; vgl. Baden-Durlacher Hof 1917, 53; ihm folgt Fleischhauer, in: Renaissance 1971, 143.
  13. Das Lusthaus, begonnen 1583, ist zerstört; zu diesem Bau vgl. zusammenfassend Fleischhauer, in: Renaissance 1971, 54ff., 143ff. Einige dieser Halbfiguren schmücken heute den Burghof des Schlosses Lichtenstein (Lkr. Reutlingen). Zu Matthias Kraus vgl. ebd. 143.
  14. Vgl. nr. 204.
  15. Dies ist zuerst von Rott behauptet und dann von Lacroix übernommen worden; vgl. Rott, Baden-Durlacher Hof 1917, 55; Lacroix, in: KdmBadenIX/6, 144.
  16. Vgl. nr. 183.
  17. Vgl. nr. 192.

Nachweise

  1. Sachs, Marggravschaft IV, 1770, 175–178 (nur erw.).
  2. Gehres, Pforzheim 1811, 50–52.
  3. Pflüger 1862, 269, 320.
  4. Rott, Baden-Durlacher Hof 1917, 17f., 55f.
  5. KdmBadenIX/6, 142–144, nr. 4, Abb. 121, 122.
  6. Trost, Schloßkirche 1962, 37f., 70 nr. 58.
  7. Fleischhauer, in: Renaissance 1971, 143.
  8. Wagner, Karl-Helmut, Ein Lebensbild des badisch-markgräflichen Kanzlers Martin Amelius (Achtsynit). In: Der Enzkreis (Jahrbuch) 1 (1986/1987) 163–176.

Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 205 (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0020504.