Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 57: Stadt Pforzheim (2003)
Nr. 101† Ev. Stadtkirche (Dominikaner-Klosterkirche St. Stephan) 1. Jahrzehnt 16. Jh.?
Beschreibung
Epitaph der Elissa Reuchlin geborene Eck. Ursprünglich im Kreuzgang, nach 1733 außen auf der Nordseite, neben der „großen Kirchenthüren unter einem Dach“ aufgestellt. Offenbar eine hochrechteckige Tafel, beschriftet zeilenweise mit acht Zeilen.
Inschrift nach Majus1.
Schriftart(en): Vermutlich Kapitalis2.
ELISSAE . EK=/INAEa)b) . GEOR=/GIIb) . REVCHL=/INb) . VXORI . IOH(ANNES) / CAPNION FI/LIVS . MATRI . / PIENTISSIMAE / POSVIT
Übersetzung:
Der Elissa Eck, Ehefrau des Georg Reuchlin, seiner zutiefst frommen Mutter, hat Johannes Capnion (Reuchlin), der Sohn, (dieses Denkmal) gesetzt.
Textkritischer Apparat
- ERINAE Crusius; Bürcklin berichtigte diese Lesung ausdrücklich durch: EKINAE; ERLINAE Gehres.
- Die Trennstriche am Zeilenende sind vermutlich durch Majus ergänzt.
Anmerkungen
- Johann Heinrich Majus (May), geb. Pforzheim 1653, † Gießen 1719, ev. Theologe, Verfasser einer Biographie Johannes Reuchlins; vgl. Dörner, Gerald, Der Reuchlinbiograph Johann Heinrich May – ein Vater des Pietismus. In: PforzhGbll 10 (2001) 41–95; RGG 5, 4. Aufl. 2002, Sp. 936f. (Vf. Martin Friedrich).
- Die Kopialüberlieferung gibt die Inschrift ohne Ausnahme in Kapitalschrift wieder. Die Transkription bei Majus entspricht der zeilenweisen Anordnung der Inschrift auf dem Denkmal.
- Zu Reuchlins Wappen mit der Inschrift „ARA CAPNIONIS“ vgl. Decker-Hauff, Hansmartin, Bausteine zur Reuchlin-Biographie. In: Kling/Rhein, Johannes Reuchlin 1994, 83–107; hier 93f.
- Biographische Daten vgl. zuletzt Rhein, Stefan, Reuchliniana I. Neue Bausteine zur Biographie Johannes Reuchlins. In: Kling/Rhein, Johannes Reuchlin 1994, 277–284; ders., Familie Reuchlin – Ein genealogischer Ausflug in die Zeit des Humanismus und der Reformation. In: Ettlinger Hefte 29 (1995) 63–71.
- Vgl. Scheible, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit 1989, 9–50; hier 11f.; Kremer, Pforzheimer Lateinschule 1997, 28f.
- Vgl. DI 23 (Oppenheim) nr. 198.
- Bürcklin: „Weilen nun selbiger (Stein) auf einer Seite ein Stück verlohren …”.
- Wais, Gustav, Die St. Leonhardskirche und die Hospitalkirche zu Stuttgart. Stuttgart 1956, 31 nr. 34 mit Abb.; Rhein, Reuchliniana II. Forschungen zum Werk des Johannes Reuchlin. In: Kling/Rhein, Johannes Reuchlin 1994, 285–301; hier 285f., 99 (Abb.).
- Leiva Petersen hat nachzuweisen versucht, daß es sich bei dem Monument ursprünglich um eine Bau- und Stifter-Inschrift handelte, die erst im 19. Jahrhundert durch die Beifügung eines Rahmens mit Porträt-Medaillon in ein Epitaph umfunktioniert worden ist; vgl. Petersen, Leiva, Goldstadt – ein Epitaph Reuchlins? – ad vicanos port … In: Pforzheimer Reuchlinpreis 1955–1993. Die Reden der Preisträger (Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 9). Heidelberg 1994, 218–242; Rhein, Stefan, Reuchliniana II (wie Anm. 8) 286.
- Das Grabmal des bedeutenden Abtes ist in Bebenhausen erhalten; vgl. Grabdenkmale Bebenhausen 1989 56f. nr. 32.
- Die Tafel befindet sich in Stuttgart, im Städt. Lapidarium Mörikestraße 24; vgl. Wais, Gustav, Stuttgarts Kunst- und Kulturdenkmale. Stuttgart o. J., 109 nr. 79.
- Vgl. DI 29 (Worms) nr. 316 mit Abb.
- Vgl. DI 22 (Enzkreis) nr. 122 mit Abb.
Nachweise
- Crusius, Annales Suevici 1595, pars III, 577.
- Majus, Vita Reuchlini 1687, 140.
- Karlsruhe, GLA 171/1514, Bürcklin, Diözesanbeschreibung 1737, Abt. 3 (ohne Paginierung).
- Karlsruhe, GLA 65/1074 (Hss.), Memorabilia Phorcensia 1760/70, fol. 23r.
- Gehres, Pforzheim 1811, 67.
- Pflüger 1862, 169.
- KdmBadenIX/6, 268f. nr. 12 (nach Wechsler, Inscriptiones 1743).
- Rupprich, Hans, Johannes Reuchlin und seine Bedeutung im europäischen Humanismus. In: Kling/Rhein, Johannes Reuchlin 1994, 10–34; hier 11 Anm. 2.
Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 101† (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0010101.
Kommentar
In dem Denkmal der Elissa Reuchlin, der Mutter des Humanisten Johannes Reuchlin (geboren 29. Januar 1455, † 30. Juni 1522), war von diesem großen Gelehrten noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eines der wenigen Zeugnisse greifbar, die sich in den Mauern seiner Vaterstadt Pforzheim erhalten hatten. Das Epitaph trug die Stifterinschrift dieses wohl berühmtesten Sohnes der Stadt. Er nennt sich hier CAPNION, also mit der von ihm selbst gebrauchten griechischen Umformung seines Namens3.
Die hier genannten Eltern Reuchlins, Georg und Elisabeth (hier Elissa) geborene Eck, waren vermutlich aus dem Nagoldtal nach Pforzheim zugewandert4. Über ihre Lebensumstände ist nichts bekannt. Es wird angenommen, daß Georg Verwalter des Dominikaner-Klosters war. Die Todesdaten der Elissa sind nicht überliefert. Der Sohn Johannes besuchte die Pforzheimer Lateinschule5, dann die Universitäten in Freiburg, Paris, Basel, Orléans und Poitiers, wo er Lizentiat des römischen oder kaiserlichen Rechts wurde. Nach der Erwerbung des Doktorgrades 1484 in Tübingen durchlief er eine glanzvolle Karriere als Jurist im Dienste des württembergischen Grafen und späteren Herzogs Eberhard im Bart. Nach dessen Tod 1496 fand er am Heidelberger Hof im Kreise der Humanisten um Bischof Johann von Dalberg freundliche Aufnahme und wurde vom Kurfürsten Philipp von der Pfalz mit politischen Missionen betraut. Ab 1502 stand er in Stuttgart wieder in württembergischen Diensten. Sein letztes Lebensjahrzehnt war überschattet durch den sog. Hebraismus-Streit, in dem er als Wissenschaftler, Hebraist und Jurist für die Rettung der Juden und ihrer Schriftkultur vor der Vernichtung durch den kirchlichen Fanatismus – vertreten vor allem vom Dominikanerorden – kämpfte. Reuchlin starb am 30. Juni 1522 in Stuttgart und wurde dort in der Pfarrkirche St. Leonhard bestattet.
Die Familie Reuchlin ist im späteren 16. Jahrhundert noch in Pforzheim nachweisbar durch die Nachkommen von Dionysius Reuchlin (geboren um 1472, Todesdatum unbekannt), einem jüngeren Bruder des Humanisten. Weitere Nachkommen ließen sich in Oppenheim nieder, so die Brüder Wolff Ludwig und Hans Wolff Reuchlin, die sich in ihrem gemeinsamen Epitaph von 1587 bzw. 1598 ausdrücklich auf ihre Verwandtschaft mit dem großen Capnion berufen und sein Wappen führen6.
Die Standortangabe für das Epitaph von Reuchlins Mutter bei Majus „in coemiterio templi oppidani“ meint den Dominikaner-Kreuzgang, der – wie häufig bei den Bettelorden – als Begräbnisplatz für die wohlhabende Bürgerschaft diente. Nach dem Bericht des Pforzheimer Superintendenten Philipp Jacob Bürcklin (1689–1771) lag das Epitaph 1733 „in einem Winkel unter freyem Himmel“ und war auf einer Seite zerstört. Zu dieser Zeit muß der Kreuzgang bereits in ruiniösem Zustand gewesen sein; er wurde 1753 als „kürzlich abgerissen“ bezeichnet. Bürcklin hat die historische Bedeutung des Steins erkannt und beschreibt die Steinplatte als nicht mehr vollständig7. Schon damals fehlte die Angabe des Todesdatums, freilich nicht aufgrund einer Beschädigung, denn offensichtlich hat die Inschrift dieses Datum niemals enthalten. Bürcklin hat das Fragment geborgen; er hat die Inschrift, deren vollständigen Wortlaut er vermutlich aus der Veröffentlichung von Majus kannte, auf der Rückseite neu einmeißeln lassen und das restaurierte Denkmal „an der großen Kirchenthüren unter einem Dach“ aufstellen lassen. Offenbar ist das Epitaph dann seit dem Brand der Kirche im Jahr 1789 und deren Abbruch 1792/1793 verschollen.
Die Anordnung der Inschrift in kurzen Zeilen mit Kapitalis-Buchstaben erinnert an ein 1501 datiertes Inschriften-Denkmal des Johannes Reuchlin, das sich ursprünglich im Kreuzgang des Stuttgarter Dominikanerklosters (nach der Reformation Spital) befand, das aber nach dessen Beschädigung durch Bombenangriffe 1944 in der ev. Pfarrkirche St. Leonhard aufgestellt wurde8. Man wählte diesen Standort, weil man das Denkmal für das Epitaph Reuchlins hielt, und weil bekannt war, daß Reuchlin und seine zweite Frau nach kinderloser Ehe in der St. Leonhardskirche bestattet worden sind. Die Frage, ob das dreisprachige Stuttgarter Humanisten-Denkmal ursprünglich die Funktion eines Familien-Epitaphs, eines Epitaphs für Reuchlins erste Frau oder einer Bauinschrift hatte, kann hier nicht erörtert werden9. Jedenfalls ist das Pforzheimer Elissa-Epitaph wegen seiner Gestaltung in die Nähe des Stuttgarter Denkmals zu rücken. Die Inschrift – hier acht, dort neun Zeilen im segmentbogenförmig schließenden Schriftfeld – weist in beiden Fällen ohne Rücksicht auf die Wortlängen fast in jeder Zeile einen Umbruch auf, wie dies auf antiken römischen Epitaphien zu beobachten ist. Das knappe Formular folgt eindeutig dem Vorbild antiker Grab- und Ehreninschriften, wie sie Reuchlin und seinem Humanistenkreis geläufig waren. Hier war es durchaus üblich, bei Epitaphien auf die Angabe des Todesdatums zu verzichten, wodurch der Inschriftstein den Charakter eines römischen Gedächtnis- oder Gedenksteins erhielt. Von dieser Argumentation her ist anzunehmen, daß die Epitaph-Inschrift der Elissa kein Fragment war, sondern von Bürcklin trotz der Beschädigung an einer Seite noch vollständig überliefert wurde.
Wenn die vorliegende Inschrift aufgrund stilistischer Überlegungen in die Nähe der Stuttgarter Reuchlin-Inschrift gerückt wird, so sprechen auch die Lebensumstände Reuchlins und seiner Mutter für eine Ansetzung bald nach 1501. Reuchlin stand damals mit 46 Jahren auf der Höhe seiner politischen Laufbahn, seine Mutter war eine Greisin von über sechzig Jahren. Auch wenn ihr Todesjahr nicht bekannt ist, ist ihr Ende im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts anzunehmen. Die Kapitalis-Inschrift des Pforzheimer Steins widerspricht keineswegs einer so frühen Ansetzung. Die klassische Kapitalis ist – möglicherweise unter Einflußnahme des Humanistenkreises um Reuchlin – in Stuttgart in einer weiteren Inschrift, in der Bauinschrift des Abtes Johannes von Fridingen (geboren um 1458, † 21. Dezember 1534)10 von dem 1502 errichteten Bebenhäuser Hof, nachweisbar11. Noch früher entstandene Denkmäler mit dieser Schrift sind die Bauinschriften des Wormser Bischofs Johann Kämmerer von Worms gen. von Dalberg von 1488 für den Wormser Domkreuzgang12 und des Maulbronner Abtes Johannes Burrus für die doppelgeschossige Marienkapelle von 1493 in Kloster Maulbronn13. Da diese drei geistlichen Bauherren alle zum humanistischen Umfeld Reuchlins und zu dem mit ihm verbundenen Personenkreis gehörten, liegt es nahe, daß Reuchlin diese frühen Versuche einer an der Antike orientierten Inschriftenproduktion kannte und als Auftraggeber diese Vorbilder nicht nur aufgriff, sondern möglicherweise selbst beeinflußt hat.