Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 57: Stadt Pforzheim (2003)

Nr. 2 Ev. Schloßkirche (Stiftskirche St. Michael) 1275

Beschreibung

Grabplatte des Eberhard Liebener (Liebenarius). Im südlichen Nebenchor an der Ostwand. Hochrechteckige Platte aus rotem Sandstein mit Umschrift zwischen Linien und Rahmung aus einem schmalen Rundstab. Im Feld Lilienkreuz in Ritzzeichnung. Die linke untere Ecke ist in vier Bruchstücke zersplittert; oben links und unten rechts die Ecken beschädigt. Die Oberfläche ist durch Feuchtigkeit und weißliche Ausblühungen geschädigt.

Maße: H. 244, B. 87, T. 22, Bu. 3–3,8 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/2]

  1. +  ANNO  D(OMI)NI  ·  M°  ·  CC°  ·  L°XX°  /  V°  EBERHARDUS  ·  LIEBENARIUSa)  ·  O(BIIT)  IN  VIGILIA  ·  BEATE  ·  AGNETIS  ·  /[Q(ỤỊ)  FỤỊṬ]b)  ·  HUIC  ·  MU[N]ḌỌ  /  ·  MARTHA  ·  MARIA  ·  DEO  ·+  REQUIESCAT  ·  IN PACE  ·  AMEN

Übersetzung:

Im Jahr des Herrn 1275 starb Eberhard Liebener am Vorabend des Tages der seligen Agnes (20. Januar), der dieser Welt eine Martha, Gott aber eine Maria war. Er möge in Frieden ruhen. Amen.

Versmaß: Leoninischer Pentameter1.

Kommentar

Der Verstorbene war vermutlich ein Sohn des mehrfach in den Quellen belegten Schultheißen Erlewin Liebener2 und von dessen Frau Mechtild. Eberhard Liebener ist ebenfalls mehrfach, nämlich 1240, 1256 und 1258 als Zeuge und Geschworener nachweisbar3. Hier auf seiner Grabplatte führte Eberhard noch nicht das Wappen der Liebener, das zugleich das Wappen der Familien Göldlin und Goeslin war und auf eine ursprüngliche Stammesverwandtschaft hindeutet4.

Diese älteste erhaltene Grabplatte der Stiftskirche fällt auf durch die sorgfältige Gestaltung der Schrift und die besonders reiche Bildung des Lilienkreuzes sowie durch eine bedeutsame Bereicherung des üblichen Formulars. Die durch aufsteigende Feuchtigkeit nahezu zerstörte Fußzeile scheint sich einer Ergänzung zu entziehen, doch bietet die Nennung von Martha und Maria in der folgenden Längszeile die Möglichkeit, hier die Lehre von den beiden Lebensformen – der Vita activa und der Vita contemplativa, symbolisiert durch das Martha-Maria-Modell,5 – mit dem Leben des Verstorbenen im Sinne eines Totenlobes zu verbinden. Die Grabinschrift drückt aus, daß Eberhard Liebener nach einem tätigen irdischen Leben, gewidmet der Nächstenfürsorge, nach Sterben und Tod nun das bessere Leben in Gottes Nähe führt. Gerade in der Dominikaner-Mystik des späten 13. Jahrhunderts gewann die Lehre von den zwei Lebensformen im Rückgriff auf die patristische Tradition neue Bedeutung6.

Die feinstrichige Inschrift beginnt und endet vor der Fürbittformel mit einem Invokationskreuz und ist locker angeordnet. Die Abstände zwischen den Buchstaben und deren Größe nehmen gegen Ende der Inschrift zu. Kapitale und unziale Buchstaben sind abwechselnd verwendet, wobei die Kapitalisform bevorzugt wird. Die Buchstaben sind breit proportioniert, verzichten aber noch weitgehend auf Schwellungen; die kapitalen Formen von H, M und N sind fast quadratisch, C und unziales E kreisrund und geschlossen. Auffallend ist das unziale U aus Bogen und Schaft, das hier in allen Fällen das V ersetzt. Besonders für A sind mehrere Varianten gewählt. Das Anfangs-A von ANNO ist mit fast parallel geführten Hasten nahezu rechteckig mit weit nach links gezogenem Deckbalken; daneben kommt mehrfach ein pseudounziales A vor, einmal mit doppelstrichigem Mittelbalken.

Die Platte befindet sich mit Sicherheit nicht in situ, sie dürfte noch aus dem 1275 bereits vollendeten Langhaus stammen. Ein konservativer Zug ist die Wulstrahmung, die an spätromanische Platten erinnert7. Die Wulstrahmung bewirkt eine Profilierung der Kanten des Denkmals nicht nur auf der Oberfläche, sondern auch an allen vier Seiten. Daraus geht hervor, daß das Grabmal wohl nicht bündig im Boden lag, sondern ehemals über das Niveau des Bodens herausragte. Das Lilienkreuz als Verzierung des Mittelfeldes ist in Ritzzeichnung ausgeführt8. Es ist analog zu bestimmten Maßwerkformen der klassischen Hochgotik mit dem Zirkel konstruiert. Der Schaft des Kreuzes endet unten nicht mit einem Kreuzfuß, sondern wie oben in einer mit Lilienenden besetzten Spitze. In Pforzheim sind mehrere vergleichbare Kreuze des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts mit Lilienenden, aber mit einfacherer Struktur, nachweisbar9.

Textkritischer Apparat

  1. LIEBENERIUS Lacroix, in: KdmBadenIX/6.
  2. Statt FUIT wäre vom Schriftbefund her eher FUI denkbar, jedoch ist sinngemäß und in Analogie zu REQUIESCAT die Form FUIT vorzuziehen.

Anmerkungen

  1. Von Q(UI) bis einschließlich DEO.
  2. Erlewin Liebener ist 1240, 1245, 1246 und 1254 nachweisbar. Am 20. Mai 1257 vermachte er seine Güter in der Altenstadt bei Pforzheim dem Kloster der Reuerinnen zu Pforzheim, dem späteren Dominikanerinnenkloster. Da seine Frau Mechtild 1259 ihre Güter in Durlach dem Zisterzienser-Kloster Herrenalb schenkte und als Witwe bezeichnet wurde, muß Erlewin zwischen 1257 und 1259 verstorben sein; vgl. Carl, Regesten Pforzheim 1998, 21 nr. 2, 22 nrr. 4 und 6, 23 nr. 7, 24 nr. 11, 26 nr. 16.
  3. Ebd. 21 nr. 2, 23 nr. 8 und 9, 25 nrr. 13 und 14.
  4. Dieses Wappen erscheint erstmals auf der Grabplatte des Gosolt Liebener († 1318); vgl. nr. 13.
  5. Nach Lc 10,38–42. Vgl. LM 8 (1997) Sp. 1752–1754 (Stichwort Vita activa/vita contemplativa; Vf. N. Largier); Haas, Alois M., Die Beurteilung der Vita contemplativa und activa in der Dominikanermystik des 14. Jahrhunderts. In: Arbeit, Muße, Meditation. Hg. v. Brian Vickers. Zürich 1985, 109–131.
  6. Den Hinweis auf diesen Zusammenhang und den Lösungsvorschlag für die Ergänzung der Inschrift in der Fußzeile verdanke ich Harald Drös, Heidelberg.
  7. Vgl. die Rahmung spätromanischer Grabplatten mit einem Rundstab in Alpirsbach, Schönau und Lobenfeld; vgl. dazu Seeliger-Zeiss, Alpirsbach, Inschriften 2001, 523; dies., Die Grabmäler in der ehemaligen Klosterkirche Lobenfeld. In: Kloster St. Maria zu Lobenfeld (um 1145–1560). Petersberg 2001, 269–282; hier 272.
  8. Zur Ikonographie des Kreuzes auf Grabplatten vgl. Azzola, Friedrich Karl, Zur Ikonographie des Kreuzes auf Kleindenkmälern des Hoch- und Spätmittelalters im deutschen Sprachraum. In: Epigraphik Worms 1987, 9–41.
  9. Vgl. nrr. 3, 10, ferner die Grabplatten mit Lilienkreuz ohne Inschrift; vgl. Einl. XXIV. Auch in Maulbronn, dem im 13. Jahrhundert maßgebenden geistigen Zentrum der Region, kommt das Lilienkreuz auf Grabplatten vor; vgl. DI 22 (Enzkreis) nr. 14.

Nachweise

  1. Pflüger 1862, 82.
  2. KdmBadenIX/6, 149 nr. 20, Abb. 127.
  3. Trost, Schloßkirche 1962, 13–15 mit Abb.
  4. Roeck, Stadtgeschichte – Weltgeschichte 1995, 53 mit Abb.
  5. Köhler/Timm 1996, 27.

Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 2 (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0000203.