Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 57: Stadt Pforzheim (2003)

Nr. 109† Ev. Schloßkirche (Stiftskirche St. Michael) 1519

Beschreibung

Grabplatte des Hans von Neuneck. Zuletzt 1939 im Westbau, im nördlichen Nebenraum im Boden; nach Crusius „extra chorum templi“; Kriegsverlust von 1945. Vermutlich Rechteckplatte mit zeilenweise angeordneter Inschrift und Wappen. Schon 1939 schlecht erhalten, das Wappen abgetreten.

Inschrift nach KdmBadenIX/6, ergänzt nach Crusius.

Maße: H. 186, B. 72.

Schriftart(en): Gotische Minuskel1 mit Versalien.

  1. An(n)o d(omi)ni 1519 uff / aller heilgen [abend] starb / der edel und vest hans / von Nevneck dem got / gnedig svn wolle

Datum: 31. Oktober.

Wappen:
Neuneck.

Kommentar

Hans war ein Sohn des Ludwig von Neuneck zu Bittelbronn (Stadt Horb am Neckar, Lkr. Freudenstadt) und der Margarethe Kechler von Schwandorf2. Hans war mit Agatha von Eicholzheim verheiratet. Er wurde 1519 von Hans von Ow aus der Linie Ow-Hirrlingen in Pforzheim im Streit erschlagen3.

Danach verpflichtete sich die Familie von Ow4 in einem Sühnevertrag vom 1. August 1520 mit dem Vater des Opfers, Ludwig von Neuneck, zur Wiedergutmachung. Der Wortlaut des Vertrages ist im Kanzleibuch des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen, gedruckt 1528/1530, überliefert5. Die von Ow verpflichteten sich danach zu einer Zahlung von 450 Gulden an die Hinterbliebenen sowie zur Stiftung eines Seelgerätes für das Seelenheil des Erschlagenen. Im Mittelpunkt des Vertrags stand die Errichtung eines Sühnekreuzes an der Heiligkreuz-Kirche in der Brötzinger Vorstadt zu Pforzheim. Laut Vertrag wurden Standort und Gestaltung des Kreuzes genau vorgeschrieben: „Ain staine Creuz von Pfortzheim herauß an der Landstraß vor dem Pretzinger Thor zu dem ussern hl. Creuz, daß sy 7 werkschuh lang und 4 breit, drauff soll gehauen sein schüllt und helm Hansen von Neunegg seligen“5. Es handelte sich also um ein großformatiges Steinkreuz in der Art der Friedhofskreuze von Baden-Baden oder Offenburg und nicht um ein Sühnekreuz kleineren Formats in der sonst üblichen Form6. Das Kreuz sollte zwischen der Heiligkreuz-Kirche und dem Kreuztor – also vermutlich im öffentlichen Straßenraum und in unmittelbarer Nähe zum Friedhof – aufgestellt werden7. Die Kirche wurde im 18. Jahrhundert profaniert und 1824 abgerissen; dabei ist auch das Sühnekreuz abgegangen, das mit Sicherheit eine Inschrift getragen hat.

Die Frage, warum das Sühnekreuz bei der Heiligkreuz-Kirche errichtet wurde, die Grabplatte aber, verbunden mit der Bestattung, in der Stiftskirche ihren Platz hatte, wird beantwortet durch die liturgischen Bestimmungen des Sühnevertrages. Nach dem Totenamt und drei Seelenmessen in der Stiftskirche war eine feierliche Prozession zu der Kirche in der Brötzinger Vorstadt vorgesehen, die nur den Status einer „Capella“ hatte. Dabei hatten jeweils sechs Geistliche des Stifts sowie Hans von Ow mit seinem Gefolge Kerzen zu tragen, deren Gewicht im einzelnen vorgeschrieben war. Danach mußten die Kerzen zur Stiftskirche zurückgetragen und auf dem Grab des Hans von Neuneck niedergestellt werden. Weitere Bestimmungen betrafen die Stiftung eines ewigen Lichtes an seinem Grab sowie eine hier abzuhaltende Jahrtagsmesse. Aus den ausführlichen – hier aber nur zusammenfassend wiederzugebenden – Bestimmungen des Sühnevertrags, die auch Wallfahrten vorschrieben, geht hervor, daß die Familie des Hans von Neuneck darauf bestand, den Totschlag mit äußerst kostspieligen und in aller Öffentlichkeit wirksamen Memoria-Leistungen für das Seelenheil des Hans von Neuneck zu sühnen. Der Sühnevertrag, der hier zur Anwendung kam, bewegte sich durchaus im üblichen Rahmen, wie zahlreiche erhaltene Verträge dieser Art beweisen8. Kernstück der Buße war die Meßstiftung, sichtbares Zeugnis blieb das steinerne Sühnekreuz, das meist am Tatort zu errichten war. Im vorliegenden Fall bleibt offen, ob die Brötzinger Vorstadt der Tatort war.

Ebenso bleiben die Hintergründe der Mordtat im Dunkeln. Die Kontrahenten standen beide schon im reifen Mannesalter, als sie in Streit gerieten. Der Täter Hans von Ow war ein Sohn des Georg von Ow († 1510) zu Wurmlingen (Stadt Rottenburg a. N., Lkr. Tübingen) und seiner zweiten Ehefrau Anna Schenk von Stauffenberg; er starb 15289. Hans urkundete von 1510 an und war 1518 württembergischer Vogt zu Tuttlingen. In Zusammenhang mit der Vertreibung des Herzogs Ulrich mußte Hans als württembergischer Amtsträger 1519 die Flucht ergreifen und fand vermutlich Aufnahme in Pforzheim. Das Opfer Hans von Neuneck war vor 1519 badischer Amtmann in Ettlingen gewesen, aber von dem Markgrafen Philipp von Baden entlassen worden und offenbar ebenfalls nach Pforzheim gezogen. Welcher Art die Beziehungen beider zum Hof des Markgrafen waren, bleibt unbekannt. Eine Beziehung des Hans von Neuneck zu Pforzheim wäre aus dem Hausbesitz der Familie seiner Mutter, einer Kechler von Schwandorf, abzuleiten10.

Anmerkungen

  1. Lacroix: „Cursive“.
  2. Sie war in ihrer ersten Ehe mit Pfost von Neuneck († 1475) verheiratet; dessen Grabmal ist in Neuneck (Gde. Glatt, Lkr. Freudenstadt) erhalten; vgl. Dokumentation und Photo im Photoarchiv der Heidelberger Inschriftenkommission. Zur Genealogie der Neuneck vgl. Ottmar, Johann, Die Burg Neuneck und ihr Adel (Göppinger Akademische Beiträge 84). Göppingen 1974, hier 133f., 185f., 193f. Herrn Dr. Johann Ottmar, Mössingen, sei herzlich Dank gesagt für seine freundlich gewährten Auskünfte.
  3. Vgl. Künzig/Ehmann, Pforzheim, ein Heimatbuch. Pforzheim 1956, 80f.; Reiling, in: PforzhGbll 4 (1976) 31–56.
  4. Zur Genealogie der Herren von Ow vgl. Ottmar, Johann, in: Adel am Oberen Neckar. Beitr. z. neunhundertjährigen Jubiläum der Familie von Ow, hg. v. Franz Quarthal und Gerhard Faix, Tübingen 1995, 7–76; bes. 21–26 mit Stammtafel S. 22.
  5. Titel: Alexander Hug, Rethorica unnd Formulare, Teutsch. Tüwingen, U. Morhart (1528), Tübingen, Universitätsbibliothek Signatur Hb 10a. Eine Abbildung des Titelblattes in Kat. Renaissance 1, 1986, 498 H 31. Zum Text des Sühnevertrags vgl. Hannemann, Alexander Hugen 1961, 61.
  6. Ein solches kleineres Sühnekreuz ist in Pforzheim erhalten; vgl. nr. 93.
  7. Es ist naheliegend, daß das monumentale Steinkreuz in der Nähe der Kirche, das 1692 zerstört wurde, mit dem Sühnekreuz für Hans von Neuneck identisch war. Dieses Friedhofskreuz wird in anderen Inschriften Pforzheims ausdrücklich erwähnt, so in der Grabinschrift für die Kinder des Juristen Dr. Johann Schmid von 1579 sowie in der Bauinschrift auf den Wiederaufbau der Kirche 1689/99; vgl. nr. 190; ferner Gehres, Pforzheim 1811, 73; KdmBadenIX/6, 250.
  8. Vgl. die Zusammenstellung ähnlicher Vorgänge bei Jänichen, Hans, Schwäbische Totschlagsühnen im 15. und 16. Jahrhundert. In: ZWLG 19 (1960) 128–140.
  9. Ottmar (wie Anm. 4) 22 (Stammtafel).
  10. Das Anwesen „neben dem Ober Bad“ am späteren Waisenhausplatz wurde den Kechler von Schwandorf 1569 gefreit, war aber schon alter Besitz; vgl. KdmBadenIX/6, 378; Trost, Adelssitze 1961, 123; Haag/Bräuning, Stadtkataster 2001, 144. Zu den Pforzheimer Grabplatten der Kechler vgl. nrr. 96, 113.

Nachweise

  1. Crusius, Annales Suevici 1595, pars III, 564.
  2. Stuttgart HStA J1 Nr. 48 g IV, Gabelkover, Genealogische Kollektaneen, fol. 1580v.
  3. Kindler v. Knobloch III, 228.
  4. Gerwig, Robert, in: Kirchliches Gemeindeblatt für Pforzheim 1915, nr. 11, 53–57.
  5. KdmBadenIX/6, 153 nr. 5 u. 250.
  6. Künzig/Ehmann, Pforzheim, ein Heimatbuch 1956, 80.
  7. Trost, Schloßkirche 1962, 74.
  8. Reiling, Gustav Adolf, Mord-, Sühne- und Unfallkreuze im Stadt- und alten Landkreis Pforzheim. In: PforzhGbll 4 (1976) 31–52; hier 32f.

Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 109† (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0010904.