Inschriftenkatalog: Stadt Osnabrück

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 26: Stadt Osnabrück (1988)

Nr. 75† Dom 2. H. 15. Jh./1. H. 16. Jh.

Beschreibung

Tafel mit einer 660 Verse umfassenden Reimchronik der Bischöfe von Osnabrück bis zu Franz von Waldeck. Sie war nahe beim Altar aufgehängt1). Über Material, Größe und Ausführung liegen keine Angaben vor, ebensowenig über ihren Verbleib. Die Reimchronik ist gedruckt in den Osnabrücker Geschichtsquellen zugänglich2) – wenn auch hier nicht in einem Stück –, daher kann hier auf ihre Wiedergabe verzichtet werden. Sie bietet ähnliche Probleme wie das Reiner-Pergament (Nr. 49), da sie wie dieses den üblichen Rahmen einer Inschrift sprengt, von ihrer Zweckbestimmung her jedoch dieser Kategorie zuzurechnen ist. Da die Entstehungszeit der Reimchronik mit der des Reiner-Pergaments zusammenfällt, ist es wahrscheinlich, daß auch sie auf Pergament aufgezeichnet war, zumal Ertmann für beide die Bezeichnung tabula wählt3). Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß es sich um eine Holztafel ähnlich denen der Marienkirche (Nr. 66, 126, 159, 219) gehandelt hat. Inschriften chronikalischen Charakters auf Tafeln, die in Kirchen aufgehängt waren, scheinen keine Seltenheit gewesen zu sein. Es lassen sich bisher allerdings nur wenige original überlieferte Tafeln finden4), was sich wohl aus dem – im Zusammenhang mit dem Reiner-Pergament bereits angesprochenen – Umstand erklärt, daß aufgrund äußerer Kriterien das Interesse an ihrer Erhaltung nur sehr gering gewesen sein dürfte. Aber auch wenn man davon ausgeht, daß Tafeln mit Chroniken oder kürzeren historischen Notizen gängige Ausstattungsstücke von Kirchen waren, so bleibt die Osnabrücker Reimchronik doch ihres Umfangs wegen eine Ausnahmeerscheinung.

Die Entstehung der Reimchronik läßt sich aus ihrer Überlieferungsgeschichte erschließen. Der erste Teil der Chronik, insgesamt 452 Verse, ist überliefert in einer Sammelhandschrift, die neben anderen chronikalischen Aufzeichnungen auch Lehnsprotokolle und Urkunden enthält5). Er wurde in der Zeit zwischen 1455 und 1480 verfaßt6). Daß er mit dem Text identisch ist, der im Dom beim Altar aufgehängt war, geht aus einer Bemerkung Ertmanns im Zusammenhang mit dem Begräbnis Gerhards von Oldenburg hervor: Gerhardus . . . in quadam tabula vulgari, que in ecclesia Osnaburgensi circa ambonem publice dependet, scribitur fuisse parve laudis, in cimiterio sancti Viti non circumdato muro sepultus, sine reverencia vel lapide7). Die – im übrigen falsche – Angabe der Reimchronik, die Ertmann übernommen hat, lautet: Gerardus kleyne ist van love. / De licht up sunte Vites hove. / In werken bose und dum, / Dat secht syn epytaphium8). Daß die überlieferte Handschrift der Reimchronik von Ertmann als Quelle für seine eigene Chronik verwandt wurde, beweisen Randnotizen von seiner Hand. Es wäre möglich, daß er von der Tafel im Dom eine Abschrift anfertigen ließ, um sie für seine Zwecke zu nutzen.

Völlige Sicherheit über die Identität von Reimchronik und Tafel läßt sich aus der Lilieschen Fortführung der Ertmannschen Chronik gewinnen. Sie beginnt mit den Worten: Ick finde nicht mehr in heren Ertwinus croniken, des borgermeisters, geschreven. Van den anderen heren und bischopen steit geschreven in der tafelen im dome to Ossenbrugge bi dem predikestole wu nafolget9). Er übernimmt im folgenden wörtlich die Verse 405–452 der Reimchronik über die Bischöfe Albert von Hoya und Rudolf von Diepholz. Daran schließen sich unmittelbar weitere 182 Verse über die Bischöfe Konrad von Diepholz, Konrad von Rietberg und Erich von Grubenhagen an, die die Handschrift der Reimchronik nicht mehr enthält, auf die der oben zitierte Satz aber wohl ebenfalls bezogen werden muß. Daß die Tafel im Dom die Geschichte der Bischöfe lückenlos bis in die Zeit Lilies hinein umfaßte, also entweder nach und nach oder einmal – vielleicht sogar durch Lilie selbst – mit einem Nachtrag versehen wurde, beweisen 26 Verse über Bischof Franz von Waldeck in der niederdeutschen Bischofschronik, die laut Lilie ebenfalls by dem predikestoill zu lesen waren10). Franz von Waldeck starb 1553.

Der Wortlaut der Erwähnungen legt den Schluß nahe, daß alle 660 Verse auf einer Tafel standen, da von dieser niemals im Plural die Rede ist. Sicher wurden die ersten 452 Verse in einem Stück von demselben Autor verfaßt, der in der ersten Person auftritt. Er wird von Konrad von Diepholz beauftragt worden sein, den Text abzufassen, wahrscheinlich von vornherein mit Blick auf ein breites Publikum, dem die Chronik im Dom zugänglich gemacht werden sollte.

Anmerkungen

  1. Ertmann, S. 63.
  2. OGQu. Bd. 1, S. 7–18; Chronik 2, S. 179–188 u. S. 306.
  3. Ertmann, S. 63 u. S. 67.
  4. In den bisher erschienenen Inschriftenbänden findet sich nur ein einziges Beispiel, das sich in etwa mit der Osnabrücker Reimchronik vergleichen läßt: die in der Klosterkirche Ebrach aufgehängten Tafeln zur Erinnerung an die Bischöfe von Würzburg, die Herzöge von Schwaben und die Stifter der Kirche DI XVIII, Nr. 93–103. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Holztafel, ebd., Nr. 7, deren 160 deutsche Verse allgemeine Betrachtungen über die Herzenssepultur der Bischöfe in dieser Kirche zum Inhalt haben. Hinzuweisen ist hier auch auf ein Pergament aus der Elisabethkirche in Marburg aus dem 15. Jahrhundert, das eine Deutschordens-Chronik enthält. Vgl. Rieckenberg, S. 571. Für England lassen sich mehrere Beispiele von Tafeln mit z. T. sehr ausführlichen, der Osnabrücker Reimchronik in ihrer Länge durchaus vergleichbaren chronikalischen Inschriften aufführen. Vgl. Gerould, St. Wulfhad and St. Ruffin. Allgemein hierzu auch Boockmann, passim.
  5. Dazu OGQu. Bd. 1, S. XI.
  6. Die Datierung ergibt sich daraus, daß der erste Teil der Chronik mit dem Tod Bischof Rudolfs 1455 endet. Spätestens 1480 begann Ertmann mit der Abfassung seiner Chronik, der die Reimchronik zugrundelag.
  7. Ertmann, S. 63.
  8. V. 117–120, OGQu. Bd. 1, S. 10. Gerhard von Oldenburg wurde nicht still und heimlich in Osnabrück, sondern in allen Ehren in Bremen beigesetzt.
  9. Chronik 2, S. 178.
  10. Ebd., S. 309.

Nachweise

  1. OGQu. Bd. 1, S. 7–18, Chronik 2, S. 179–188 u. S. 309.

Zitierhinweis:
DI 26, Stadt Osnabrück, Nr. 75† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di026g003k0007503.