Die Inschriften der Stadt Osnabrück

4. Die Schriftformen

Die Osnabrücker Inschriftenüberlieferung deckt ein breites Spektrum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftformen ab. Als Majuskelinschriften kommen alte Kapitalis, gotische Majuskel in allen Ausprägungen, frühhumanistische Kapitalis und Renaissance-Kapitalis vor. Daneben stehen als Minuskelinschriften gotische Minuskel, humanistische Minuskel und Fraktur. Es wird zu zeigen sein, daß sich die Grenzen zwischen den beiden letztgenannten Schriftarten in Osnabrück verwischen und eine Mischform entsteht, die eine Zuordnung zu einer der beiden Kategorien nur nach den jeweils überwiegenden Merkmalen erlaubt.

4.1 Alte Kapitalis

Die drei ältesten Osnabrücker Inschriften sind in Kapitalis ausgeführt. Die früheste Inschrift auf dem Elfenbeinrelief eines Buchkastens (Nr. 1) aus dem 10. Jahrhundert nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da sie dem byzantinischen Kunstkreis zugerechnet werden muß. Die Mittelhasten des M reichen hier bis auf die Zeile hinab. Das A tritt mit geradem und gebrochenem Querbalken auf. Die Inschriften eines Elfenbeinkamms (um 1000, Nr. 2) und die des auf dem Kapitelkreuz befestigten Kruzifixes (11. Jahrhundert, Nr. 3) zeigen eine schlichte Schriftform ohne auffällige Besonderheiten.

4.2 Gotische Majuskel

Beispiele gotischer Majuskel gibt es in Osnabrück für alle Entwicklungsstufen. In diesem Zusammenhang der interessanteste Inschriftenträger ist der Crispinus- und Crispinianusschrein (Nr. 7), der verschiedene Ausprägungen gotischer Majuskel aus unterschiedlichen Zeiten aufweist. Das Schriftband der Schauseite ist auf das Ende des 12. Jahrhunderts zu datieren und damit zusammen mit seinem Gegenstück auf der Schauseite des Sixtus- und Siniciusschreins (Nr. 6) die älteste für Osnabrück überlie-[Druckseite XXVI]-ferte Inschrift in gotischer Majuskel. Auf beiden Schriftbändern finden sich noch Elemente aus romanischer Zeit, besonders auffällig ist das eckige C. E kommt mit einer Ausnahme nur in kapitaler Form vor, A erscheint immer mit geraden Hasten, breitem Deckbalken und gebrochenem, offenen Querbalken. Es überwiegen noch kapitale Buchstaben. Auf die gotische Majuskel verweisen unziales halbgeschlossenes M und N. Insgesamt sind die Buchstaben durch eine sorgfältige aber schmucklose Ausführung gekennzeichnet.

Aus derselben Zeit stammt ein kleines Reliquiar (Nr. 4), auf dessen Inschriftenbändern unziale Buchstabenformen häufiger vertreten sind als auf denjenigen der beiden Reliquienschreine, die daher geringfügig älter sein könnten. Davon abgesehen sind die Schriften der drei Stücke sehr ähnlich. Kapitale Buchstaben überwiegen auch noch auf der Bronzetaufe im Dom (Nr. 9).

In der Entwicklung fortgeschrittener ist die Inschrift eines Vortragekreuzes aus dem 1. Viertel des 13. Jahrhunderts (Nr. 8), deren E und C bereits die Tendenz zum Abschluß aufweisen. Hier findet sich auch erstmalig pseudounziales A. Die beiden jüngeren Inschriften des Crispinus- und Crispinianusschreins entstanden vermutlich um die Mitte der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Während die nur fünf Buchstaben umfassende Inschrift (B 2) ausgeprägte Schmuckformen aufweist – stark ausgebauchte Bögen und in Zierstrichen auslaufende Sporen –, repräsentiert die Inschrift (C 2) einen schmucklosen Typus, für den ausschließlich unziales E verwandt wurde.

Alle weiteren gotischen Majuskelinschriften stammen aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Sie unterscheiden sich von den oben beschriebenen Inschriften durch völligen Abschluß der Buchstaben E und C, in einigen Fällen auch durch manieristische Schmuckelemente. Als ein frühes Beispiel einer solchen manieristischen gotischen Majuskel sind die Inschriften des Borgå-Kelchs (Nr. 11) anzusehen, der aus kunsthistorischen Gründen nicht allzu spät nach der Mitte des 13. Jahrhunderts datiert werden darf. Die Buchstaben zeigen starke Ausbuchtungen der Bögen, keilförmige Verdickungen und Zierstriche. Der Abschlußstrich bei E und C ist in einigen Fällen fester Bestandteil des Buchstabens geworden und weist dieselbe Dicke wie der Bogen auf, beide Buchstaben kommen aber auch in halboffener Form vor. Das O ist mandelförmig, die Basis des L dachartig geknickt mit einem Knoten an der Spitze.

Die bisher behandelten Stücke waren mit Ausnahme der Bronzetaufe Goldschmiedarbeiten. Außerhalb dieses Bereichs findet sich die früheste bekannte gotische Majuskel in Osnabrück auf einer Glocke (Nr. 10) aus dem Jahr 1266, deren Inschrift allerdings nur in einer Nachzeichnung überliefert ist. Soweit die Zeichnung Schlüsse auf das Schriftbild zuläßt, handelte es sich um den reichverzierten Typ mit völlig abgeschlossenen Buchstaben. Die erste überlieferte gotische Majuskel in Stein befindet sich am Altar der Marienkirche (Nr. 14), der wohl im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts errichtet wurde. Die eigenwillige Inschrift vereint ältere schlichte Buchstabenformen der gotischen Majuskel mit den manieristischen Buchstaben der Spätform. Da hier mit einer nachträglichen Überarbeitung zu rechnen ist, läßt sich nicht völlig sicher sagen, was auf den Künstler selbst zurückgeht. Bemerkenswert ist jedoch, daß dieser auf Formen der romanischen Zeit zurückgegriffen hat – so der ausgebuchtete Querbalken des H und die Zwischenräume zwischen den Bögen von B und R –, die erst in der frühhumanistischen Kapitalis wieder aufgenommen werden. Neben dieser Inschrift sind nur zwei weitere Beispiele gotischer Majuskel in Stein überliefert. Die eine befindet sich auf der ältesten erhaltenen Grabplatte aus dem Jahr 1354 (Nr. 18) in der Marienkirche, die andere auf einer Grabplatte von 1483 (Nr. 58) in St. Johann. Beide sind relativ schmucklos.

4.3 Gotische Minuskel

Die aus der Buchschrift stammende gotische Minuskel ist zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in die Epigraphik übernommen wird, bereits voll ausgebildet und macht danach keine wirkliche Entwicklung mehr durch. Varianten ergeben sich lediglich dadurch, daß die Schrift gitterartig zusammengerückt wird oder die Buchstaben durch Spatien getrennt sind, sowie dadurch, daß die Buchstaben zunächst in ein Zwei-Zeilen-Schema gepreßt werden und erst im Laufe der Zeit Ober- und Unterlängen bekommen. Die erste überlieferte gotische Minuskel in Osnabrück fällt in das Jahr 1366. Sie befindet sich auf einer Glocke in St. Johann (Nr. 20), die jedoch wegen Baufälligkeit des Turminnern nicht zugänglich ist. Aussagen über die Schriftform können daher nicht gemacht werden.

Möglich ist dies hingegen bei den Bauinschriften der Katharinenkirche1), die nur ungefähr auf die 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden können. Diese weisen kennzeichnende Merkmale einer erstmalig auftretenden gotischen Minuskel auf, insofern als hier die Gattung Bauinschrift, die Schrift-[Druckseite XXVII]-form gotische Minuskel und die Verwendung der Volkssprache ineinsfallen, eine Kombination, die häufiger auftritt2). Es ist beachtlich, in welchem Maße es der neuen Schriftform gelang, die gotische Majuskel zu verdrängen. Diese ist mit Ausnahme einer Grabplatte seit dem ersten Auftreten der gotischen Minuskel in Osnabrück nicht mehr überliefert. Bei den wenigen erhaltenen Grabplatten aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist allerdings mit einem Verlust an Inschriften in gotischer Majuskel aus dieser Zeit zu rechnen.

Die Bauinschriften der Katharinenkirche weisen kaum Ober- und Unterlängen auf, sie stehen zwischen zwei imaginären Linien. Die Buchstaben sind lang gestreckt, aber deutlich voneinander getrennt. Etwa zeitgleich mit den Inschriften der Katharinenkirche sind die Inschriften am Levitengestühl in St. Johann (Nr. 26). Da es sich hier um gemalte Inschriften handelt, ist die Verwandtschaft zur Buchschrift enger. So werden für die Anfänge der Schriftbänder bereits schön verzierte Versalien verwandt. Ober- und Unterlängen gehen über die Zeilenbegrenzung hinaus und sind durch Schmuckformen betont. Auch hier sind die Buchstaben durch Spatien voneinander getrennt. Für die Osnabrücker Steininschriften bleibt dies kennzeichnend. Die wenigen im Original überlieferten Grabsteine aus dem 15. und 16. Jahrhundert zeigen ausschließlich diese großzügige Schriftform. Die schwer lesbare gitterartige gotische Minuskel kommt in Osnabrück nur in Goldschmiedeinschriften und in der Tafelmalerei vor, hier treten auch Kürzungen und Ligaturen auf.

Unter den Osnabrücker Goldschmiedearbeiten weisen drei Stücke aus der Werkstatt des Johann Dalhoff2) um 1450 eine einheitliche Schriftform auf. Sie ist gekennzeichnet durch ein gitterartiges Schriftbild, durch r und e, die beide eine bis auf die Zeile heruntergezogene Cauda haben und daher kaum zu unterscheiden sind, durch ein mit einem Querstrich versehenes Rund-s sowie durch einen bis weit unter die Zeile gezogenen Abschlußstrich des h. Besonders hervorgehoben werden muß unter den Osnabrücker Goldschmiedearbeiten noch der Kelch des Engelbert Hofsleger (Nr. 51). Die Schriftbänder innerhalb der Reliefs sind mit bloßem Auge nicht zu lesen, unter Zuhilfenahme einer Lupe erweisen sich die Inschriften jedoch als sauber ausgeführte gotische Minuskeln mit korrekten Kürzungen. Insgesamt macht ein Vergleich der Goldschmiedearbeiten mit den Inschriften in Stein deutlich, wie sehr das Material Metall eine kunstvollere Buchstabenform förderte. Dies gilt wohl auch für die Glockeninschriften, läßt sich jedoch aus Mangel an Originalen in Osnabrück nur an einem Beispiel verifizieren, das aber als repräsentativ für mindestens drei weitere Glocken gelten kann: an der „Regina“ des Gerhard de Wou (Nr. 61), gegossen 1485/86 zusammen mit drei anderen Glocken3). Die Inschrift der „Regina“ weist sehr sorgfältig gestaltete Zierelemente auf.

Der Mittelstrich des a gabelt sich bereits vom Ansatz an nach oben und unten, die Hasten von t, f und g haben Begleitstriche, die Cauda des r verläuft ebenfalls als Begleitstrich, den Buchstaben sind Schnörkel aufgesetzt. Aus den genannten Beispielen geht hervor, daß die Unterschiede in der Gestaltung der gotischen Minuskel mehr vom Material und vom Künstler abhängen als von einer zeitlichen Entwicklung.

4.4 Kapitalis

Die Kapitalis setzt in Osnabrück wie auch anderswo mit dem 16. Jahrhundert ein, zunächst in Form der frühhumanistischen Kapitalis, die noch Anklänge an die gotische Majuskel zeigt. Für Osnabrück sind zwei Beispiele aus dem 2. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts überliefert, drei Schranktüren mit Inschriften aus dem Rathaus (Nr. 92) und das Snetlage-Retabel aus dem Dom (Nr. 95). Kennzeichen dieser Schrift sind epsilonförmiges E und retrogrades N, die neben kapitalen Formen stehen. A kommt mit breitem Deckbalken und verschlungenem Mittelstrich vor, auf einer der Schranktüren sind alle I mit einem kurzen Querstrich versehen. Eine weitere Inschrift in frühhumanistischer Kapitalis befindet sich an dem Gestühl des Friedenssaals im Rathaus (Nr. 106) aus dem Jahr 1554. Zu dieser Zeit war jedoch die Verwendung der Renaissance-Kapitalis bereits geläufiger. Ein frühes Beispiel der Renaissance-Kapitalis in Osnabrück sind die Sockelinschriften der Pfeilerfiguren im Dom (Nr. 99) aus der Zeit um 1525. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine reine Kapitalis, einzelne Formen erinnern an die frühhumanistische Kapitalis, so das H mit ausgebuchtetem Querstrich, und an unziale Formen, so die geschwungene Mittelhaste des N. M kommt hier mit schrägen wie auch mit geraden Außenhasten vor.

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Es läßt sich nicht genau feststellen, zu welchem Zeitpunkt sich die Kapitalis in Osnabrück durchsetzte, da eine große Anzahl von Grabdenkmälern aus der 2. Hälfte des 16. ebenso wie aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts verloren sind. Die wenigen überlieferten Originale zeigen, daß hier von einem erheblichen Anteil an Kapitalis ausgegangen werden kann. Sicher datierte Inschriften in Renaissance-Kapitalis stammen aus den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts4). Sie zeigen kreisrundes O und eine entsprechend breite Gestaltung der anderen Buchstaben. M kommt in leicht konischer Form wie auch mit geraden Außenhasten vor, die Mittelhasten enden auf halber Höhe. Bis auf die Zeile heruntergezogene Mittelhasten sind erst aus der Mitte des 17. Jahrhunderts überliefert (Nr. 302). In der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts erscheint neben der breiten Kapitalis auch eine schmalere Form (Nr. 199, 245). Charakteristisch für diese elegante Schriftform ist sehr spitz zulaufendes V sowie eine leichte Rechtsgeneigtheit aller Buchstaben. Ligaturen kommen in der Kapitalis häufig vor, vor allem AE erscheint nahezu regelmäßig als Ligatur.

Als sehr repräsentative Schrift wird die Renaissance-Kapitalis besonders für die Grabdenkmäler des hohen Klerus Verwendung gefunden haben. Dies läßt sich jedoch aufgrund des großen Verlustes an Originalen nicht verifizieren. Hier wie auch bei anderen Inschriftenträgern war die Kapitalis eng an die lateinische Sprache gebunden. Ganz deutlich wird dies bei den Hausinschriften, wo kapitale Buchstaben grundsätzlich lateinischen, zumeist metrischen Inschriften vorbehalten sind5), während für volkssprachige Inschriften Minuskelschriften verwandt werden.

4.5 Fraktur und humanistische Minuskel

In dem Göttinger Inschriftenband hat Werner Arnold auf das völlige Fehlen der humanistischen Minuskel in der Stadt Göttingen sowie auf das geringe Vorkommen von Fraktur in Göttingen und Umgebung bis zum Jahr 1650 hingewiesen und die vorläufige Hypothese einer schwächeren Verbreitung der Fraktur nördlich der Mainlinie aufgestellt6). Die aus dem Göttinger Inschriftenmaterial gewonnenen Ergebnisse lassen sich jedoch nicht auf Osnabrücker Verhältnisse übertragen.

Im Gegensatz zu Göttingen tritt in Osnabrück die humanistische Minuskel in 16 Inschriften auf. Als Monumentalschrift kommt die humanistische Minuskel in Süddeutschland außerhalb der humanistischen Bildungszentren6) relativ selten vor; sie wird auch in Osnabrück nicht so häufig verwendet worden sein wie die repräsentativere Kapitalis und die populärere Fraktur. Die Willkür der originalen Überlieferung verfälscht hier das Bild, da lediglich 9 Inschriften in Fraktur für Osnabrück überliefert sind. Anhand dieser Frakturinschriften läßt sich jedoch darauf schließen, daß noch weitere der nur noch in kopialer Überlieferung erhaltenen volkssprachigen Hausinschriften in Fraktur ausgeführt waren. Leider können die wenigen erhaltenen Hausinschriften keinen Aufschluß über das Zahlenverhältnis von gleichzeitig verwandter gotischer Minuskel und Fraktur geben. Es deutet jedoch einiges darauf hin, daß die gotische Minuskel im norddeutschen Raum noch im 16. Jahrhundert die vorherrschende Minuskelschrift blieb. Darauf verweisen auch Inschriften (Nr. 156, 216), die einzelne Merkmale der Fraktur zeigen, ihrem Gesamtcharakter nach jedoch der gotischen Minuskel zugeordnet werden müssen.

Daß die Fraktur als Steininschrift an den ausführenden Künstler besonders hohe Anforderungen stellte und daher allgemein seltener blieb als die Kapitalis, haben bereits Anneliese Seeliger-Zeiss7) und Renate Neumüllers-Klauser8) für den süddeutschen Raum konstatiert; dies läßt sich auf die Gebiete nördlich des Mains übertragen. Indessen ist die in Stein ausgeführte Fraktur in Osnabrück keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Bei der geringen Zahl überlieferter Grabdenkmäler aus dem bürgerlichen Bereich ist gerade hier mit einer erheblichen Verlustquote zu rechnen, da für die bürgerlichen Grabinschriften überwiegend die Volkssprache benutzt wurde und volkssprachige Texte bevorzugt in Fraktur ausgeführt wurden. Eine solche Verknüpfung besteht auch zwischen der humanistischen Minuskel und lateinischen Texten. Eine sprachliche Bindung der beiden Schriftarten läßt sich an dem Osnabrücker Material jedoch nur als Tendenz, keinesfalls als Regel feststellen9).

[Druckseite XXIX] Das eigentliche Problem, das die Osnabrücker Minuskelinschriften des 16. und 17. Jahrhunderts aufwerfen, wird deutlich bei dem Versuch, die original überlieferten Inschriften der Fraktur oder der humanistischen Minuskel zuzuweisen. Die meisten Inschriften entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung. Dies läßt sich besonders an den Grabinschriften demonstrieren10). Die von Kloos11) aufgestellten Kriterien für Fraktur, die von den süddeutschen Inschriftenbearbeitern weiterentwickelt wurden12), lassen sich auf die Osnabrücker Inschriften nur bedingt anwenden. Im Vergleich zu den süddeutschen Frakturinschriften ist die Osnabrücker Fraktur grundsätzlich schlichter und verzichtet – die Versalien ausgenommen, die auch hier recht aufwendig gestaltet sind – auf Zierelemente. Dies gilt mit wenigen Ausnahmen für alle Inschriften bis 1650. Lange Unterlängen von Schaft-s und f treten kaum auf, o ist eher gerundet als mandelförmig. Insgesamt ist der Schriftcharakter gerundet und breit. Die original überlieferten Osnabrücker Frakturinschriften weisen nur im Ausnahmefall (Nr. 180) eine gitterartige Struktur und deutliche Brechungen auf, wie dies bei den eng an die süddeutschen Schreibmeisterbücher angelehnten Frakturinschriften der Fall ist. Die Vorbilder für die in Osnabrück verwandte Fraktur muß man hingegen in den niederländischen Schreibmeisterbüchern suchen13). Beispiele für eine gerundete und breite Form finden sich in den Schreibmeisterbüchern von Van de Velde aus den Jahren 1605 und 160714). Auf die hier als Zierform verwandten „Elefantenrüssel“ wurde bei der Übertragung in die Epigraphik allerdings verzichtet. Eine Musterschrift, die den Osnabrücker Inschriften in ihrer Schmucklosigkeit sehr nahe kommt, findet sich in den „Exemplaren van Gheschriften“ von Boissens, entstanden um 161615). Es handelt sich um eine ausgesprochen breite Schrift mit ausgeprägten Rundungen, auch hierin den Inschriften sehr ähnlich. Diese Tendenz zur Rotunda impliziert, daß die Übergänge zur humanistischen Minuskel fließend werden, zumal auch diese Schriftform in Osnabrück bei streng angewandten Kriterien nur viermal16) vorkommt.

Es zeigt sich also, daß für die unter niederländischem Einfluß stehenden Frakturinschriften Osnabrücks – und dies dürfte allgemein für Nordwestdeutschland zutreffen – andere Maßstäbe für die Schriftbestimmung gelten, als die anhand des süddeutschen Materials aufgestellten Kriterien, die sich im übrigen auch für die süddeutschen Inschriften als problematisch erwiesen haben17). Die Schriftbestimmung als Fraktur oder humanistische Minuskel kann hier, von Idealfällen abgesehen, nur eine Tendenz angeben. Dabei erweisen sich die Rundungen oder Brechungen einer Schrift noch als tauglichstes Kriterium.

Zu untersuchen bleibt, ob die Vermutung Arnolds zutrifft, daß Fraktur in der Monumentalschrift Norddeutschlands grundsätzlich seltener ist als in der Monumentalschrift Süddeutschlands. In diese Richtung scheint zu deuten, daß sich unter dem reichen Lüneburger Inschriftenmaterial bis 1650 kaum Inschriften in Fraktur und in humanistischer Minuskel erhalten haben17). Würde sich dies auch an den Inschriften anderer Städte erweisen, dann müßte die Ausnahmestellung Osnabrücks erklärt werden. Zugleich bleibt auf einer breiteren Materialbasis – vor allem der Hausinschriften – das Verhältnis von gleichzeitig verwandter gotischer Minuskel und Fraktur in Norddeutschland zu untersuchen. Das Osnabrücker Material deutet darauf hin, daß die Fraktur in zwei Ausprägungen erscheint: in einer stark der gotischen Minuskel verhafteten Form und in einer durch die Rundung zur humanistischen Minuskel tendierenden Gestalt.

Zitationshinweis:

DI 26, Stadt Osnabrück, Einleitung, 4. Die Schriftformen (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di026g003e005.

  1. Nr. 23, 24, 25»
  2. Nr. 39, 41, 46. »
  3. Nr. 143, 153, 156»
  4. Von den bisher bearbeiteten Städten weisen Nürnberg (DI XIII) und Heidelberg (DI XII) die meisten Inschriften in humanistischer Minuskel auf. »
  5. DI XX (Karlsruhe), S. XXX. »
  6. DI XXII (Enzkreis), S. XXVII »
  7. Vgl. die in humanistischer Minuskel ausgeführten Inschriften Nr. 286 und 311, sowie den lateinischen Text in Fraktur Nr. 200. »
  8. Vgl. Nr. 160, 173, 200, 300»
  9. Kloos, Epigraphik, S. 143. »
  10. Dazu bes. Zahn, DI XIII (Nürnberg), S. XXIf. »
  11. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Alphabete gibt Peter Jessen, Meister der Schreibkunst aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1923. »
  12. Ebd., Taf. 28 u. 33. »
  13. Ebd., Taf. 36. »
  14. Nr. 132, 137, 202, 273»