Inschriftenkatalog: Odenwaldkreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 63: Odenwaldkreis (2005)

Nr. 255 Burg Breuberg, Johann-Casimir-Bau 1614

Beschreibung

Namensbeischriften auf dem Stuckfries und der Stuckdecke des Rittersaals. Der mit einem Wappen geschmückte Eingang befindet sich in der Nordecke der Nordostwand des Saals, so daß der Fries hier unterbrochen wird. Dem Uhrzeigersinn folgend erscheint auf der Wand zunächst die Gestalt der Venus (A), die auf einem von zwei Vögeln gezogenen Wagen liegt. Auf ihrem Schoß sitzt ihr Sohn Amor, der die Mutter mit einem seiner Pfeile verletzt. Auf der Nordostwand folgt der unbezeichnete Sonnengott Phoebus Apollo auf einem von vier Pferden gezogenen Wagen. Anschließend ist der auf einem wiederum von Vögeln gezogenen Wagen sitzende Götterbote Merkur (B) dargestellt. Auf der Nordwestwand unterbrechen zwei mit Beschlagwerk verzierte Inschriftenkartuschen (G), deren Texte auf die Wappenreihe der Decke Bezug nehmen, den Götterfries. In der Westecke ist eine einzige, unbezeichnete Darstellung vorhanden, die nicht eindeutig zu identifizieren ist. Ein bärtiger Mann saugt an der Brust einer neben ihm sitzenden jungen Frau.1) Die nächste Gottheit auf der Südwestwand ist Kybele (C), die Mutter Erde, die auf einem von Löwen gezogenen Wagen sitzt und in der rechten Hand eine Mauerkrone hält. Ihr folgt die Göttin Nemesis (D), die Rächerin böser Taten. Sie sitzt auf einem von Greifen gezogenen Wagen und hält in der rechten Hand ein Schwert und in der linken eine Waage. Den Abschluß dieser Wand bildet Saturn (E) in der Gleichsetzung mit dem Oberhaupt der Titanen, Kronos. Er sitzt auf einem von Drachen gezogenen Wagen und hält in der rechten Hand die Sichel, mit der er seinen Vater Uranos entmannte. Vor ihm kniet ein flehendes Kind als Anspielung auf die Sage, daß Kronos seine Kinder fraß, weil er fürchtete, von ihnen abgesetzt zu werden. Auf der Südostwand sieht man die nicht bezeichnete Göttin der Jagd, Diana, die mit Pfeil und Bogen ausgestattet auf einem von zwei ebenfalls mit Pfeil und Bogen bewaffneten Jungfrauen gezogenen Wagen sitzt, dann den auf einem von zwei Adlern gezogenen Wagen sitzenden Juppiter (F), der in beiden Händen Blitze hält, und schließlich drei nicht bezeichnete Grazien. Zu den beiden Inschriftentafeln auf der Nordwestwand (G) gehören 16 Wappenkartuschen mit je zwei Vollwappen, die auf der Decke hintereinander von Nordwesten nach Südosten angeordnet sind. Unter jedem Wappen ist der Name des Wappenführers angegeben (W). Für den Betrachter befindet sich wie üblich bei Inschrift (G) der Text für die Ahnenreihe des Vaters heraldisch rechts und der für die Ahnenreihe der Mutter links. Die Wappen der Decke sind jedoch mit der Helmzier zu der Inschrift ausgerichtet, so daß, wenn man die Wappen vom Schild in Richtung der Helmzier betrachtet, um auch die Beischriften lesen zu können, die Ahnenreihe der Mutter rechts und die des Vaters links zu stehen scheint. Die Ahnenreihe wird auf beiden Seiten von je drei großen Medaillons flankiert. Sie zeigen von Nordwesten nach Südosten auf der Nordostseite Venus, den Sturz des Phaeton und die dem Seeungeheuer ausgelieferte Andromeda. Die Südwestseite zeigt den Sturz des Ikarus, Venus und Amor sowie Ixion, der Juno verführen wollte und von Juppiter mit einer Wolke getäuscht wurde, welche die Gestalt der Juno hatte. Die Medaillons werden von allegorischen Frauengestalten begleitet. Auf der Nordostseite sind, wieder von Nordwesten nach Südosten, eine Frau mit Füllhorn und Judith mit dem Haupt des Holofernes dargestellt.2) Es folgen die fünf Sinne: eine Lautenspielerin (Gehör), eine Frau, die in einen Apfel beißt (Geschmack), eine sich im Spiegel betrachtende Frau (Sehen), eine an einer Blume riechende Frau (Geruch) und schließlich eine nackt auf einem Diwan liegende Frau, hinter der ein Satyr sitzt (Gefühl).3) Auf der Südwestseite sind die drei christlichen Tugenden und die vier Kardinaltugenden zu sehen. Am Anfang stehen Spes (Hoffnung) und Fides (Glaube), es folgen Temperantia (Mäßigung) und Iustitia (Gerechtigkeit) und dann eine nicht sicher bestimmbare Gestalt, die nicht zu dem Kanon gehört (vielleicht die Demut).4) Ihr gegenüber steht die Caritas (Liebe), dann folgen Prudentia (Klugheit) und Fortitudo (Stärke).

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Rittereiser) [1/15]

  1. A

    VENVS

  2. B

    MERCVRIVS

  3. C

    KIBELE

  4. D

    NEMESIS

  5. E

    SATVRNVS

  6. F

    IVPITER

  7. G

    Die · 16 · Anichen / Vom Vatter // Die · 16 Anichen / Von der Mutter ·

  8. W
    ERPACH · · SOLLMS 
    REINGRAF · WIDT · 
    WERTHEIM · MECKELBURGa) 
    NEVWERBVRG  NASSAW 
    HAAG · HANAW 
    SARWERDEN DIETZ 
    EBERSTEIN STETIN 
    VERGI · HENGSTBERG 
    EPSTEIN · · REINGRAF 
    VLMb) · WITGENSTEIN 
    WINSPERG · NASSAW · 
    VINSTINGEN LECKABREDA 
    EVSSENBURG BRANDENBVRG 
    CASTRO · SAYN · 
    EPSTEIN BRAVNSCHWEIG  
    MEYLANDT · SAPHOYc) SOLMS · 
Wappen:
Erbach, Wild- und Rheingrafen, Wertheim, Neufchâtel, Fraunberg zum Haag, Mörs-Saarwerden, Eberstein, Vergy, Eppstein, Salm, Weinsberg, Finstingen, Isenburg-Büdingen, Castro,5) Eppstein, Mailand-Savoyen6); Solms, Wied, Mecklenburg, Nassau, Hanau-Münzenberg, Diez, Pommern-Stettin,7) Loen-Heinsberg,8) Wild- und Rheingrafen, Wittgenstein, Nassau, Polanen-Breda,9) Brandenburg, Sayn, Braunschweig, Solms.

Kommentar

Die Kapitalisbuchstaben zeigen Besonderheiten, die durch ihre erhabene Ausführung in Stuck bedingt sind. An den Enden der Schäfte, Balken und Bögen sind nur selten Ansätze von Sporen vorhanden wie sie etwa beim C in ERPACH (W) zu erkennen sind. Vielfach wird statt dessen die Strichstärke geändert, indem die Strichführung an den Schaft-, Balken- und Bogenenden nur auf einer Seite verbreitert wird. Der Abschluß ist somit zwar verbreitert, doch zeigt er weder eine Keilform noch den Ansatz eines Sporns.10)

Die Darstellungen auf der Decke wurden nach Vorlagen gestaltet, die zu einem Teil von dem Kupferstecher und Zeichner Hendrick Goltzius stammen.11) So wurden die Bildnisse von Phaeton, Ikarus und Ixion dem insgesamt vier Stiche umfassenden Zyklus „Die Himmelsstürmer“ entnommen, den Goltzius 1588 nach Vorlagen von Cornelis Cornelisz stach.12) Die Allegorien für das Gehör, den Geschmack, das Sehen und den Geruch wurden von Goltzius wohl 1586 für einen Zyklus der fünf Sinne gezeichnet, der 1596 von Nicolaes Clock gestochen wurde.13) Für die „Judith“ diente ein Stich im Wappenbuch von Jost Amman als Vorlage.14) Die Vorlagen für die übrigen Darstellungen an der Decke konnten nicht ermittelt werden. Als ausführenden Künstler vermutet Becher den Stukkateur Eberhard Fischer.15)

Der sogenannte Johann-Casimir-Bau wurde 1614 fertiggestellt,16) doch glaubt Becher, die Ausschmückung sei erst in den Jahren 1618 bis 1620 ausgeführt worden. Einen Beleg dafür sieht er in dem „Programm“ der Decke, da die Darstellungen Phaetons, Ikarus‘ und Ixions vor Selbstüberschätzung und jähem Sturz warnen.17) Diese Aussage sei erst nach dem Loskauf von Georg Albrecht (Nr. 300), dem jüngeren Bruder Johann Casimirs, aus der Gefangenschaft bei Piraten im Jahr 1617 und nach der 1618 erfolgten verhängnisvollen Krönung Kurfürst Friedrichs V. von der Pfalz zum König von Böhmen denkbar. Die mehrfache Darstellung der Venus ergebe sich aus der 1619 getroffenen Vereinbarung Johann Casimirs mit Georg Albrecht, in den nächsten fünf Jahren jeweils nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des anderen zu heiraten. Die Venus verbildliche aber den Wunsch Johann Casimirs nach einer Ehe.18)

Unerklärt bleibt bei diesem Interpretationsversuch allerdings die Frage, warum Johann Casimir den wichtigsten Repräsentationsraum in dem neuen Bau über vier Jahre ohne Ausschmückung gelassen haben soll. Zudem trat Johann Casimir bereits im Herbst 1617 wohl aus Geldmangel in die Dienste des Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach und war auch in den folgenden Jahren ständig in den Diensten verschiedener Fürsten,19) so daß die Zeit nach 1617 für die Ausgestaltung des Saales auf dem Breuberg kaum in Betracht kommt. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß unmittelbar nach der Fertigstellung des Gebäudes mit den Stuckarbeiten begonnen wurde. Der repräsentative Charakter des Raums wird vor allem durch die Wappenreihe betont. Sie sollte den unter ihr speisenden Gästen die ehrwürdige Ahnenreihe Johann Casimirs vor Augen führen, an deren unterem Ende auf der Südostwand sich wohl nicht zufällig Juppiter befindet. Die Darstellung der Venus, der Göttin der Liebe, die ja auch die Lebenslust verkörpert, ist in einem Bankettsaal sicher nicht besonders auffällig. Die übrigen Darstellungen erscheinen als eine Art Fürstenspiegel. Die Tugenden sind die Richtschnur menschlichen Lebens. Auch in den Einträgen des „Liber amicitiae“ Johann Casimirs, in dem sich seine Studienkollegen aus Straßburg mit ihren Devisen verewigten, spielt die Bedeutung der Tugend für eine gute Lebensführung eine besondere Rolle.20) Ikarus und Ixion versinnbildlichen das negative Gegenbild zu einem von den Tugenden geprägten Leben. Auf der anderen Seite stehen die fünf Sinne als eine weitere Grundbedingung menschlichen Lebens. Ihre richtige Anwendung führt zu Lebensfreude, ihr Mißbrauch zum Sturz. Da die Konzeption der Decke vermutlich von Johann Casimir selbst stammt, zeigt sie ihn als Vertreter des gebildeten und kunstinteressierten Adels.21) Auch die Inschrift seines Epitaphs (Nr. 279) lobt seine Bildung in den Künsten und Sprachen.

Textkritischer Apparat

  1. Das G ist aus Platzmangel außerhalb der Schriftleiste über das R gestellt worden.
  2. So irrtümlich statt SALM. Das Wappen ist hingegen korrekt: zwei Salme; Helmzier: gestulpter Hut, in den zwei gestürzte Salme beißen.
  3. Die letzten beiden Buchstaben sind aus Platzmangel nur halb so groß wie die übrigen Buchstaben.

Anmerkungen

  1. Becher 15 deutete den Mann zunächst als Dionysus, der von Ino, der Schwester seiner Mutter, gesäugt wurde; statt als Kind sei Dionysus in der vertrauteren Gestalt eines Erwachsenen dargestellt worden; später (ebd. 34) korrigierte Becher seine Aussage aufgrund einer fast identischen Abbildung im Kunstbüchlein von Jost Amman (gedruckt in Frankfurt 1580), die den Athener Bürger Cimon zeigt, der durch seine Tochter Pero vor dem Hungertod gerettet wird, indem sie ihn säugt. In dieser Deutung paßt die Darstellung allerdings kaum in einen Götterzyklus, während man Dionysius hier durchaus erwarten kann, zumal der Saal für Bankette genutzt wurde.
  2. Eine ähnliche Darstellung einer Frau mit Füllhorn erscheint bei Goltzius als Allegorie der Erde, vgl. The Illustrated Bartsch III, Taf. 301; möglich ist auch eine Deutung als Pax (Friede) oder als Diligentia (Umsicht); Becher 33 deutet die Frau mit dem Füllhorn als Freigebigkeit und Judith als Verkörperung der Kühnheit; es ist aber die Frage, ob hier nicht Krieg und Frieden gegenübergestellt wurden.
  3. Diese Darstellung wird von Becher 33 als Keuschheit interpretiert.
  4. Becher 33 schlägt als Deutung „Gefühl“ vor.
  5. Vgl. dazu Wolfert, Ahnenwappen 45; Drös, Heidelberger Wappenbuch 124, Nr. 217.
  6. Wappen und Beischrift stehen fälschlich statt Miolans de Savoy; die dem Ersteller der Ahnenreihe offenbar unbekannte Familie wurde zu Mailand-Savoyen verändert und ein entsprechendes Wappenbild gewählt, vgl. dazu Wolfert, Burgundische Ahnen 75 – 80 und 82 – 84, Wolfert, Ahnenwappen 50 sowie Drös, Heidelberger Wappenbuch 125, Nr. 219; dasselbe Wappen befindet sich schon am Epitaph für Georg III. von Erbach, vgl. Nr. 250, Anm. 12.
  7. Ein Greif; Helmzier: ein Pfauenstoß über der Helmkrone.
  8. Quadriert: 1/4. ein gekrönter Löwe; 2/3. gespalten, rechts fünfmal geteilt, links zwei aufgerichtete Fische, begleitet von 6 Kreuzchen; Helmzier: 2 Eselsohren über der Helmkrone.
  9. Gespalten: vorn Polanen/Leck (drei liegende Monde), hinten Breda (drei Schragen).
  10. Vgl. zu serifenlosen Schriften im 16. und 17. Jahrhundert Bollwage, Serifenlose Linearschriften 212 f.
  11. Vgl. bereits Becher 18 mit Abb. 18 – 20; Goltzius wurde 1558 in Mühlbracht (heute Bracht, Niederrhein) geboren, wuchs in Duisburg auf, lernte bei Coornhert in Xanten, mit dem er 1576/77 nach Haarlem ging, wo er sich als Stecher einen Namen machte und bald eine blühende eigene Werkstatt betrieb. 1590/91 reiste er nach Italien. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre war die Kupferstichdruckerei von Goltzius so bekannt, daß er seine Stiche in Amsterdam, Frankfurt, London, Paris, Rom und Venedig in Kommission gab. Goltzius starb am 2. Januar 1617 in Haarlem; zu seiner Biographie vgl. Reznicek, Zeichnungen 47 ff.
  12. Vgl. The Illustrated Bartsch III, Kommentarband 290, Nr. 258 und Tafelband Taf. 225 – 227.
  13. Vgl. Reznicek, Zeichnungen K. 172, K. 174 und K. 177, 308 f. und 311 mit Abb. Taf. 61 – 63; alle fünf Sinne sind abgebildet bei The Illustrated Bartsch III Taf. 358 – 362; bei dem „Gesicht“ wurde die Vorlage hinsichtlich der Kleidung und der Frisur leicht verändert.
  14. Vgl. Becher 33 f. mit Abb. 25.
  15. Becher 23 – 25.
  16. Am 30. April 1614 mahnte der Keller auf Burg Breuberg, Peter Hag, die Zahlung der Baukosten an, vgl. Wolf, Stammbuch 188 und Nr. 253.
  17. Diese Mahnung wird auf den Stichen durch jeweils zwei beigefügte lateinische Distichen verdeutlicht, die aber für die Deckengestaltung nicht übernommen wurden; zu den Texten vgl. die Abb. bei The Illustrated Bartsch III Taf. 225 – 227 und die Texte bei Becher 37.
  18. Becher 27 – 30.
  19. Wolf, Stammbuch 189 f.
  20. Vgl. Wolf, Stammbuch 174 und 177 ff.
  21. Zur Person Johann Casimirs vgl. Wolf, Stammbuch 173 f. und 187 – 190 sowie Nr. 279.

Nachweise

  1. Schaefer, Kdm. 34 mit Abb.
  2. Bronner, Odenwaldburgen I 36.
  3. Becher, Bilder der Stuckdecke Abb. 1 – 13.
  4. Wolfert, Ahnenwappen Abb.

Zitierhinweis:
DI 63, Odenwaldkreis, Nr. 255 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di063mz09k0025500.