Inschriftenkatalog: Stadt Minden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 46: Stadt Minden (1997)

Nr. 21 Mindener Museum 13. Jh.

Beschreibung

Gravierte Bronzeschale, sogenannte Hanseschale. Die Schale wurde im Jahr 1964 bei Ausgrabungen auf dem Grundstück Bäckerstr. 31/33 gefunden. Im Mittelpunkt der gravierten Schale, die in den äußeren Bereichen erhebliche Fehlstellen aufweist, steht die Figur der Superbia; sie trägt eine Krone und einen Schild und ist auf dem Boden sitzend mit hochgezogenen Knien dargestellt. Um die Figur herum verteilen sich vier Buchstaben einer Namensbeischrift (A). Im Kreis um die Darstellung verläuft die Inschrift B, die oben und unten von einem Tauband begleitet wird. Um die Figur der Superbia sind fünf Laster in Form ebenfalls bekrönter Büsten mit Schild angeordnet, die mit Namensbeischriften versehen sind. Die Buchstaben stehen um die Figuren herum: Libido (C), Idolatria (D), Invidia (E), Ira (F) und Luxuria (G). Da die Schale in diesem Bereich zahlreiche Fehlstellen aufweist, sind auch Teile der Inschriften ausgefallen. Über den Büsten Palmettenornamente, in die jeweils zweizeilig Buchstabengruppen eingefügt sind, durch die fünfzehn weitere Laster bezeichnet werden sollen (H). Auch diese Inschriften sind durch Fehlstellen beeinträchtigt. Die Buchstabengröße differiert auch innerhalb einzelner Beischriften erheblich. Die Buchstaben sind in einer teilweise konturierten Schrift eingraviert.

Maße: H.: 5 cm; Dm.: 28,1 cm; Bu.: 0,4–1,1 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

  1. A

    SV(P)E(R)B(IA)

  2. B

    + HAC R(A)DICE MALA NASCITVR OMNE MANALVa)1)

  3. C

    LIBIDIOb)

  4. D

    IDOLA[T]RI(A)

  5. E

    INVI[DIA]

  6. F

    [IR]Ac)

  7. G

    LV[X]VRIA

  8. H

    CO/AT L[.]/TAd) VA/NA DE/SR MA/IC MD/CA EB/ET E[.]/[..]e) [.]R/AV EM/AT EN/TE AM/BT SVS/[..]f) DO/LMI CE/AT

Übersetzung:

Der Hochmut. (A)

Aus dieser schlimmen Wurzel entsteht jedes Laster. (B)

Die Begierde. Der Götzendienst. Der Neid. Der Zorn. Die Unzucht. (C–G)

Versmaß: Ein Pentameter (B).

Kommentar

Die Buchstaben sind – wie auf den anderen Bronzeschalen auch – in einer teilweise konturierten Schrift ausgeführt, wobei die Bogenschwellungen durchgängig eine gerade Innenkontur aufweisen, die häufig durch eine Doppellinie hergestellt ist. Die Lesung der Inschriften wird dadurch erschwert, daß die O und die M identisch als Ovale mit links und rechts in das Oval eingestellten Doppelstrichen ausgeführt sind. Diesem Erscheinungsbild liegen offenbar Vorlagen zugrunde, in denen das M als geschlossener runder Buchstabe gestaltet war. Wenn man mit solchen Vorstufen für die Ausführung der Inschrift rechnet, kann die Schale kaum vor dem 13. Jahrhundert entstanden sein. Dafür spricht auch die durchgehende Verwendung von unzialem E. Neben den runden M treten auch kapitale Formen auf.

Die Mindener Bronzeschale gehört innerhalb der gravierten mittelalterlichen Bronzeschalen des 11.–13. Jahrhunderts zur Gruppe der Lasterschalen. Unter den zahlreichen überlieferten Stücken gravierter Bronzeschalen, die über Mitteleuropa verbreitet sind, machen die Tugend- und Lasterschalen die größte Zahl aus.2) Die große Menge erhaltener gravierter Bronzeschalen läßt auf eine Serienproduktion schließen, deren Ausgangspunkt sich jedoch bislang noch nicht eindeutig festmachen läßt. Trotz der serienmäßigen Herstellung gleicht kein Stück exakt dem anderen, und so kommt auch der Mindener Schale die Bedeutung eines Einzelstücks zu. Es läßt sich innerhalb der einzelnen Gruppen von Schalen beobachten, daß sich das Bild- und Inschriftenprogramm soweit verselbständigt, daß es mechanisch übernommen wird und dadurch eher ornamentalen Charakter bekommt. Deutlich wird dies an der gleichen Ausführung der Buchstaben O und M. Dieser Vorgang führt zu einer Entstellung der Inschriften, die dann – wie im Fall der Inschriften H auf der Mindener Schale – kaum mehr sinnvoll aufzulösen sind. Gemeint waren hier vermutlich folgende Laster:

COAT = ?, L[.]TA = Lascivitas?, VANA = Vanitas/Vanagloria, DESR = Desparatio, MAIC = Malitia, MDCA = Mendacitas, EBET = Ebrietas, E[.]I[.] = Edacitas?, [.]RAV = Fraus, EMAT = Emulatio, ENTE = ?, AMBT = Ambitio, SVS[..] = Suspicio, DOLMI = Idolatria?, CEAT = Cessatio.

Textkritischer Apparat

  1. MANALV] Fehler in der Ausführung. Lies: MALVM. Dieselbe Umschrift findet sich ohne Fehler auf einer Lasterschale in Tartu und einer in Italien gefundenen Lasterschale in Nürnberg (vgl. Weitzmann-Fiedler, wie Anm. 2, Nr. 80, S. 103f., u. Nr. 91, S. 107).
  2. Sic!
  3. Ergänzung entsprechend den Schalen in Tartu und Nürnberg (vgl. Anm. a).
  4. Die Lesung des T ist unsicher.
  5. Von dem ersten Buchstaben in der zweiten Zeile ist nur noch ein Schaft zu erkennen.
  6. Der Schaft, der von dem ersten Buchstaben in der zweiten Zeile noch vorhanden ist, könnte zu einem P gehört haben.

Anmerkungen

  1. Vgl. Radix malorum est omnium superbia (Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 9, S. 434, Nr. 40060). In dem Satz verbirgt sich auch eine Anspielung auf den Sündenfall, die in der ähnlichen Formel Ex malo malum (vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 7, S. 767, Nr. 36720) zum Ausdruck kommt.
  2. Katalog aller bekannter Schalen bei: Josepha Weitzmann-Fiedler, Romanische gravierte Bronzeschalen. Berlin 1981.

Nachweise

  1. Otto Kurt Laag, Die Mindener Superbia-Laster-Schale. In: MHB 46, 1974, S. 42–44.
  2. Josepha Weitzmann-Fiedler, Romanische gravierte Bronzeschalen. Berlin 1981, Nr. 93, S. 108 (A–G, Lesungen fehlerhaft), Abb. Tafel 112 u. 113.
  3. Ausgrabungen in Minden, S. 131f.

Zitierhinweis:
DI 46, Stadt Minden, Nr. 21 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di046d003k0002108.