Inschriftenkatalog: Stadt Minden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 46: Stadt Minden (1997)

Nr. 10† Dom 1158

Beschreibung

Bildteppich. Hermann von Lerbeck verzeichnet unter anderen Gegenständen aus dem Besitz des Domes magnam cortinam artificioso ingenio ac opere textili consummatam.1) Nach der Jüngeren Bischofschronik waren auf dem Teppich, der dort als der größte Teppich bezeichnet wird, den der Chronist jemals gesehen hat, biblische Szenen sowie zahlreiche Sentenzen und Dichterzitate ausgeführt.2) In den meisten Versionen der Mindener Bischofschronik ist im Zusammenhang der Erwähnung des Teppichs jeweils nur die auf der Außenkante um diesen herum verlaufende Inschrift A wiedergegeben.3) Lediglich die Jüngere Bischofschronik überliefert die Inschrift B ausdrücklich als Inschrift des Teppichs; bei Hermann von Lerbeck sind die beiden Verse ohne Zusammenhang an das Ende des Kapitels über Bischof Anno gesetzt (vgl. Kommentar).4)

Inschriften nach Hermann von Lerbeck und der Jüngeren Bischofschronik.

  1. A

    Qui legis hos flores virtutum collige moresPhilosophos sequere benefac vitiosa cavereParcius utaris verbis et honesta loquarisEt bibe raro meruma) quia turbant pocula verumNam non vinosus homo fit magis ingeniosusb)Sit tenuis victus cum potu parcus amictusc)

  2. B

    Bederic et Conegunt me dudum composueruntd)Pro spe coelestis regni Dominoque dederunt

Übersetzung:

Der du diese Blütenlese der Tugenden liest, pflücke (für dich) gute Sitten daraus: Folge den Philosophen, tue Gutes und meide das Laster. Gebrauche nicht so viele Worte, und rede nur Ehrenhaftes. Trink selten Wein, weil das Trinken die Wahrnehmungsfähigkeit trübt. Denn ein nicht dem Trunk ergebener Mensch sieht im Geist klarer. Speise und Trank seien bescheiden, die Kleidung schlicht. (A)

Bederic und Conegunt haben mich unlängst gestiftet und dem Herrn gegeben in der Hoffnung auf das Himmelreich. (B)

Versmaß: Zweisilbig gereimte leoninische Hexameter (A); zwei Hexameter mit Endreim, der erste einsilbig leoninisch gereimt (B).

Kommentar

Die Überlieferung der Inschriften A und B bei Hermann von Lerbeck und in der Jüngeren Bischofschronik sowie in den weiteren Exemplaren der Mindener Bischofschronik erlaubt einen Einblick in die Abhängigkeiten der Handschriften voneinander. Hermann von Lerbeck gibt im Zusammenhang der Erwähnung des Teppichs lediglich Inschrift A wieder; der letzte Hexameter fehlt bei ihm. Die Stifterinschrift B überliefert er – ohne weiteren Bezug zum Text – erst am Ende des Kapitels über Bischof Anno im Zusammenhang mit zwei Versen einer Grabschrift auf den Mindener Bischof.5) Ihm folgen zwei der späteren Mindener Bischofschroniken.6) In anderen Versionen der Bischofschronik fehlt Inschrift B ganz. Der Verfasser der Jüngeren Bischofschronik, Heinrich Tribbe, gibt Inschrift B ausdrücklich als Inschrift des Teppichs wieder und nennt zugleich als einziger das Jahr 1158 als Datum der Herstellung. Da er betont, den Teppich gesehen zu haben, und auch – abweichend von der gesamten übrigen chronikalischen Überlieferung – im selben Zusammenhang die Inschriften zweier Dorsale des Mindener Domes (Nr. 12 u. 13) wiedergibt, kommt seinen Angaben eine besondere Bedeutung zu. Schon Löffler7) hat in seiner Einleitung zu den Bischofschroniken konstatiert, daß die Bemerkungen Tribbes zu den Ausstattungsstücken des Domes auf eigener Anschauung beruhen und nicht – wie viele andere Teile der Chronik – aus anderen Quellen übernommen wurden. Allerdings erlaubt das „unglaubliche, die beabsichtigte Satire der Epistolae obscurorum virorum weit hinter sich lassende Latein“8) der Quelle keine allzu wörtlichen Rückschlüsse vom beschreibenden Text auf die Ausführung des Teppichs. Die betreffende Stelle bei Tribbe lautet: Cortinam insuper magnam valde omnes cortinas, quas vidi, magnitudine praecellentes, multas magistrorum et poetarum sententias et proverbia magistraliter insertas, materiam epistolae beati Pauli, videlicet sancti per fidem, principaliter intextam pro monasterii et chori decore anno Domini MCLVIII. factam.9) Über die Erwähnung der aus Sentenzen und Dichterworten bestehenden Inschriften hinaus, die nicht wiedergegeben werden, lassen sich der Beschreibung weitere Angaben zur Gestaltung des Teppichs entnehmen. Nimmt man Tribbe wörtlich, so handelte es sich bei dem Stück um einen Wirkteppich, vergleichbar etwa dem ebenfalls aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammenden Abrahamsteppich aus Halberstadt.10) Es ist allerdings zu fragen, inwieweit sich Tribbe mit den Textiltechniken auskannte und ob er in der Lage war, den zutreffenden lateinischen Begriff zu wählen. So könnte es sich etwa auch um einen Knüpfteppich entsprechend dem Quedlinburger Teppich aus dem Ende des 12. Jahrhunderts gehandelt haben, der die Hochzeit des Merkur mit der Philologie darstellt.11) Hermann von Lerbeck beschreibt das Stück sehr allgemein als cortinam opere textili consummatam. In den jüngeren niederdeutschen Bischofschroniken ist von stickwerke die Rede,12) was jedoch kaum auf Autopsie des Stücks zurückzuführen sein dürfte, sondern auf die Vorstellung der Chronisten von den gestickten Bildteppichen ihrer Zeit.

Abgesehen von der Technik können die Bildteppiche aus Halberstadt und Quedlinburg auch eine Vorstellung von der Bildgestaltung des Mindener Teppichs vermitteln. Auch hier dürfte es sich um ein Bildprogramm gehandelt haben, dessen figürliche Darstellungen durch Beischriften auf Schriftbändern und rahmenden Elementen kommentiert und lehrhaft (Tribbe: magistraliter) ausgedeutet wurden. Über die Art der Darstellung geben Hermann von Lerbeck und Tribbe Auskunft. Die betreffende Stelle bei Hermann von Lerbeck lautet etwas kryptisch: cuius materia est epistola sancti per fidem vicerunt regna13); die entsprechende Angabe bei Tribbe ist etwas deutlicher: materiam epistolae beati Pauli, videlicet sancti per fidem. Die niederdeutschen Exemplare der Bischofschronik folgen, soweit sie diese Passage übernehmen, der älteren Bischofschronik und bieten die Version welcher materia und sinn ist die Epistola Sancti p. fidem vicerunt regna.14) Die in der Jüngeren Bischofschronik enthaltene Quellenangabe zum Bildprogramm des Teppichs hat zu der falschen Annahme geführt, es habe sich bei den Bildinhalten um Darstellungen gehandelt, denen die Glaubenslehre der Paulusbriefe zugrundelag.15) Übersehen wurde dabei bisher, daß es sich bei den von Hermann von Lerbeck zitierten Worten per fidem vicerunt regna um ein Zitat aus dem – verschiedentlich auch Paulus zugeschriebenen – Hebräerbrief (Hebr. 11,33) handelt, das bei näherer Betrachtung sehr präzise Hinweise auf das Bildprogramm des Teppichs gibt. In dem entsprechenden Kapitel des Hebräerbriefs sind als Glaubenshelden des Alten Testaments mit den durch ihren Glauben bewirkten Handlungen und Ereignissen Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, Isaak, Jakob, Joseph, Moses und Rahab angeführt; Gideon, Barac, Samson, Jephtha, David und Samuel werden als weitere Glaubenshelden nur namentlich erwähnt. Einige oder alle der genannten Personen des Alten Testaments dürften Gegenstand des Bildprogramms auf dem Teppich gewesen sein.

Aus zahlreichen mittelalterlichen Quellen läßt sich entnehmen, daß die Wände in den romanischen Kirchenbauten mit großen Textilien geschmückt waren, von denen sich jedoch nur ein kleiner Teil erhalten hat. Aber auch die Erwähnung von Textilien und die Beschreibung ihrer Bildprogramme kann einen Eindruck von der Art der Motive vermitteln. Bereits Betty Kurth hat gemeinsame Merkmale herausgearbeitet, die der Konzeption der Teppiche aus dem 12. und 13. Jahrhundert zugrundeliegen. Sie nennt die zentrale Bedeutung der Allegorie, den Einfluß der spätantiken und scholastischen Literatur auf die gewählten Motive sowie den betont lehrhaften Zweck der Darstellungen. Vor allem verweist sie aber auf „die dominierende Bedeutung des zum Verständnis der Darstellungen unentbehrlichen Textes, dem in Benennungen, Schriftbändern und erläuternden Versen die wichtige Rolle zwischen der Phantasie des Künstlers und der Auffassung des Beschauers zufällt“.16) Diese Elemente spielten offensichtlich auch bei dem Mindener Teppich eine große Rolle. Auch wenn es unter den überlieferten Textilien des 12. und 13. Jahrhunderts kein weiteres Beispiel für die Verknüpfung biblischer Gestalten mit inschriftlich ausgeführten Schriftstellerzitaten und Sentenzen (magistrorum et poetarum sententias et proverbia) gibt, so ist es ohne weiteres denkbar, daß sich mit den alttestamentarischen Figuren die von Tribbe charakterisierten Texte verbinden ließen, die die biblischen Darstellungen als Beischriften im Sinne einer allgemeinen Tugendlehre ausdeuteten. In ähnlicher Weise geschieht dies auf dem Karls- und Philosophenteppich aus Halberstadt, der auf die Zeit um 1230/40 datiert wird.17) Allerdings sind es hier aus der Antike stammende Figuren, die allgemeine Lebensweisheiten vermitteln. Diese nach dem Vorbild der Disticha Catonis verfaßten Sentenzen bildeten als Schultexte eine Grundlage des mittelalterlichen Lateinunterrichts und gehörten damit zum gängigen Bildungsgut des 12. Jahrhunderts. Da sie vor allem auch der moralischen Unterweisung dienten, liegt eine Verknüpfung mit den Glaubenshelden des Alten Testaments als moralischen Vorbildern nahe. Auf ein solches Inschriftenprogramm bezogen relativiert sich der zunächst auffällige Kontrast zwischen den dargestellten Glaubenshelden und dem rein weltlichen Inhalt der als Umschrift um den Teppich ausgeführten Inschrift A. Möglicherweise faßte diese die Beischriften des Bildprogramms noch einmal als Essenz und allgemeine Lebensregel zusammen.

Den Mindener Quellen zufolge waren der Teppich, die beiden Dorsale (Nr. 12 u. 13) und weitere Stücke der Kirchenausstattung Stiftungen der Gräfin Oda von Blankenburg. Die Jüngere Bischofschronik, die Oda irrtümlich als Mutter des Bischofs Anno bezeichnet, gibt als Herstellungsdatum des Teppichs das Jahr 1158 an.18) Diese konkrete Jahresangabe kann sich eigentlich nur daraus erklären, daß sich ein entsprechendes Datum auf dem Teppich befunden hat, zumal die nekrologischen Quellen des Domes, die unter den Stiftungen Odas auch die magnam cortinam aufzählen, keine Jahreszahl enthalten, auf die der Chronist hätte zurückgreifen können.19) Nach den Ergebnissen Rasches, denen zufolge das Anniversarienverzeichnis mit letzten Einträgen in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts abgeschlossen wurde, ist die von Löffler20) vorgenommene Identifizierung der Stifterin mit einer in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachweisbaren Oda von Blankenburg nicht haltbar.21) Daher kommt dem in der Jüngeren Bischofschronik genannten Herstellungsdatum 1158 ein höherer Grad von Wahrscheinlichkeit zu, zumal der Name Oda in der Familie Blankenburg allgemein gebräuchlich gewesen sein kann und vielleicht auch im 12. Jahrhundert weibliche Mitglieder diesen Namen trugen, ohne daß sie in Urkunden genannt sind. Die Zuweisung des Textils an die Stifterin Oda von Blankenburg steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu den in der Inschrift B genannten Namen Bederic und Conegunt. Das Formular der Inschrift composuerunt – dederunt läßt nur den Schluß zu, daß es sich bei den Genannten um die Stifter des Teppichs gehandelt hat.22) Der Widerspruch ließe sich dadurch ausräumen, daß man Bederic und Conegunt als die ursprünglichen Stifter des Teppichs ansieht, der später in den Besitz Odas von Blankenburg kam und von dieser an den Mindener Dom geschenkt wurde. Leider lassen sich die Namen Bederic und Conegunt bisher weder in der Familie Blankenburg noch anderswo gemeinsam nachweisen. Problematisch bleibt allerdings, daß bereits in der Stifterinschrift B der geistliche Stiftungszweck angesprochen ist, der Teppich jedoch nicht allzu lange nach seiner Herstellung in den Besitz der Oda von Blankenburg gekommen sein kann.

Textkritischer Apparat

  1. merum] vinum Jüngere Bischofschronik. Die Version bei Hermann von Lerbeck bewahrt den zweisilbigen Reim.
  2. ingeniosus] So bei Hermann von Lerbeck, amictus Jüngere Bischofschronik, vermutlich Verlesung durch Augensprung, vgl. letzte Zeile.
  3. Der letzte Vers fehlt bei Hermann von Lerbeck. Die Handschriften StA Münster, Msc. VII, Nr. 2416, Nr. 2417 u. Nr. 2433 geben die letzten Verse in veränderter Reihenfolge wieder.
  4. composuerunt] composuere Hermann von Lerbeck.

Anmerkungen

  1. Hermann von Lerbeck, S. 57f.
  2. Jüngere Bischofschronik, S. 164.
  3. Ebd., in praedictae cortinae circumferentia infradicti versus inter se videntur. Die Angabe bei Hermann von Lerbeck, S. 58, lautet: in cuius circumferentia versus sequentes inveniuntur. Hermann von Lerbeck spricht die Vermutung aus, daß zwei Verse oben auf dem Teppich verlorengegangen seien. Warum er dies als Vermutung formuliert, bleibt unklar. Es dürfte sich bei dem fehlenden Text unter anderem um den letzten Vers der Inschrift A handeln, den Hermann von Lerbeck nicht überliefert. Offenbar war dieser Teil der Inschrift jedoch nicht völlig zerstört, da der Text in der Jüngeren Bischofschronik enthalten ist und diese keinen Hinweis auf eine Beschädigung der Inschrift gibt.
  4. Hermann von Lerbeck, S. 58.
  5. Vgl. Anhang 2. Da es sich nicht nachweisen läßt, daß das Distichon inschriftlich auf einem Grabdenkmal für den 1185 verstorbenen Bischof Anno ausgeführt war, ist die Grabschrift in dieser Edition nicht berücksichtigt.
  6. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2417, fol. 35v; Nr. 2433. fol. 19v.
  7. Löffler, Bischofschroniken, S. XLV.
  8. Ebd., S. XLVI.
  9. Jüngere Bischofschronik, S. 164.
  10. Betty Kurth, Die deutschen Bildteppiche des Mittelalters. Bd. 1, Wien 1926, S. 39–45.
  11. Ebd., S. 53–67.
  12. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2416, fol. 24r; Nr. 2417, fol. 35r.
  13. Hinter epistola ergänzt Löffler – offenbar nach der Jüngeren Bischofschronik – [Pauli]. Der Apparat weist aus, daß alle Handschriften wie auch Meibom an dieser Stelle die oben wiedergegebene Version tradieren. Warum Löffler die Emendation vornahm, bleibt unverständlich.
  14. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2416, fol. 24r; Nr. 2417, fol. 35r.
  15. Zuletzt Leonie von Wilckens, Textilien im Blickfeld des Braunschweiger Hofs. In: Kat. Heinrich der Löwe, Bd. 2, S. 292–300, hier S. 298f. Es gibt in den Quellen keinerlei Hinweis darauf, daß auf dem Mindener Teppich christliche und antike Gestalten nebeneinander dargestellt waren, wie Wilckens behauptet.
  16. Kurth (wie Anm. 10), S. 30.
  17. Johanna Fleming, Edgar Lehmann, Ernst Schubert, Dom und Domschatz zu Halberstadt. Leipzig 1990, S. 232–234.
  18. Jüngere Bischofschronik, S. 164.
  19. Rasche, Necrologien, S. 131f. (2. 7.). Der Text im ältesten Anniversarienverzeichnis des Domes lautet: Obiit Oda comitissa de Blankenburg, que contulit ecclesie curtinam magnam et duo dorsalia, argenteam imaginem beate virginis et crucem in altari stantem.
  20. Löffler, Bischofschroniken, S. 57, Anm. 4.
  21. Rasche, Necrologien, S. 38 u. 132f.
  22. Anders bei Wilckens (wie Anm. 15), S. 298. Hier irrtümlich Rederich.

Nachweise

  1. Hermann von Lerbeck, S. 58.
  2. Jüngere Bischofschronik, S. 164.
  3. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2416, fol. 24r (A).
  4. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2417, fol. 35r (A), fol. 35v (B).
  5. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2433, fol. 19r (A), fol. 19v (B).
  6. StA Münster, Msc. VII, Nr. 2436, fol. 71v (A).
  7. Meibom, Chronicon, S. 563.

Zitierhinweis:
DI 46, Stadt Minden, Nr. 10† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di046d003k0001005.