Inschriftenkatalog: Stadt Minden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 46: Stadt Minden (1997)

Nr. 8 Dom, Schatzkammer 2. H. 11. Jh.

Beschreibung

Kruzifix. Bronze mit Resten der ehemaligen Vergoldung. Die Christusfigur steht mit waagerecht ausgebreiteten Armen vor dem Kreuz, die Füße parallel auf einem Suppedaneum in Form eines geflügelten Drachens. Der Kopf ist leicht gesenkt, die Haare fallen auf die Schultern. Der Brustkorb und die Rippen sind plastisch herausgearbeitet. Das rautenförmig in Niello gemusterte, symmetrisch angeordnete Lendentuch ist in der Mitte geknotet und mit Gewandschlaufen und Falten an den Seiten gestaltet. An den breiten Kreuzbalken waren ursprünglich in gleichmäßigen Abständen kurze Metallstücke mit Nägeln befestigt, von denen heute noch fünf vorhanden sind. Die eingravierte Inschrift A steht versweise in zwei Zeilen auf dem Querbalken des Kreuzes ober- und unterhalb der Arme Christi. Auf dem kurzen oberen Balkenstück über dem Haupt Christi der Titulus B. Auf der Rückseite des Kreuzes links auf dem Querbalken die eingravierte Inschrift C, rechts D.

Maße: H.: 119 cm; B.: 97 cm; Bu.: 2–2,4 cm (A, B), 1,8–2 cm (C, D).

Schriftart(en): Kapitalis mit unzialem E und eckigem C.

Sabine Wehking [1/7]

  1. A

    + HOC REPARAT · CHR(ISTV)Sa) · DEVS · IN · LIGNO · CRVCIFIXVS /+ Q(VO)D · DESTRVXIT · ADA(M) DECEPTVS · IN · ARBORE · QVADAM

  2. B

    IE(SV)Sb) NAZAR/ENVS REX / IVDEORVM1)

  3. C

    IOB · DANIEL · NOEc) ·

  4. D

    PETRVS · AP(OSTO)L(V)S · IOHANNES · EV(ANGELISTA) · EVSTACHIVS M(ARTY)R

Übersetzung:

Christus, der am Holz gekreuzigte Gott, macht das wieder gut, was der am Baum fehlgeleitete Adam zerstört hat. (A)

Der Apostel Petrus, der Evangelist Johannes, der Märtyrer Eustachius. (D)

Versmaß: Zweisilbig gereimte leoninische Hexameter (A).

Kommentar

Die auf dem Kreuz angebrachten Inschriften nehmen aufgrund der mit großer Sorgfalt und Ausgewogenheit ausgeführten Buchstaben eine Sonderstellung unter den Inschriften ihrer Zeit ein, die einerseits eine Datierung des Kruzifixes nach epigraphischen Kriterien erschwert, andererseits jedoch eine Eingrenzung des von den verschiedenen kunsthistorischen Datierungsansätzen vorgegebenen großen Entstehungszeitraums von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts erlaubt. Hierfür ist es allerdings erforderlich, Vergleichsbeispiele aus einem geographisch sehr weit gesteckten Raum heranzuziehen, da es kaum Kapitalisinschriften aus dieser Zeit gibt, die denjenigen des Mindener Kreuzes ähneln. Die zur gleichen Zeit entstandenen Inschriften der Vorder- und Rückseite sind in derselben an klassischen Proportionen orientierten Kapitalis ausgeführt. Lediglich das neben kapitalem E auftretende unziale E, die eckigen C, X mit leicht geschwungenen Schräghasten, eingerolltes G und Z mit ebenfalls geschwungenen Balken weichen von dieser Schriftform ab, fügen sich aber in ihrer Gestaltung harmonisch in das Schriftbild ein. Die Inschriften sind in einer Konturschrift graviert. Die kapitalen Buchstaben weisen Linksschrägenverstärkungen der Hasten sowie Bogenverstärkungen auf, die bei den kreisrunden O und Q an der senkrechten Schattenachse gespiegelt sind. Hasten- und Bogenenden tragen Serifen. Die stachelförmige Cauda des R ist aufgeschwellt; der Mittelteil des M reicht unter die Buchstabenmitte. Naheliegend ist ein Vergleich der Kruzifix-Inschriften mit der Inschrift auf der Schmalseite des auf das zweite oder dritte Viertel des 11. Jahrhunderts datierten Mindener Petrischreins (Nr. 6), die ebenfalls vom Vorbild der klassischen Kapitalis bestimmt wird. Ähnliche Proportionen wie die der Inschriften am Mindener Kruzifix weist die aus dem Jahr 1058 stammende Weiheinschrift des Wormser Domes2) auf; vergleichbare Formen finden sich auch in den Säuleninschriften der Abteikirche Werden3), die vor 1081 entstanden sein müssen. Auch das Hildesheimer Material bietet mit den Grabinschriften für die Priester Gottschalk und Bodo Vergleichsbeispiele für noch stark an der klassischen Kapitalis orientierte Schriften aus dem 11. Jahrhundert.4) Demgegenüber zeigen die Inschriften des 12. Jahrhunderts eine bereits im 11. Jahrhundert einsetzende deutliche Abkehr von den Proportionen der klassischen Kapitalis sowie eine zunehmende Zahl von Unzialformen.5) Eine Datierung des Mindener Kreuzes auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts würde daher unter epigraphischen Gesichtspunkten bedeuten, daß man bei der Ausführung der Inschriften auf eine von der allgemeinen Schriftentwicklung bereits überholte, betont konservative Schriftform zurückgegriffen hätte.

Die nach schriftgeschichtlichen Indizien vorgenommene Datierung des Mindener Bronzekruzifixes auf die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts läßt sich mit Form und Inhalt der Inschrift A durchaus in Einklang bringen. Der leoninische Hexameter ist in dieser Zeit allgemein verbreitet; auch die zweisilbig gereimte Form ist im 11. Jahrhundert nachzuweisen.6) Dem von Eickermann7) für die Spätdatierung des Kruzifixes vorgebrachten Argument, die Reimformel ADAM – ARBORE QVADAM gehe auf einen Titulus in dem Totenrotel des hl. Bruno aus der Zeit um 1100 zurück und habe sich erst nach der Jahrhundertwende im deutschen Raum verbreitet, kommt wenig Beweiskraft zu. Es bedurfte sicherlich keines aus Frankreich stammenden Vorbilds, um eine von der Thematik und dem Wortmaterial her so naheliegende Reimformel zu verwenden.8) Die in der Inschrift formulierte Entsprechung zwischen Adam als dem alten, sündhaften Menschen und Christus als dem neuen Menschen sowie der Bezug zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Kreuz als dem Baum des Lebens gehörte durch das ganze Mittelalter hindurch zu den geläufigsten typologischen Vorstellungen. Ob die an das Kreuz montierten kurzen Metallstücke in Entsprechung zu Inschrift A die Astansätze des Lebensbaumes darstellen sollten, läßt sich nicht sicher entscheiden – auch wenn ein Bezug zu dem stilisierten Astkreuz der Hildesheimer Bernwardtür nahezuliegen scheint. Den Einfluß der Hildesheimer Bronzewerkstatt aus der Zeit um 1000 auf die Gestaltung des Mindener Bronzekruzifixes, der sich besonders in der Ähnlichkeit zwischen den Köpfen auf der Bronzetür und dem Kopf des Mindener Christus zeigt, hat bereits Wesenberg betont.9) Die verschiedenen von den Kunsthistorikern hergestellten Bezüge zu anderen Bronzekruzifixen der zweiten Hälfte des 11. und ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts10) und die stark differierenden Datierungsvorschläge von kunsthistorischer Seite sind ein Beleg für die Sonderstellung, die das Mindener Kreuz aufgrund seiner qualitätvollen Ausführung wie aufgrund seiner – nur mit dem Werdener Bronzekruzifix vergleichbaren – Größe einnimmt. Eine unter epigraphischen Gesichtspunkten vorgenommene Eingrenzung des Entstehungszeitraums auf die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts gewinnt durch die im Jahr 1071 vollzogene Domweihe zusätzlich an Wahrscheinlichkeit, da diese Anlaß zur Anschaffung neuer Ausstattungsstücke bot.

Fraglich war bisher die Bedeutung der auf der Rückseite des Kreuzes stehenden Namen. Der Vorschlag Luckhardts11), die Namen als Hinweise auf in dem Kreuz bewahrte Reliquien zu deuten, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil es für die alttestamentlichen Figuren Hiob, Daniel und Noah keine Reliquien geben kann und die Namen als Reliquienverzeichnis im Genitiv erscheinen müßten. Auch andere Erklärungsansätze wie die Anbringung der Inschrift zu Übungszwecken oder eine Zweitverwendung des Kreuzes scheiden aufgrund der qualitätvollen Ausführung der Buchstaben und der Übereinstimmung der Schrift mit derjenigen der Inschriften auf der Vorderseite aus. Es bleibt also nur noch die Annahme, daß die Namen bewußt ausgewählt und in typologischer Beziehung zum Kreuz gedacht waren. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß die Namen der alttestamentlichen Figuren auf dem linken Querbalken, die der neutestamentlichen Figuren und der Märtyrername auf dem rechten Querbalken stehen. Daß diese Verteilung planmäßig vorgenommen wurde, zeigt die Anordnung der Namen. Während auf der linken Seite große Zwischenräume zwischen den gleichmäßig auf den Kreuzarm verteilten Namen bestehen, reihen sich die mit Epitheta versehenen Namen auf der rechten Seite eng aneinander und füllen auch hier die ganze Breite des Kreuzbalkens aus; der Kreuzesstamm in der Mitte bleibt ausgespart. Hiob, Daniel und Noah treten als Präfigurationen der Leiden Christi und der Errettung der Seele zusammen in mittelalterlichen Bildprogrammen auf.12) Zugleich ist der Bezug der einzelnen Figuren zum Kreuz gegeben: Hiobs Leiden bilden den Antitypus zu den Leiden Christi; Daniel in der Löwengrube und die Jünglinge im Feuerofen werden der Auferstehung und dem Triumph Christi über das Böse gegenübergestellt; Noahs Verspottung wird als Präfiguration der Leiden Christi gedeutet, das Holz der Arche als Entsprechung zum Kreuzesholz. Ebenso wie die drei alttestamentlichen Gestalten stehen auch Petrus, Johannes Evangelista und Eustachius in enger Beziehung zum Kreuz: Petrus erlitt in der Nachfolge Christi den Kreuzestod; Johannes folgte Christus bis unter das Kreuz; Eustachius wurde auf einer Jagd durch die Vision des Gekreuzigten im Geweih eines Hirsches bekehrt. Betrachtet man die Namen als an dem Kreuzesstamm gespiegelt, so lassen sich typologische Bezüge zumindest zwischen den beiden äußeren Namenspaaren herstellen. Hiob und Eustachius hatten beide eine Reihe von Schicksalsschlägen hinzunehmen, ohne daß sie dabei ihren Glauben an Gott verloren. Der Prophet Daniel wird dem Apostel Johannes in vielen Propheten-Apostelprogrammen als typologische Entsprechung gegenübergestellt.13) Eine solche Konzeption der Inschriften auf der Rückseite des Kreuzes würde zugleich bedeuten, daß das Kruzifix ursprünglich von beiden Seiten sichtbar aufgestellt werden sollte und möglicherweise auch aufgestellt war, so daß die Inschriften beider Seiten gelesen werden konnten.

Textkritischer Apparat

  1. XPC. Das Sigma ist in eckiger Form gestaltet.
  2. IHS. Das H in IHS ist teilweise durch einen Nagel überdeckt. HIC Garg.
  3. NOE] Fehlt in Kat. Kunst und Kultur.

Anmerkungen

  1. Io. 19,19.
  2. DI 29 (Worms), Nr. 11.
  3. Kraus, Inschriften, Bd. 2, Nr. 631, u. Eickermann, Grabplatte Widukinds, S. 65 (Abb.).
  4. Vgl. Wilhelm Berges, Die älteren Hildesheimer Inschriften bis zum Tode Hezilos († 1079). Aus dem Nachlaß hg. v. Hans Jürgen Riekenberg (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil. Hist. Kl. III), Nr. 23, S. 148, u. Nr. 27, S. 155.
  5. Vgl. hierzu Fuchs, DI 29 (Worms), S. LVIIIf.
  6. Vgl. hierzu die Inschriften des auf die Zeit vor 1054 datierten kleinen Radleuchters in Hildesheim, die zum überwiegenden Teil aus zweisilbig gereimten Leoninern bestehen. Berges (wie Anm. 4), Nr. 20, S. 117–123.
  7. Eickermann, Grabschrift Widukinds, S. 60.
  8. Vgl. auch die von Eickermann als Beleg genannte Passage in der Untersuchung Lehmanns (Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter. 2. Aufl., Stuttgart 1963, S. 119f.). Lehmann belegt die Beliebtheit der Reimformel bei den mittelalterlichen Dichtern, „ die, wenn sie auf ‚Adam’ zu reimen hatten, stets Wendungen wie ‚arbore sub (oder ‚pro’ oder ‚de’) quadam’ gebrauchten“. Die Reimformel wurde bereits im 12. Jahrhundert parodiert (Lehmann, ebd.).
  9. Rudolf Wesenberg, Der Bronzekruzifixus des Mindener Doms. In: Westfalen 37, 1959, S. 57–69.
  10. Einen Überblick gibt der Artikel in Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 74, S. 364f.
  11. Kessemeier/Luckhardt, Dom und Domschatz, S. 16.
  12. LCI, Bd. 2, Sp. 414.
  13. Vgl. Wilhelm Molsdorf, Christliche Symbolik der mittelalterlichen Kunst. 2. Aufl. Leipzig 1926, S. 186–192, hier S. 189.

Nachweise

  1. Rudolf Wesenberg, Der Bronzekruzifixus des Mindener Doms. In: Westfalen 37, 1959, S. 57–69, hier S. 65 (A, B).
  2. Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 64, S. 364f., Abb. 109.
  3. Eickermann, Grabschrift Widukinds, S. 60 (A).
  4. Kessemeier/Luckhardt, Dom und Domschatz, S. 16 (A), Abb. S. 54f.
  5. Grimme, Bronzebildwerke, S. 73 (A, B).
  6. Garg, Domschatz, S. 24 (B), Abb. S. 25.

Zitierhinweis:
DI 46, Stadt Minden, Nr. 8 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di046d003k0000805.