Inschriftenkatalog: Mergentheim (Landkreis)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 54: Landkreis Mergentheim (2002)

Nr. 402 Wachbach (Stadt Bad Mergentheim), ev. Pfarrhaus 1611

Beschreibung

Bechersonnenuhr. Offenbar in Zweitverwendung zum Abendmahlskelch umfunktioniert, da eine (nachträglich angefertigte) Patene vorhanden ist. Messing, gegossen, getrieben und graviert. Flacher Sechspaßfuß mit aufgelegtem durchbrochenem Rankenmuster, kurzer Balusterschaft und hohe spitzkegelförmige Cuppa („Hofbecher“) mit verschweißter Naht. Außen an der Cuppa gravierte Renaissanceornamente, im Innern die gravierten Sonnenuhrskalen mit Inschriften: Unter dem Becherrand läuft – etwa auf drei Viertel des Umfangs – eine Jahreszeitenskala um. Sie ist doppelt belegt, da die Sonnenhöhen in der ersten Jahreshälfte zu denen der zweiten symmetrisch sind. Die Skala ist dementsprechend in sechs Monatsabschnitte (Dezember bis Mai bzw. Juni bis November), diese jeweils in 30 Tagessegmente eingeteilt. Über der Skala sind die Zehntagesschritte für die erste Jahreshälfte jeweils von links nach rechts aufsteigend mit den Ziffern 10, 20 und 30 bezeichnet, unterhalb der Skala für die zweite Jahreshälfte jeweils von rechts nach links aufsteigend.

Die Datumslinien am Ende eines jeden Monats (also bei dem Wert 30) sind senkrecht nach unten verlängert und markieren die Unterteilung des Jahres entsprechend dem Sonnenstand im Tierkreis: An den Monatsgrenzen sind jeweils rechts von den Datumslinien die Symbole der Tierkreiszeichen für die erste Jahreshälfte eingetragen (Steinbock, Wassermann, Fische, Widder, Stier, Zwillinge), links von den Datumslinien dagegen die Symbole für die zweite Jahreshälfte, demnach von rechts nach links rückläufig angeordnet (Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze). Die Abschnitte, die die Monate April bis November bezeichnen, sind zur zusätzlichen Unterteilung in der Mitte des Monats (bei dem Wert 15) mit einer senkrecht nach unten verlängerten Datumslinie versehen. Die mit den Tierkreiszeichen Widder und Waage bezeichnete Datumslinie (Frühlings- bzw. Herbstbeginn) ist ihrem Verlauf nach mit Inschrift (A) beschriftet. Die Datumslinien werden von quer verlaufenden gekrümmten Stundenlinien gekreuzt, mit deren Hilfe man die wahre Sonnenortszeit ablesen kann. Dazu muß der Becher auf eine horizontale Unterlage gestellt und so gedreht werden, daß der tiefste Punkt der Licht-Schatten-Grenze auf die aktuelle Datumslinie fällt. Da die erste zur zweiten Tageshälfte symmetrisch ist, sind die Stundenlinien doppelt belegt; an zwei der Datumslinien der Skala sind sie an den Schnittpunkten entsprechend doppelt mit arabischen Ziffern bezeichnet: an der ersten der beiden Datumslinien links von oben nach unten mit den Ziffern 7 bis 12 für die Vormittagsstunden und rechts von unten nach oben mit den Ziffern 1 bis 5 für die Nachmittagsstunden; an der zweiten der Datumslinien (Hochsommer) reichen die angetragenen Vormittagsstunden links absteigend von 5 bis 12, die Nachmittagsstunden rechts aufsteigend von 1 bis 7. Am linken und rechten Rand des Liniennetzes sind außerdem zwei senkrechte, an den Enden eingerollte Schriftbänder angebracht, auf denen ebenfalls in Höhe der Ansatzpunkte der Stundenlinien die Stundenwerte angetragen sind, teils in römischen, teils in arabischen Ziffern: links (B), rechts (C).

Unter dem Liniennetz, nahe am Grund der Cuppa, die Angabe des Geographischen Breitengrads, für den das Liniennetz des Bechers gültig ist, sowie das Herstellungsjahr (D). Links daneben befindet sich eine senkrechte Skala zur Messung der Sonnen- und Mondhöhe (für letztere ist ein heller Mond mit Schattenwurf erforderlich), mit Funktionsbezeichnung (E). Die Skala ist von oben nach unten in Fünferschritten in arabischen Ziffern von 5 bis 70 bezeichnet. Diese Skala ist in den tiefsten Punkt der Licht-Schatten-Grenze im Becher zu drehen. Die abzulesende Zahl gibt den Höhenwinkel (Höhe über dem Horizont) von Sonne bzw. Mond an. Weiter links ist eine weitere senkrechte Skala eingraviert mit der Funktionsbezeichnung (F). An ihr sind von unten nach oben in kleiner werdenden Abständen fünf mit den Ziffern 1 bis 5 gekennzeichnete Markierungen angetragen. Diese Skala dient der Höhenmessung von Gegenständen, sie ist eingeteilt nach der Winkelfunktion Tangens1.

Maße: H. 16,5, Dm. (Cuppa) 9,5, (Fuß) 10, (Patene) 11,7, Bu. 0,2–0,25, Zi. 0,1 cm.

Schriftart(en): Humanistische Minuskel (A, D, E, F), Fraktur (B, C).

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/4]

  1. A

    Aquinoctium

  2. B

    viii . iiii / ix . iii / x . ii / xi . i / xii

  3. C

    4 8 / v . vii / vi / vii . v / viii . iiii / ix . iii / x . ii / xi . i / xii

  4. D

    Ad Eleuot(ionem)a) po(li)b) / 48 G(radus) / 1611

  5. E

    Altitudo . . Solis , et . Lunae .

  6. F

    Altimetria .

Übersetzung:

Tag- und Nachtgleiche. – Für den 48. Breitengrad. – Sonnen- und Mondhöhe. – Höhenmessung.

Kommentar

Die Bechersonnenuhr ist für den 48. Grad Geographischer Breite konstruiert, der sich auf Reichsgebiet zwischen den Linien Metz–Weißenburg–Dinkelsbühl–Regensburg–Budweis im Norden und Colmar–Freiburg–Memmingen–München–Steyr–Wiener Neustadt im Süden erstreckt. Möglicherweise gelangte das Gerät als Beutegut während des 30jährigen Kriegs nach Wachbach, wo es dann zum Abendmahlskelch umfunktioniert wurde. Die vorliegende Uhr scheint der einschlägigen Fachliteratur nicht bekannt zu sein2.

Textkritischer Apparat

  1. So statt Eleuat(ionem).
  2. Kürzung durch Doppelpunkt.

Anmerkungen

  1. Zur Verwendung dieser Skala wird der Becher so gedreht, daß die Skala der Sonne genau gegenübersteht, der tiefste Punkt der Lichtgrenze im Becher also auf die Skala fällt. Je flacher die Sonne einfällt, desto größer ist der ablesbare Tangenswert. Dies bedeutet, daß nicht der Tangens des Höhenwinkels der Sonne direkt, sondern der Tangens des Ergänzungswinkels zu 90° eingetragen ist. Die Höhe eines Gegenstandes läßt sich errechnen, indem man dessen Schattenlänge durch den abgelesenen Wert auf der Tangensskala teilt. Diese sowie alle die Funktion der Bechersonnenuhr betreffenden Informationen verdanke ich der freundlichen Unterstützung von Herrn Konservator Dipl.-Ing. Gerhard Hartl, Deutsches Museum München. Auch an dieser Stelle nochmals herzlichen Dank!
  2. Zu Bechersonnenuhren vgl. Ernst Zinner, Deutsche und niederländische astronomische Instrumente des 11.–18. Jahrhunderts, München 21967, 107–109, 359, 362f., 432, 435, 473–475, Taf. 23, 30, 42; Ernst von Bassermann-Jordan, Alte Uhren und ihre Meister, Leipzig 1926, 72.

Zitierhinweis:
DI 54, Landkreis Mergentheim, Nr. 402 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di054h014k0040208.