Inschriftenkatalog: Mergentheim (Landkreis)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 54: Landkreis Mergentheim (2002)

Nr. 75 Creglingen, ev. Herrgottskapelle nach 1493, 1550, 1625, 1647

Beschreibung

Altarretabel. Marienaltar aus der Werkstatt Tilman Riemenschneiders; mitten im Langhaus. Schrein aus Föhrenholz, Bildwerke aus Lindenholz. Im Gesprenge ganz oben Schmerzensmann, darunter Marienkrönung mit Gottvater, Christus und zwei Engeln. Im Schrein die Himmelfahrt Mariae mit den zwölf Aposteln; auf den Flügelinnenseiten vier Reliefs mit Szenen aus dem Marienleben und der Kindheit Jesu. In der Predella drei Nischen mit Bildreliefs: in der Mitte ein von zwei Engeln gehaltener Vorhang, vor dem ursprünglich vielleicht eine Monstranz (mit der Wunderhostie?) aufgestellt war1; links die Anbetung durch die Hl. Drei Könige: der rechte im Vordergrund stehende König mit eingeschnitzter Gewandsauminschrift (A); in der rechten Nische der zwölfjährige Jesus im Tempel2. Ursprünglich monochrome Fassung mit farbiger Akzentuierung von Pupillen und Lippen. Die Anbetungsszene wurde bei einem Diebstahl im September 1919 beschädigt, das Jesuskind fehlte schon 18333. Auf den Rückseiten der vier Flügelreliefs sind – jetzt unzugänglich – mit Rötelkreide die Szenen der Vorderseiten benannt: links unten (B), links oben (C), rechts oben (D), rechts unten (E); diese Inschriften stammen aus der Entstehungszeit des Altars (Handschrift Riemenschneiders?); Inschrift (E) durch Aussägen eines Teils des Brettes verstümmelt4. An verschiedenen Stellen des Retabels konnten im Dezember 1977 durch die Restauratoren Alwin Beetz und Hermann Kühn (Berlin) Kritzelinschriften des 16. und 17. Jahrhunderts sowie zahlreiche Restaurierungsvermerke des 18. bis 20. Jahrhunderts (mit Bleistift und blauem Stift) nachgewiesen werden5. „Die Inschriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurden während der konservatorischen Maßnahmen im 19. Jahrhundert abgewaschen oder abgelaugt und können nur noch unter UV-Licht betrachtet werden“6: In allen drei Feldern der Rückwand dieselbe Jahreszahl (F), einmal zusammen mit einer „nicht zu identifizierenden Inschrift“7; im mittleren Feld der Rückwand 2zeilige Inschrift (G); ferner auf der Rückwand eine Jahreszahl (H) mit „mehrere(n) nicht zu identifizierende(n) Inschriften“8. Alle weiteren Notizen wurden erst nach 1650 angebracht und werden daher hier nicht berücksichtigt.

Inschriften (B) bis (E) nach Fotos im LDA Stuttgart; (F) bis (H) nach Simon.

Siehe Lageplan.

Maße: Bu. 0,8 cm (A).

Schriftart(en): Kapitalis (A), gotische Kursive (B–E).

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/6]

  1. A

    MELCHORa)

  2. B

    engliss grüsb)

  3. C

    die [b]esugü(n)gc) vbers gebirg

  4. D

    die gebürdt

  5. E

    die ọp̣f̣[. . . . . .]gd) j(n) de(m) [te]mppel

  6. F

    1550

  7. G

    Johann Georg von Creglingen Hertlein / Anno Christi 1625

  8. H

    1647

Kommentar

Das Relief mit der Darstellung der Anbetung durch die Hl. Drei Könige gehört wohl zu den Teilen des Altars, die Riemenschneider nicht eigenhändig ausgeführt hat. Als Vorlage für die Darstellung des Stalls und für etliche Details der Figuren in Haltung und Kleidung diente ein Stich Martin Schongauers9. An der Stelle des im Relief inschriftlich als Melchior gekennzeichneten Königs mit langem Bart steht in dem Stich jedoch der Mohrenkönig. Die Gewandsauminschrift fehlt in der Vorlage. Allerdings findet sich eine solche (keine sinnvolle Lesung ergebende) bei einer der Assistenzfiguren rechts im Hintergrund, die nicht in das Relief übernommen sind. Vielleicht gab diese die Anregung für die Namenbeischrift im Bildrelief 10.

Die untergeordnete Bedeutung der vereinzelten Gewandsauminschrift rechtfertigt in diesem Rahmen keine Auseinandersetzung mit den Fragen der genauen zeitlichen Einordnung und der ursprünglichen Bestimmung des Altars. Einer näheren zeitlichen Einordnung des Altars innerhalb des Gesamtwerks Riemenschneiders durch Stilkritik fehlen die methodischen Voraussetzungen. Sicherer terminus post quem ist das Erscheinungsjahr 1493 der Schedelschen Weltchronik, aus der ein Holzschnitt als Vorlage für das Verkündigungsrelief des Altars diente11. Daß der Altar von vornherein für den jetzigen Standort inmitten des Langhauses bestimmt war, war lange Zeit unbestritten12, kann aber durchaus nicht als gesichert gelten, da das Bildprogramm des Marienaltars nicht mit dem Thema der Fronleichnamsverehrung in Verbindung gebracht werden kann13. Nach Auffassung der Autoren, die in dem Altar dennoch einen Fronleichnamsaltar sehen wollen, soll in der mittleren Predellanische die geweihte Hostie ausgestellt gewesen sein, die der Legende nach am 9. August 1384 auf dem Feld aufgefunden worden war, die in der Folgezeit eine Reihe von Wundern bewirkt und dadurch eine Wallfahrt in Gang gebracht hatte, so daß an der Fundstelle ein Altar und eine Kapelle errichtet wurden14. Die Altarmensa dürfte noch die ursprüngliche sein.

1862 wurde erstmals auf eine angeblich in der rückseitigen Höhlung der zentralen Marienfigur des Retabels in Rötel aufgemalte Jahreszahl 1487 hingewiesen15, woraufhin die Entstehung des gesamten Altars zunächst früher angesetzt wurde16. Wenn sich dort tatsächlich jemals eine Jahreszahl befunden haben sollte, muß ihre Lesung falsch sein; bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war von dieser angeblichen Zahl nichts mehr zu erkennen17. Die kursiven Rötelinschriften auf den Rückseiten der geschnitzten Reliefs sind offenbar werkstattinterne Notizen. Dagegen läßt die nur bruchstückhafte Überlieferung der Kritzelinschriften des 16. und 17. Jahrhunderts keine Aussagen zu deren Funktion zu. Es dürfte sich aber eher – wie meist in vergleichbaren Fällen – um Verewigungen der genannten Personen handeln als um „Totengedächtnisse“18. Eintrag (G) könnte sich auf den 1669 verstorbenen Johann Hertlein „vulgo Schreinerhensle“ beziehen, der Schreiner und Herrgottstorwart in Creglingen war19 und demnach möglicherweise mit Schreinerarbeiten in der Kapelle betraut war.

Textkritischer Apparat

  1. Melchior Simon. Nexus litterarum von eckigem O und R (ohne Schaft und mit eckig gebrochenem Bogen), bei dem der den beiden Buchstaben gemeinsame Schaft fehlt.
  2. englisch grues Bauer.
  3. So für Besuchung = Heimsuchung.
  4. Lesung sehr unsicher; vielleicht opf[erun]g? Das Relief zeigt die Darstellung Jesu im Tempel.

Anmerkungen

  1. So Justus Bier, Tilman Riemenschneider. Die reifen Werke, Augsburg 1930, 73; zuletzt Hanswernfried Muth, Zur Ikonographie des Creglinger Altares von Tilman Riemenschneider, in: Mainfränk. Jb. f. Geschichte u. Kunst 45 (1993) 11–25, hier: 16, 22; ders., Herrgottskirche 9; Ehmer, Herrgottskapelle 150f. Auch Simon, Marienaltar 96 hält die Aufstellung einer Monstranz an dieser Stelle für wahrscheinlich, bezweifelt aber, daß es sich um die Hostienmonstranz gehandelt hat.
  2. Überzeugende Deutung des Bildprogramms als die Sieben Freuden Mariae durch Simon, Marienaltar 154–166.
  3. Nasse, Herrgottskirche 34; Simon, Marienaltar 63f. – Ausführliche Beschreibung des Retabels ebd. 43–57.
  4. Inschrift (B) zitiert von Hermann Bauer, Der Marienaltar in der Herrgottskirche bei Creglingen, in: Wirt. Franken 6 H. 2 (1863) 299–314, hier: 304 Anm. ***.
  5. Vgl. ebd. 59–61.
  6. Ebd. 61.
  7. Ebd. 59 nach dem masch. Manuskript der Restauratoren Beetz und Kühn in der Berliner Skulpturensammlung.
  8. Ebd. 60.
  9. Max Lehrs, Katalog der Kupferstiche Martin Schongauers, Wien 1925, nr. 6; Martin Schongauer. Das Kupferstichwerk. Katalog bearb. v. Tilman Falk u. Thomas Hirthe, Ausstellung zum 500. Todesjahr, Staatl. Graphische Sammlung München 11. Sept.–10. Nov. 1991, 46f. nr. 6; vgl. auch Schmidt, Marienaltar 12; Simon, Marienaltar 84f.
  10. Ansonsten finden sich im Werk Riemenschneiders relativ selten geschnitzte Gewandsauminschriften. Eine Ausnahme, bei der gleich vier Gewandsäume Beschriftungen aufweisen, stellt das Relief des linken Flügels des Rothenburger Heiligblutaltars (1501–04) mit der Darstellung des Einzugs in Jerusalem dar; vgl. DI 15 (Rothenburg o. d. Tauber) nr. 160; Max H. von Freeden, Tilman Riemenschneider. Leben und Werk, München Berlin 51981, Taf. 53.
  11. Vgl. Simon, Marienaltar 179. Zuletzt war der Altar meist – mit unzureichender Begründung – in die Jahre zwischen 1505 und 1510 datiert worden: vgl. etwa Nasse, Herrgottskirche 34; zuletzt Muth, Herrgottskirche 7; Julien Chapuis, Recognizing Riemenschneider, in: Tilman Riemenschneider. Master Sculptor of the Late Middle Ages, [hg. v.] Julien Chapuis, New Haven London 1999, 18–44, hier: 32.
  12. Justus Bier, Wo stand der Riemenschneider Altar?, in: Fränkische Heimat (1926) 334–337; gegen Hertlein, Marienaltar 125–128, der eine ursprüngliche Bestimmung für die Creglinger Pfarrkirche und eine zunächst nur provisorische Aufstellung in der Herrgottskapelle vermutete.
  13. So jüngst mit guten Gründen Simon, Marienaltar 20f., 96, 181 u. 185–187, der – anknüpfend an ältere Forschungen – wieder die Pfarrkirche St. Jakob in Rothenburg o. d. Tauber als möglichen ursprünglichen Standort zur Diskussion stellt.
  14. Vgl. zur Gründungsgeschichte u. a. Muth, Herrgottskirche 2 und berichtigend Ehmer, Herrgottskapelle 138f. Skeptisch zu Bedeutung und Ausmaß der Creglinger Wallfahrt äußert sich zuletzt mit einleuchtenden Argumenten Simon, Marienaltar 17f.
  15. B[un]z, Ueber den Marien-Altar in der Herrgotts-Kirche bei Creglingen, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit NF 9 (1862) Sp. 239f.: „mit Rothstift … eingezeichnet“.
  16. Vgl. u. a. Bauer, Marienaltar (wie Anm. 4) 302; OAB Mergentheim 494; Gelchsheimer, Herrgottskirche 17.
  17. Hertlein, Marienaltar 123: „… ohne Zweifel auch noch falsch gelesen; neuere Untersuchungen haben überhaupt nichts mehr gefunden“; vgl. ferner Eduard Tönnies, Leben und Werke des Würzburger Bildschnitzers Tilmann Riemenschneider 1468–1531 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 22), Straßburg 1900, 136f.
  18. So der Restaurierungsbericht von Beetz/Kühn (wie Anm. 7), zitiert nach Simon, Marienaltar 61. Zu den Kritzelinschriften vgl. Simon, Marienaltar 59–61; ferner Hanswernfried Muth/Toni Schneiders, Tilman Riemenschneider und seine Werke, Würzburg 1978, 91: „Inschriften des 18. Jahrhunderts“.
  19. Mägerlein 270.

Nachweise

  1. Die Literatur zu Riemenschneider und zum Creglinger Marienaltar ist kaum überschaubar. Die eingesehenen Monographien und Aufsätze gehen außer Bier, T. Riemenschneider. Die reifen Werke (wie Anm. 1) 71 Anm. 2 und Simon, Marienaltar 53 nicht auf die Inschrift(en) ein. Im Folgenden werden nur einige Werke angegeben, in denen Inschrift (A) abgebildet ist: R. Schmidt, Marienaltar, Abb. 40.
  2. Der Creglinger Altar des Tilman Riemenschneider, Aufnahmen v. Georg Schaffert, Text v. Karl Scheffler, Königstein im Taunus o. J., 37.
  3. Justus Bier, Tilmann Riemenschneider. His Life and Work, Lexington, Kentucky 1982, Taf. 33L.
  4. Ausführliche Bibliographie bei Simon, Marienaltar 191–196.
  5. LDA Stuttgart, Fotoarchiv, Neg. 10886a, b, c, d (Inschr. B–E).

Zitierhinweis:
DI 54, Landkreis Mergentheim, Nr. 75 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di054h014k0007501.