Inschriftenkatalog: Mainz

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DIO 1: Mainz (2011)

SN1, Nr. 15† Dom, Westchor, aus Halle, Stift Neuwerk 1146?

Beschreibung

Reliquienschrein mit den Reliquien des heiligen Alexander, seiner Mutter Felicitas1) und weiterer Heiliger. Der Schrein stand nach dem Zeugnis Bourdons im Westchor zwischen dem Hauptaltar und der eisernen Chorschranke, in der Mitte zweier ähnlich gestalteter Reliquiare und zusammen mit diesen auf einem auf vier Säulen ruhenden ehernen Podest.2) Erstmals fassbar in Mainz ist der Schrein in dem 1545 aufgestellten Inventar des Mainzer Domschatzes. Diesem zufolge muss es sich bei dem Schrein um ein Behältnis von recht großen Ausmaßen gehandelt haben, da in ihm angeblich der halbe Körper der heiligen Felicitas und der ganze Körper des heiligen Alexander einschließlich des Kopfes aufbewahrt wurden.3) Ursprünglich beherbergte dieser Schrein auch die Reliquien des heiligen Sergius4), des heiligen Pontianus5) und des heiligen Erculianus6). Dies geht aus einer dem Schrein beigefügten Pergamenturkunde hervor, die im Jahr 1146 von Propst Friedrich von Halle ausgestellt wurde.7) Auf einem weiteren mit einem Siegel verplombten Pergament8) wurden die Gebeine des heiligen Alexander, Sohn der Felicitas, authentisiert.9) Die Anordnung der Schreine vor dem Altar sah 1660 noch Daniel Papebroch auf seiner Heiltumsreise; eigentümlicherweise erwähnt er jedoch die Reliquien nicht.10) Nach Bourdons Beschreibung verliert sich die Spur des Schreins, der wohl mit vielen anderen Teilen des Mainzer Schatzes der Säkularisierung zum Opfer fiel.

Der gesamte Schrein war nach dem Zeugnis des hochmittelalterlichen Translationsberichts mit Schmelzarbeiten11) verziert und nach Bourdon mit vergoldeten Silberplatten12) verkleidet und mit einem edelsteinverzierten Satteldach bekrönt.13) Auf der Mitte des Dachs saßen zu beiden Seiten kreuzförmige Zwerchdächer.14) Auf den Längsseiten des Reliquiars befanden sich die Figuren der zwölf Apostel15), auf den Stirnseiten eine Maiestas Domini und eine Figur des heiligen Augustinus.16) Am unteren Rand des Schreins war eine Inschrift angebracht.17)

Die Reliquien Alexanders, seiner Mutter Felicitas und weiterer Söhne hatte Otto der Große auf seinem Italienzug 962 in „Penna“18) erworben und nach Magdeburg geschenkt. Der dortige Erzbischof Adalgod (1107–1119) gründete das Augustinerchorherrenstift Neuwerk in Halle; diese Stiftung führte sein Verwandter und Nachfolger Ruodger (1119–1125) zu Ende und schenkte am 17. Dezember 1124 der neuen Kirche die Gebeine des Märtyrers Alexander, eine Rippe von dessen Mutter Felicitas und einen Arm des heiligen Sergius nebst weiteren Reliquien. Aus insgesamt fünf Zeugnissen – Translationsbericht, Inschrift, Urkunde, Cedula und Inventar – scheinen unterschiedliche Belegungen mit Reliquien hervorzugehen; wahrscheinlich geben nur Bericht und Urkunde zusammen den ursprünglichen Zustand wieder, während die übrigen nur Teile fixieren oder wie das Inventar einen jüngeren vermehrten Schatz vorfanden.

Der Translationsbericht19) erwähnt die Herstellung eines wertvollen Schreines und die Deposition der Reliquien darin im Jahr 1146, die auch aus der Urkunde des Propstes Friedrich aus eben demselben Jahr bekannt ist. Der Beschreibung des Mainzer Schreins im Inventar und seiner Inschrift zufolge muss er mit dem von Friedrich für Halle hergestellten identisch sein. Von dort soll er mit dem Heiltum Albrechts von Brandenburg nach Mainz gelangt sein.20) In den von Albrecht in Auftrag gegebenen Verzeichnissen, also im sogenannten Halleschen Heiltum, lässt sich der Schrein jedoch nicht identifizieren;21) er könnte dem Mainzer Dom also schon früher geschenkt worden sein.

Schriftart(en): Romanische Majuskel?22)

  1. CONTINENTVR IN HOC SARCOPHAGO OSSA SANCTI ALEXANDRI MARTYRIS FILII SANCTAE FELICITATIS TRANSLATA EX OPPIDO HALLO PER ROKERVM ARCHIEPISCOPVM XVI KALENDAS IANVARII ANNO DOMINICAE INCARNATIONIS M. C. XXIIII.a)

Übersetzung:

In diesem Sarkophag sind die Gebeine des heiligen Märtyrers Alexander, des Sohnes der heiligen Felicitas, enthalten. Sie wurden aus der Stadt Halle durch den Erzbischof Rudgar/Ruodger am 16. Tag vor den Kalenden des Januar (17. Dezember) im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 1124 übertragen.

Kommentar

Das 1116 in Halle gegründete Stift Neuwerk war dem heiligen Märtyrer Alexander geweiht und mit Augustinerchorherren besetzt. Das von Bourdon bezeugte Bild des Ordenspatrons, das an hervorgehobener Stelle auf der Schmalseite gegenüber der Maiestas Domini angebracht war, passt zu dieser Herkunft. Schon der Translationsbericht schildert die Bergung der Reliquien in sarcophago […] mirifice fabricato. Das Aussehen des Mainzer Schreins wird daher mit dem in der Frühzeit des Hallenser Stifts angefertigten im Wesentlichen übereingestimmt haben. Alle Beschreibungen deuten auf einen opulenten Schrein mit einem ausführlichen Bildprogramm; er gehört somit zu den frühen seiner Art.

Arens deutete die Beschreibung der Schrift bei Bourdon23) als Bezeichnung für unziale Buchstaben bzw. „heutige“, also frühmoderne Kapitalisbuchstaben und dementsprechend ihre Mischung als Indiz für eine Romanische Majuskel. Das ist keinesfalls zwingend, kann aber durch die in der Translatio24) mitgeteilte Herstellung zu 1146 bestätigt werden, als sich Mischschriften aus Unzialen und Kapitalis durchzusetzen begannen. Schon die Inschrift beglaubigte demnach die Reliquien durch ihren Bericht zur vom Herstellungsjahr 1146 über 20 Jahre zurückliegenden Überführung und greift das im Translationsbericht niedergelegte Wissen auf.

Der Translationsbericht25) informiert nach der Vorgeschichte des Reliquienerwerbs unter Otto I., die im Mainzer Inventar Otto II. zugeschrieben wird, nur über die Gründung des Konvents durch Erzbischof Adalgod und seinen Auftrag an den Nachfolger Ruodger, das Werk zu vollenden. Die Translation erfolgte nach dem Hallense monasterium; wo sie sich vorher befanden, verschweigt der Autor. Nach der Inschrift müssten sie in der Stadt Halle zwischengelagert gewesen sein, da sie doch offensichtlich zur vom Gründer geplanten Ausstattung gehörten. Im Jahre 1124 führte sie Ruodger gemäß seinem Auftrag dann nach dem vor der Mauer liegenden und anscheinend dann aufnahmebereiten Stift Neuwerk. Eine direkte Überführung von Magdeburg, wie sie der Translationsbericht suggeriert, würde eine erhebliche Verlesung von EX OPPIDO HALLO aus AD OPPIDVM HALLAM/HALLVM/HALLENSEM voraussetzen. Das wird man Bourdon nicht unterstellen, auch nicht eine zwischenzeitliche Fehlrestaurierung dieser Stelle. Allerdings könnte man die Schrift nach der Bourdonschen Beschreibung auch für eine frühhumanistische Kapitalis halten, die um 1500 gerne für historisierende Inschriften benutzt wurde.26) Zweifel an der Genauigkeit der Übermittlung oder der Zeitstellung rufen auch Auffälligkeiten des Textes hervor: Dem Rang der Behältnisse entsprachen im Hochmittelalter zumeist metrisch formulierte Inschriften; anderenfalls setzten die Inschriften regelmäßig mit der Benennung des Objekts ein, also zumeist mit in hoc sarcophago oder ähnlich. Das Datum schrieb man fast ausnahmslos in einer anderen Reihenfolge, nämlich beginnend mit dem Jahr.27) Da auch die Bezeichnung des Hochstifts Magdeburg fehlt, sind Eingriffe am Text oder Fehler in der Überlieferung nicht auszuschließen. Einer späten Herstellung der Inschrift um die Zeitenwende entspräche auch die dort häufiger zu beobachtende über eine reine Benennung von Reliquien hinausgehende Charakterisierung und Angabe ihrer Herkunft.28) Ohne einen Zugriff auf Reste des Schreins, eine Abbildung oder fachgerechte Beschreibung wird man es bei diesen Unsicherheiten belassen müssen.

Textkritischer Apparat

  1. So aus dem Translationsbericht gegen MCXXIII bei Bourdon und anderen. Keinesfalls darf man von den Kalenden des Januar 1124 auf den 17. Dezember 1123 zurückrechnen.

Anmerkungen

  1. Mutter der legendären sieben Römischen Märtyrer namens Januarius, Felix, Philipp, Silvanus, Alexander, Vitalis und Martial; erlitt zusammen mit ihren Söhnen im Jahr 162 wegen ihres Glaubens unter Marc Aurel den Märtyrertod; vgl. LCI VI (1974) Sp. 222.
  2. Retro vel potius inter altare maius et cancellos ferreos, qui separant chorum a navi ecclesiae, super oblongum repositorium aeneum quatuor columnis fulcitum in loco bene elevato expositae sunt tres cistae oblongae[...], nach Bourdon. Arens errechnete aus einem Grundriss bei Gudenus als Fläche der Anlage 1 x 6–7 m.
  3. […] das halb corpus sancte Felicitatis, der ganz corpus mit dem Haupt Sancti Alexandri […], Inventar HS 92 (1545) fol. 188r. Nach der Translatio sancti Alexandri in monasterium Hallense Novi Operis, ed. Bresslau (MGH SS XXX/2, 1934, 956) handelte es sich um die Rippe der Felicitas und fast den ganzen Körper des Alexander, dessen Teile genau aufgezählt werden.
  4. Sergius wird meist zusammen mit Bacchus genannt. Beide waren Offiziere der syrischen Grenzprovinzen und erlitten im Jahr 303, nachdem sie ein Opfer vor dem Bild des Jupiter verweigerten, den Märtyrertod. Sergius wurde in der Stadt Rosafa enthauptet; vgl. LCI VIII (1976) Sp. 329.
  5. Pontianus von Spoleto wurde im 2. Jh. unter Antoninus Pius gemartert und enthauptet; vgl. LCI VIII (1976) Sp. 219.
  6. Bischof von Perugia; wurde im Jahr 549 auf Befehl des Gotenkönigs Totila enthauptet und gehäutet; vgl. LCI VI (1974) Sp. 500.
  7. Bourdon.
  8. Das Bleisiegel zeigte ein Bildnis der Muttergottes, vgl. Bourdon und Falk.
  9. Bourdon.
  10. Vgl. Kindermann, Kunstdenkmäler (2002) 88. Der Verweis ebd. Anm. 4 auf Jung, Mainzer Domschatz (1975) 338 und ein Verzeichnis von 1418/34 trifft nicht zu, da Jung dort nur den Text des Inventars von 1545 wiedergibt, vgl. zu diesem Anm. 3.
  11. arte inclusoria mirifice fabricato, Translatio sancti Alexandri in monasterium Hallense Novi Operis, ed. Bresslau (MGH SS XXX/2, 1934, 956).
  12. Lammis argenteis deauratis obducta […], Bourdon.
  13. [...]mit einem spitzigen Dach darob 15 klein und groß Cristallen Knopff […], Inventar HS 92 (1545) fol. 188r.
  14. […] exposita sunt tres cistae oblongae, quorum tegumenta in modum tecti sunt cuspidata, in duabus autem lateralibus tectum circa medium in modum crucis proeminens, […], Bourdon; Kautzsch/Neeb verstehen diese Textpassage so, dass nur zwei von den drei Schreinen diese besondere Dachform aufwiesen. Kautzsch/Neeb, Dom zu Mainz (1919) 179.
  15. Bourdon.
  16. […] vornen ein silbern ubergulter salvator, hinden sancti Augustini bild gleicher gattung, Inventar HS 92 (1545) fol. 188r.
  17. In pede autem cistae exterius sequitur sequens inscriptio litteris partim gothicis partim hodiernis. Bourdon.
  18. Ort in Italien (Prov. Pescara).
  19. Translatio sancti Alexandri in monasterium Hallense Novi Operis, ed. Bresslau (MGH SS XXX/2, 1934, 955f.).
  20. Jung, Mainzer Domschatz (1975) 338.
  21. Konsultiert wurden: Das Hallesche Heiltum (1931); Das Halle'sche Heiltum (2002).
  22. Vgl. zur Schriftbeschreibung unten bei folgender Anm.
  23. Bezeichnet als: inscriptio litteris partim gothicis partim hodiernis.
  24. Translatio sancti Alexandri in monasterium Hallense Novi Operis, ed. Bresslau (MGH SS XXX/2, 1934, 956): Nach der Information zur Bergung der Reliquien in einem kostbaren Schrein vermerkt der Autor Acta sunt haec [...] MCXLVI. Eine Inschrift wird nicht erwähnt.
  25. Ebd. 955 f.
  26. Vgl. die Beiträge von Renate Neumüllers-Klauser, Walter Koch und Rüdiger Fuchs in: Epigraphik 1988 (1990).
  27. Eine der Ausnahmen könnte die ebenfalls nicht mehr vorhandene Weiheinschrift der Sulpitiuskapelle in Trier sein, vgl. DI 70, Trier I (2006) Nr. 118.
  28. Vgl. dazu demnächst Rüdiger Fuchs, La certification des reliques en retard à Trèves, erscheint im Tagungsband zu Épigraphie médiévale et culture manuscrite, Poitiers, 2.–4. septembre 2009.

Nachweise

  1. Bourdon, Epitaphia (1727) 13.
  2. Falk, Hochaltar (1869) 3.
  3. Kautzsch/Neeb, Dom zu Mainz (1919) 179.
  4. DI 2, Mainz (1958) Nr. 9.
  5. Jürgensmeier, Reliquien (1989) 50 (erw.).

Zitierhinweis:
DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 15† (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0001502.