Inschriftenkatalog: Mainz

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DIO 1: Mainz (2011)

SN1, Nr. 8† Dom, Ostchor 1122

Beschreibung

Grabplatte des Dompropstes Anselm. Als man im Jahr 1677 die Gruft für den Landgrafen Georg Christian von Hessen-Homburg1) in der Mitte des Ostchors anlegte, stieß man auf zwei übereinander liegende ältere Grabplatten, von denen die untere eine dreizeilige Inschrift aufwies, durch die der Verstorbene als Dompropst Anselm identifiziert werden kann.2) Die drei Zeilen der Inschrift waren nach der Verteilung auf der Gamansschen Zeichnung zu schließen in einem großen Abstand auf der ansonsten schmucklos gehaltenen Grabplatte verteilt. Gamans vermerkte allerdings bei jeder Zeile, wo sie stand, nämlich in summo lapidis, in medio eiusdem und schließlich in infimo eiusdem. Bei der unteren ergänzt er noch non curva sed rectissima linea, womit er anzeigen wollte, dass eine oder beide der oberen Zeilen in einen Kreis geschrieben waren. Eine figürliche Darstellung war offensichtlich nicht vorhanden. Über den Verbleib der Grabplatte ist nichts bekannt.

Nach Fragmenta Gamans.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. V ▪ KAL(ENDAS)a) ▪ DECE(M)B(RIS) ▪ / O(BIIT) ▪ ANSEHELMVSb) ▪ /ARCHIDIAC(ONVS) ▪ (ET)c) MAIOR(IS) ▪ P(RE)P(OSITVS) ▪

Übersetzung:

Am 5. Tag vor den Kalenden des Dezember (27. November) starb Anselm, Archidiakon und Dompropst.

Kommentar

Gamans bemühte sich, den Schriftbefund wiederzugeben, und zeichnete dazu Worttrenner und Kürzungen ein, außerdem imitierte er wenigstens die Typen der Buchstaben, nämlich tironisches ET, breites trapezförmiges A und einmal symmetrisches unziales M, dessen Bögen nach außen hoch gebogen sind. Es muss sich also um eine Romanische Majuskel gehandelt haben. Daher wird man in den Klerikerlisten des Domes einen frühen Beleg für den Namen Anselm suchen müssen und den Verstorbenen nicht mit dem bei Helwich nach einer Urkunde von 1290 erwähnten Priesterkanoniker Anselm von Dürn (gest. 28. Dezember, Jahr unbekannt) identifizieren dürfen.3) Außerdem folgt die Inschrift dem bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum üblichen Nekrologformular, während bei dem erwähnten Anselm von Dürn eine körpergroße Umschriftplatte mit Anno Domini-Formular zu erwarten wäre. Die vorliegende Platte dürfte vielmehr einen frühen Typ von verhältnismäßig kleinen Exemplaren mit teilweise in Kreise geschriebenen Inschriften darstellen, wie sie noch in der Platte für Abt Konrad (Nr. 24) in Mainz zu belegen sind.

Ein Dompropst namens Anselm, in Helwichs Liste der einzige Domkleriker dieses Namens vor dem erwähnten Anselm von Dürn, wird in den Urkunden des frühen 12. Jahrhunderts mehrmals erwähnt4), so dass man annehmen darf, dass Anselm mit einem im Jahr 1112 erwähnten Chorbischof, hier dann ausgedrückt als ARCHIDIACONVS, identisch ist5) und im gleichen Jahr von Erzbischof Adalbert I. zum Dompropst ernannt wurde.6) In der Erstausfertigung des Adalbert-Privilegs (Nr. 12)7) im Jahr 1118/1119 tritt Anselm an vierter Stelle in der Zeugenliste auf. Zum letzten Mal wird er in einer Urkunde des Jahres 1122 als Zeuge erwähnt, verstarb jedoch wahrscheinlich noch im gleichen Jahr, da am 19. November 1122 ein neuer Dompropst namens Dudo in Erscheinung tritt.8) Da Dudo schon vor dem Todestag seines Vorgängers als neuer Dompropst genannt wird, vermutete man, dass Gamans das Todesdatum falsch gelesen habe und es anstatt V KAL(ENDAS) DECE(M)B(RIS) richtig XV KAL(ENDAS) DECE(M)B(RIS) (= 17. November) heißen müsse.9) Diese Konjektur ist nicht zwingend, da Anselm sein Amt vorher resigniert haben kann oder vielleicht nicht mehr handlungsfähig war.

Der Grabfund gab Anlass zu zahlreichen Diskussionen bezüglich der Baugeschichte des Ostchors. So wurde die Grabplatte in der Mittelachse des Ostchores gefunden, also in einem Bereich, in dem man im 12. Jahrhundert den Hohlraum der ehemaligen Krypta erwartet hätte. Arens wertete diese Entdeckung als ein sicheres Indiz dafür, dass die Krypta schon um 1120 aufgegeben bzw. nie vollständig ausgeführt wurde.10) Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass im Ostchor die Säulenbasen sowie die Sakristeitüren gleichmäßig hoch angelegt sind, man also einen frühen Planwechsel anhand der noch sichtbaren Baubefunde an keiner Stelle nachweisen kann.11) Als weiteres Indiz für die Existenz der Krypta bis ins 13. Jahrhundert hinein darf man die im 19. Jahrhundert wiederentdeckten Stützengebilde ansehen, die notwendig waren, um ein optisches Zwischenglied zwischen dem alten und neuen Fußbodenniveau herzustellen. Da sich diese Stützen, von denen die eine als Säule und die andere in Form eines Atlanten gearbeitet ist, stilistisch dem 13. Jahrhundert zuordnen lassen, kann das Bestehen der Ostkrypta bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts als gesichert gelten.12).

Daher kann die Grabplatte des Dompropstes erst nachträglich in den Ostchor gekommen sein. Für einen Dompropst des 12. Jahrhunderts wäre das ein sehr ungewöhnlicher Begräbnisort; man wird also bezweifeln, dass Anselms Grab früh in den Ostchor verlegt wurde und es sich um eine Zweitbestattung gehandelt habe,13) den Befund vielmehr als Indiz dafür ansehen, dass die Platte als Schuttmaterial diente, um den Hohlraum der Krypta bei deren Aufgabe um 1240 zu füllen. Der spärliche Fundbericht bei Gamans lässt keine weiteren Schlüsse zu, auch nicht darüber, ob das Grab bei der Entdeckung der Inschriftenplatte noch vollständig intakt war oder nicht.14) Arens schloss aus dem Fundbericht, bei dem oberen Stein habe es sich um den Grabstein und bei dem unteren Stein um den Sargdeckel gehandelt, das Grab sei also noch unberührt gewesen; nur daraus folgte seine Datierung der Aufgabe der Krypta.

Textkritischer Apparat

  1. Kürzungsstrich durch den Schaft von L.
  2. ANSEILMVS Arens.
  3. Tironisches ET.

Anmerkungen

  1. Arens, Mainzer Inschriften I (1982) Nr. 1647.
  2. Fragmenta Gamans II (ca. 1660, Nachtrag) 99.
  3. Helwich, Annales I (1608–1625) fol. 95r.
  4. Helwich, Annales I (1608–1625) fol. 93r. Dort sind mehrere Urkundenbelege, auch die des Adalbert-Privilegs, aufgeführt.
  5. Waldecker, Kaiser, Kurie, Klerus (2002) 125 Anm. 1008; Stimming, MUB I (1932) Nr. 455.
  6. Stimming, MUB I (1932) Nr. 457; vgl. auch Waldecker, Kaiser, Kurie, Klerus (2002) 125f.
  7. Stimming, MUB I (1932) Nr. 600.
  8. Stimming, MUB I (1932) Nr. 500.
  9. DI 2, Mainz (1958) Nr. 8; Arens, Datierung des Ostchores (1967/68) 75.
  10. Arens, Datierung des Ostchores (1967/68) 75f.
  11. Von Winterfeld, Baugeschichte (2010) 123.
  12. Kotzur, Lettner (2010) 169ff. und Kosch, Binnentopographie (2010) 152.
  13. Von Winterfeld, Baugeschichte (2010) 123.
  14. In medio chori ferrei: Dum anno 1677 pro Domino Georgio Christiano Landgravio Hassiae Homburgico sepulchrum emurandum effoderetur, lapis unus sepulchralis supra in pavimento, alter inferius qui tumbae subiectae operculum inventus est hac inscriptione tripartita, nulla anni inventione...[...].

Nachweise

  1. Fragmenta Gamans II (ca. 1660, Nachtrag) fol. 99r.
  2. DI 2, Mainz (1958) Nr. 8.
  3. Arens, Datierung des Ostchores (1967/68) 74.

Zitierhinweis:
DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 8† (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0000809.