Inschriftenkatalog: Mainz

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DIO 1: Mainz (2011)

SN1, Nr. 4 Dom- und Diözesanmuseum A. 11. Jh.

Beschreibung

Silberblechkreuz mit Teilvergoldung und Gravurarbeiten. Bis 1975 auf einem barocken mit Samt bezogenen Buchdeckel eines niedersächsischen Evangeliars1) angebracht, ist das Kreuz heute isoliert im Domschatz des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums (Inventar-Nr. S 01974) ausgestellt. Der ursprüngliche Standort ist unbekannt, jedoch wird angenommen, dass das Kreuz den Prunkdeckel eines verloren gegangenen Codex aus St. Alban zierte.2)

Der silberfarbene Außenrand, der die Gravur des gekreuzigten Christus umschließt, wird durch eine Ritzlinie vom Innenfeld abgetrennt. Sowohl der Hintergrund als auch der Kreuznimbus und das Lendentuch Christi sind vergoldet. Christus wird jugendlich, bartlos und mit offenen Augen, als triumphierender Christus dargestellt. Der überlängte, schlanke Körper mit einer dezent nach rechts ausschwingenden Hüfte steht in leicht versetzter Schrittstellung auf einem Suppedaneum, das dreidimensional nach vorne in den Bildraum hineinragt und sich nach unten in einem Sporn fortsetzt. Der Kopf ist leicht nach rechts geneigt. Das hinten gescheitelte Haar liegt zu beiden Seiten in je zwei Strähnen auf der Schulter auf. Die Arme sind waagrecht ausgespannt; die übergroßen Hände mit den abgespreizten Daumen zeigen mit der Innenfläche nach oben. Das in der Mitte geknotete Lendentuch mit seitlichen Fältelungen fällt über den Hüften locker herab, wohingegen die seitlichen Überschläge starr und unbeweglich wirken. Der obere Kreuzbalken zeigt den Titulus als zweizeilige Inschrift.

Maße: H. 15,6; B. 11,5; Bu. 0,6 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Rüdiger Fuchs [1/2]

  1. IH(ESV)Sa) / CHR(ISTV)Sb)

Kommentar

Der Spornansatz unterhalb des Suppedaneums weist auf ein Vortragekreuz als Vorbild hin, wie es in ganz ähnlicher Weise auf der Rückseite des Lotharkreuzes abgebildet ist.3) Die Darstellung des lebendigen, triumphierenden Gekreuzigten entspricht frühchristlich-byzantinischer Tradition, wonach Christus als Sieger über den Tod in geistiger Erhöhung dargestellt wird.4) Auch die leichte Ponderation des Körpers, der geneigte Kopf sowie die leichte Schrittstellung der Beine, vor allem aber die abgespreizten Daumen deuten auf byzantinische Elfenbeinarbeiten aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts als Vorbilder hin. Goldschmidt/Weitzmann prägten für diese Arbeiten den Begriff der „malerischen Elfenbeingruppe.“5)

Stilistische Übereinstimmungen der Kreuzgravur mit einer Kreuzigungsdarstellung auf der Rückseite der Reichskrone werden von Swarzenski hervorgehoben.6) Auch dort trennt eine Ritzlinie einen äußeren Rand ab und zeigt im Mittelfeld eine Ritzzeichnung des Gekreuzigten, jedoch entspricht die Christusdarstellung mit den gedrungenen Proportionen und den angelegten Daumen nicht der byzantinischen Ikonographie.7) Außerdem wird die Reichskrone mittlerweile wesentlich später datiert.

Weitere stilistische Ähnlichkeiten mit der Mainzer Kreuzgravur werden für eine Kreuzigungsdarstellung auf einem Buchdeckel in Bad Säckingen8), die Kreuzigungsszene einer Trierer Handschrift9) und die Miniatur eines Sakramentars aus dem späten 9. Jh., das vermutlich aus St. Gallen stammt10), festgestellt. Byzantinischer Einfluss wird besonders in einem Sakramentar offensichtlich, das einer Werkstatt des Mainzer Benediktinerklosters St. Alban zugeschrieben wird.11) Aufgrund dieser engen stilistischen Verwandtschaft kann angenommen werden, dass die Werkstatt dieses Klosters nicht nur Handschriften, sondern auch Goldschmiedearbeiten schuf.12)

Als Datierung wurde das späte 10. Jahrhundert13) oder das frühe 11. Jahrhundert14) vorgeschlagen. Wilhelmys spätere Datierung ergibt sich aus der Datierung des Mainzer Sakramentars, das vermutlich im Auftrag von Erzbischof Willigis als Geschenk für den im Jahre 1000 erhobenen Wormser Bischof Burchard entstanden ist. Den in der Mitte geknoteten Lendenschurz Christi mit der seitlichen Fältelung und den starren Überschlägen ordnet Hürkey in die Kategorie des sogenannten „Fuldaer Schurzes“ ein. Da dieses Motiv etwa bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts innerhalb einer kleinen Gruppe von Kreuzigungsdarstellungen zu beobachten ist, dürfte das Mainzer Kreuz sicher vor der Mitte des 11. Jahrhunderts entstanden sein.15)

Der feinen Gravur sind die in der Senkrechten und Waagerechten stehenden und ohne Ausrundung gebildeten Sporen geschuldet, die in dem vorgeschlagenen Zeitrahmen bei Goldschmiedearbeiten verbreitet sind. Auffällig ist das offene P (für Rho) mit dem am unteren Schaftende nach rechts angesetzten Balken, d. i. ein überlängter und asymmetrischer Sporn. Der Titulus (IHS / XPS) ist noch in der altertümlichen, Reste der griechischen Fassung aufgreifenden Form geschrieben, indem das H, das griechische Eta, und XP, das griechische Chi-Rho, gesetzt wurden, nicht jedoch das gleichfalls verbreitete unziale Sigma in der Gestalt des C am Wortende.

Textkritischer Apparat

  1. Befund: IHS mit Kürzungsstrich.
  2. Befund: XPS mit Kürzungsstrich.

Anmerkungen

  1. Mainz, Dom- und Diözesanmuseum, Inventar-Nr. B00324.
  2. Wilhelmy in: Europas Mitte III (2000) Nr. 02.03.18.
  3. Lotharkreuz, Aachen Domschatz, um 1000; vgl. hierzu Lauer in: Bernward von Hildesheim II (1993) 156.
  4. Über die Entwicklung des frühchristlichen Kreuzsymbols und über die Paradoxien in der Kreuzigung vgl. Belting, Bild und Kult (2004) 122ff., 301ff. und Haussherr, Toter Christus (1963) 164ff.
  5. Lauer, Buchmalerei (1987) 186. Vgl. Kreuzigungsszene im Rabbula-Codex Ms. Laur. Plut. 1.56, fol. 13r. Zur „malerischen Elfenbeingruppe“ vgl. Goldschmidt/Weitzmann, Byzantinische Elfenbeinskulpturen II (1934) Nr. 42.
  6. Swarzenski, Monuments (1954) Kat. Nr. 30.
  7. Lauer, Buchmalerei (1987) 187.
  8. Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 61. Der Buchdeckel wird heute im Münsterschatz von St. Fridolin in Bad Säckingen aufbewahrt und um 975 datiert.
  9. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. lat. 10501, fol. 9r, um 984/85. Vgl. hierzu Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 65.
  10. Mainz, Priesterseminar, Hs.1, fol. 167r. Vgl. Lauer, Buchmalerei (1987) 25, Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 61.
  11. Mainz, Dom- und Diözesanmuseum, Inventar-Nr. B 00325.
  12. Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 66; Lauer, Buchmalerei (1987) 186f. Zur Bedeutung der Mainzer Schule vgl. Lauer (1987) 187ff. und Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei (1991) 275ff.
  13. Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 61, Lauer, Buchmalerei (1987) 186.
  14. Wilhelmy in: Europas Mitte III (2000) Nr. 02.03.18.
  15. Hürkey, Bild des Gekreuzigten (1983) 113ff.; 246, Nr. 329a.

Nachweise

  1. Kautzsch/Neeb, Dom zu Mainz (1919) 366.
  2. Swarzenski, Monuments (1954) Abb. 72.
  3. Knorre, Ausstellungsobjekte (1975) Nr. 23 mit Abb. 28.
  4. Otto, Goldschmiedekreuz (1975) 61 mit Abb. 19A.
  5. Hürkey, Bild des Gekreuzigten (1983) 246 Nr. 329a (erw.) mit Abb.
  6. Lauer in: Bernward von Hildesheim II (1993) 156f. Nr. IV.-6 mit Abb.
  7. Wilhelmy in: Europas Mitte III (2000) Nr. 02.03.18. mit Abb.
  8. Wilhelmy in: Heinrich II. (2002) Nr. 163 mit Abb.
  9. Dommuseum, Führer (2008), Schatzk. Nr. 8. mit Abb.
  10. Weinfurter, Kollegen des Königs (2010) Abb. S. 37.

Zitierhinweis:
DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 4 (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0000407.