Inschriften: St. Michaeliskloster und Kloster Lüne bis 1550

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 24: Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne (1984)

Nr. 57 Kloster Lüne 1500

Beschreibung

Teppich, sog. Weihnachts- oder Sibyllenteppich, mit 35 figuralen Darstellungen in gleichartig gestalteten, kreisrunden Medaillons. Jeweils fünf nebeneinander stehende Rundfelder bilden eine Darstellungsreihe, so daß sich für den Teppich insgesamt sieben solcher Reihen ergeben. Im Zentrum steht die Darstellung der Geburt Christi. Die übrigen Felder zeigen neben den Evangelistensymbolen vierzehn Propheten, zwölf Sibyllen sowie vier Gestalten des Alten Testaments. Jede Person trägt auf einem beigefügten Schriftband ihren Namen, eine umgebende Schriftzone, die zugleich den Rahmen des Medaillons bildet, enthält die ihr zugeschriebene Prophezeiung als Inschrift.

Im einzelnen, jeweils von links nach rechts, erscheinen1):

1. Reihe:

1.) Matthäusengel, dazu Schriftband mit 1 a);

2.) Moses, Schriftband mit 2 a), Umschrift 2 b);

3.) Aaron, Schriftband mit 3 a), Umschrift 3 b);

4.) David, Schriftband mit 4 a), Umschrift 4 b);

5.) Johannesadler, zwischen den Fängen Schriftband mit 5 a).

2. Reihe:

1.) Die persische Sibylle, Schriftband mit 6 a), Umschrift 6 b);

2.) Hosea, Schriftband mit 7 a), Umschrift 7 b);

3.) Salomo, Schriftband mit 8 a), Umschrift 8 b);

4.) Joel, Schriftband mit 9 a), Umschrift 9 b);

5.) Die libysche Sibylle, Schriftband mit 10 a), Umschrift 10 b).

3. Reihe:

1.) Amos, Schriftband mit 11 a), Umschrift 11 b);

2.) Die delphische Sibylle, Schriftband mit 12 a), Umschrift 12 b);

3.) Jesaja, Schriftband mit 13 a), Umschrift 13 b);

4.) Die cimmerische Sibylle, Schriftband mit 14 a), Umschrift 14 b);

5.) Abdias, Schriftband mit 15 a), Umschrift 15 b).

4. Reihe:

1.) Die eriträische Sibylle, Schriftband mit 16 a), Umschrift 16 b);

2.) Jona, Schriftband mit 17 a), Umschrift 17 b);

3.) Christi Geburt, zugleich Darstellung der Trinität; über dem Kind die Taube des Heiligen Geistes, oben Gottvater in den Wolken; Umschrift: 18 a);

4.) Micha, Schriftband mit 19 a), Umschrift 19 b;

5.) Die samische Sibylle, Schriftband mit 20 a), Umschrift 20 b).

5. Reihe:

1.) Nahum, Schriftband mit 21 a), Umschrift 21 b);

2.) Die kumänische Sibylle, Schriftband mit 22 a), Umschrift 22 b);

3.) Jeremia, Schriftband mit 23 a), Umschrift 23 b);

4.) Die hellespontische Sibylle, Schriftband mit 24 a), Umschrift 24 b);

5.) Habakuk, Schriftband mit 25 a), Umschrift 25 b).

6. Reihe:

1.) Die phrygische Sibylle, Schriftband mit 26 a), Umschrift 26 b);

2.) Zephanja, Schriftband mit 27 a), Umschrift 27 b);

3.) Haggai, Schriftband mit 28 a), Umschrift 28 b);

4.) Sacharja, Schriftband mit 29 a), Umschrift 29 b);

5.) Die tiburtinische Sibylle, Schriftband mit 30 a), Umschrift 30 b).

7. Reihe:

1.) Markuslöwe, auf einem Schriftband mit 31 a) stehend;

2.) Die europäische Sibylle, Schriftband mit 32 a), Umschrift 32 b);

3.) Maleachi, Schriftband mit 33 a), Umschrift 33 b);

4.) Die agrippinische Sibylle, Schriftband mit 34 a), Umschrift 34 b);

5.) Der Lukasstier, über einem Schriftband mit 35 a) stehend.

In den Zwickeln zwischen den Medaillons befinden sich kleine, auf die Spitze gestellte, außen mit Pflanzenornament versehene Quadrate als Rahmung für Tierdarstellungen. Dem Mittelbild mit der Geburtsszene sind in solchen Rahmen die folgenden vier Allegorien zugeordnet: oben links der Pelikan, der seine Jungen nährt; oben rechts der Löwe, der drei Junge zum Leben erweckt; unten links der Vogel Phönix und unten rechts das Einhorn in Mariens Schoß.

Das Hauptfeld ist von einem großen, rechteckigen Rahmen aus Schriftleisten umgeben, die, beginnend oben links, die Umschrift (A) enthalten. Der Teppich wird außen durch eine umlaufende Zierkante abgeschlossen, die an den Seiten in Vierpässen, oben und unten in Sechsecken, gebildet aus abgeschnittenen Quadraten, ebenfalls Tierdarstellungen sowie Pflanzenwerk zeigt. An der rechten und linken Seite ist im jeweils ersten Vierpaß von unten eine Katze dargestellt; rechts fängt sie eine Maus. Beide Male geht von ihrem Maul ein Schriftband mit (B) aus. Unten erscheint im ersten und dritten Rahmen von links ein Fuchs im Abtsgewand, der Gänse zunächst anlockt und – im anderen Feld – hinwegführt. Jeweils über den Gänsen findet sich, insgesamt dreimal, ein Schriftband mit (C). Im fünften Feld von links ist eine unbekleidete Gestalt dargestellt, die an einem Schreibpult sitzt und in einem Buch schreibt. Dieses – aufgeschlagene – Buch zeigt die acht unter- und nebeneinander (3 : 5) angeordneten Buchstabengruppen (D). In den vier Ecken des Teppichs Wappendarstellungen, von denen die sich diagonal gegenüberstehenden identisch sind. Die Inschriften sind in weißen Schriftgrund eingestickt, für die Buchstaben wurde in regelmäßigem Wechsel rotes und blaues Garn verwendet.

Maße: H.: 510,0 cm, B.: 408,0 cm, Bu.: 3,3–4,2 cm (1 a bis 35 a), 3,5–4,2 cm (A), 0,8 cm (B bis D).

Schriftart(en): Gotische Majuskel, Minuskel (C).

Kloster Lüne [1/10]

  1. 1 a)

    S(ANCTUS) · MATHEUS

  2. 2 a)

    MOISES · PROPHE[TA]a)

  3. 2 b)

    OBSECRO · DOMINE · MITTE · QUEM · MISSURUSb) · ES ·2)

  4. 3 a)

    AARON

  5. 3 b)

    UIRGA · AARON · FLORUIT · ET · FRUCTUM · PROTULIT3)

  6. 4 a)

    REX · DAUID

  7. 4 b)

    IN · SOLE · POSUIT · TABERNACULUM · SUUM ·4)

  8. 5 a)

    S(ANCTUS) IOHA(N)NES

  9. 6 a)

    SIBILLA · PERSICA

  10. 6 b)

    GIGNETUR ✶ DOMINUS ✶ IN ✶ ORBEM ✶ TERRARUM5)

  11. 7 a)

    OSEE · PROPHETA

  12. 7 b)

    ISRAHEL · GERMINABIT ✶ SICUT ✶ LILIUM ✶ ETc)6)

  13. 8 a)

    REX · SALOMON ✶

  14. 8 b)

    EGREDIMINI ✶ FILIE ✶ SION ✶ ET ✶ UIDETEd) ✶ REGEM ✶ SALO[MONEM]a)7)

  15. 9 a)

    IOHEL · PROPHE[TA]a)

  16. 9 b)

    IN · ILLA · DIE · STILLABUNT ✶ MONTES · DULCEDINEM · ETc)8)

  17. 10 a)

    SIBILLA · LIBICA

  18. 10 b)

    TENEBIT · REGEM · GREMIO · UIRGO · DOMINA · GENCIUM · ETc)9)

  19. 11 a)

    AMOS · PROPHE[TA]a)

  20. 11 b)

    SUSCITABO ✶ TABERNACULUM ✶ DAUID ✶ QUOD ✶ CECI[DIT]a)10)

  21. 12 a)

    SIBILLA · DELPHICA

  22. 12 b)

    NASCETUR ✶ PROPHETA ✶ EX ✶ MATRE ✶ UIRGINE11)

  23. 13 a)

    ISAIAS · PRO[PHETA]a)

  24. 13 b)

    PARUULUS ✶ NATUS ✶ EST ✶ NOBIS ✶ ET ✶ FILIUS · DAT(US) ✶12)

  25. 14 a)

    SIBILLA · CHIMICA

  26. 14 b)

    PUELLA · PUERUM · NUTRIET · DANS · EI · LAC · DE · CELO · MISSUM ✶13)

  27. 15 a)

    ABDIAS · PROPHETA

  28. 15 b)

    IN ✶ MONTE ✶ SION ✶ ERIT ✶ SALUACIO ✶ ET ✶ ERIT ✶14)

  29. 16 a)

    SIBILLA · ERITHEAe)

  30. 16 b)

    IACEBITf) · IN FENOg) · AGNUS · ET · PUELLARI · OFFICIO · EDUCABITUR ✶15)

  31. 17 a)

    IONAS · PROPHE[TA]a)

  32. 17 b)

    EGREDIETUR ✶ DOMINUS ✶ DE ✶ LOCO ✶ SANCTO ✶ SUO ✶16)

  33. 18 a)

    GENUIT ✶ PUERPERA ✶ REGEM ✶ CUIh) ✶ NOMEN ✶ ETERNUM ✶17)

  34. 19 a)

    MICHEAS · PRO[PHETA]a)

  35. 19 b)

    BETLEEM ✶ NON ✶ ES · MINIMA · IN PRINCIPIBUS ✶ IUDA ✶18)

  36. 20 a)

    SIBILLA ✶ SAMIA

  37. 20 b)

    ECCE · UENIET · DIUES · ET · NASCETUR · DE · PAUPERCULA ✶19)

  38. 21 a)

    NAUMi) · PROPHETA

  39. 21 b)

    DE . CELO ✶ UENIET ✶ DOMINATOR ✶ DOMINUS ✶ ET · I(N) MANUk)20)

  40. 22 a)

    SIBILLA ✶ CUMANA

  41. 22 b)

    IAM · NOUA ✶ PROGENIES ✶ CELO ✶ DIMITTITUR ✶ ALUO1)21)

  42. 23 a)

    IEREMIAS · PROPHETA

  43. 23 b)

    ECCE · DOMINUS · NOUU(M) · FACIET · I(N) · TERRA · FEMINA · CIRCU(M)DABIT ✶22)

  44. 24 a)

    SIBILLA HELESPO(N)TINA

  45. 24 b)

    NASCETUR . DEUS · IN · DIEBUS · NOUISSIMIS · DE · UIRGINE ✶23)

  46. 25 a)

    ABACUCm) · PROPHETA

  47. 25 b)

    UENIE(N)Sn) · UENIETo) · DOMINUS · ET ✶ NON · TARDABIT · SI · MORAMc) · ✶24)

  48. 26 a)

    SIBILLA · PHRIGIA

  49. 26 b)

    EX · OLIMPO · EXCELSUS · UENIET · ET · FIRMABITUR · CO(N)SILI[UM]a)25)

  50. 27 a)

    SOPHONIAS · PROPHE[TA]a)

  51. 27 b)

    ECCE · UENIET · DOMINUS ✶ PRINCEPS · REGUM · TERRE ✶26)

  52. 28 a)

    AGGEUS · PROPHETA

  53. 28 b)

    ECCE · UENIET · DESIDERATUS ✶ CUNCTIS · GENTIBUS · ET ✶27)

  54. 29 a)

    ZACHARIAS · PROPHE[TA]a)

  55. 29 b)

    EXULTA · SATIS · FILIA · SYON ✶ IUBILA · FILIA · IERUSA[LEM]a)28)

  56. 30 a)

    SIBILLA . TIBURTINA

  57. 30 b)

    NASCETUR ✶ CRISTUS · IN · BETHLEEM ✶ IUDE ✶ ET · AN[NUNCIABITUR]a)29)

  58. 31 a)

    SA(N)CTUS · MARCUS

  59. 32 a)

    SIBILLA · EUROPA ✶

  60. 32 b)

    UENIETp) · ILLE · ET · TRANSIBIT ✶ COLLES ✶ ET · MONTES · ET ✶30)

  61. 33 a)

    MALACHIAS · PROPHETA · ✶

  62. 33 b)

    ORIETUR · UOBIS · TIMENTIBUS · NOMEN · MEU(M) · SOL · IUSTICIE ✶31)

  63. 34 a)

    SIBILLA · AGRIPPA

  64. 34 b)

    INUISIBILE ✶ UERBUM ✶ PALPAPITURq) · ET · GERMINA[BIT]a)32)

  65. 35 a)

    SA(N)CTUS · LUCAS

  66. A

    ANNO · DOMINICE · INCARNACIONIS · MILLESIMO · QVINGENTESIMO ✶ DOMINA · SOPHIA · DE · BODENDIKE ✶ / PRIORISSA · PROCVRAVIT · AC · FECIT · CONSVERE · ISTVD · TAPETE · ANNO · REGIMINIS · SVI · VICESIMO · PER · MANVS · SORORVM · HIC · IN · MONASTERIO · / LVNENSI · TVNC · DEGENCIVM · AD · LAVDEM · ET · HONOREM · SVMMI · DEI · ET · SVE · DILECTE · GENITRICISr) · MARIE · SANCTIQVE / BARTHOLOMEI · REGALIS · APOSTOLI · GLORIOSI · PATRONI · NOSTRI · ANNO · OCTAVO · PREPOSITVRE · REVERENDI · DOMINI · AC · PATRIS · NOSTRI · NICOLAI · SCHOMAKERSs)

  67. B

    MAW MAW

  68. C

    tat tat

  69. D

    TUt) / ASE / KS / EH / GSE / KR / SUu) / MRO

Übersetzung:

Übersetzung der Prophezeiungen:

Ich bitte dich inständig, Herr, sende den, den du senden willst! – Die Wurzel Aaron blühte und trug Frucht. – Über die Sonne hat er seine Hütte gestellt. – Der Herr wird in den Erdkreis hineingeboren werden. – Israel wird erblühen wie eine Lilie und [seine Wurzel wird hervorbrechen wie der Libanon]. – Geht heraus, Töchter Zions, und seht an den König Salomo! – An jenem Tage werden die Berge Honig tropfen lassen und [die Hügel werden von Milch fließen]. – Eine Jungfrau, die Herrin der Völker, wird den König im Schoß bergen und [er wird herrschen in Barmherzigkeit]. – Ich werde aufbauen die Hütte Davids, die eingestürzt ist. – Es wird geboren werden ein Prophet von einer Mutter, einer Jungfrau. – Ein kleines Kind ist uns geboren und ein Sohn ist uns gegeben. – Eine Jungfrau wird einen Jungen nähren und ihm vom Himmel geschenkte Milch geben. – Auf dem Berge Zion wird die Rettung sein, und er wird [heilig sein]. – Es wird im Heu ein Lamm liegen und durch den Dienst einer Jungfrau aufgezogen werden. – Der Herr wird herausgehen aus seiner heiligen Wohnstätte. – Es gebar die Gebärerin einen

König, dem ein ewiger Name [eigen ist]. – Bethlehem, du bist nicht die kleinste unter den Hauptstädten in Juda. – Siehe, es wird ein Reicher kommen, und er wird geboren werden von einer armen Frau. – Vom Himmel wird kommen der Herrscher, der Herr, und in der Hand ... – Jetzt wird ein neues Geschlecht vom hohen Himmel herabgesendet. – Siehe, der Herr wird ein Neues schaffen auf der Erde, eine Frau wird [den Mann] umhüllen. – Gott wird geboren werden in den letzten Tagen von einer Jungfrau. – Mit Sicherheit wird der Herr kommen, und er wird nicht zögern; wenn er eine Verzögerung [eintreten läßt, warte auf ihn]. – Vom Olymp wird der Höchste kommen, und der Plan wird sich bewahrheiten. – Siehe, es wird kommen der Herr, der erste unter den Königen der Erde. – Siehe, es wird kommen, der ersehnt wurde von allen Völkern, und [ich werde dieses Haus mit Herrlichkeit erfüllen]. – Jauchze sehr, Tochter Zion, singe vor Freude, Tochter Jerusalem! – Es wird geboren werden der Gesalbte zu Bethlehem in Juda, und er wird verkündigt werden [in Nazareth]. – Jener wird kommen, und er wird überschreiten Hügel und Berge und [die Wässer der olympischen Wälder]. – Euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit. – Das unsichtbare Wort wird keimen und es wird hervorsprießen.

Umschrift: Im Jahre der Fleischwerdung des Herrn 1500 trug die Domina Sophia von Bodenteich, Priorissa, dafür Sorge und veranlaßte, daß dieser Teppich im zwanzigsten Jahr ihrer Amtszeit durch die Hände der Schwestern, die zu der Zeit hier im Kloster Lüne lebten, zusammengefügt wurde zum Lob und zur Ehre des höchsten Gottes und seiner geliebten Mutter Maria und des heiligen Bartholomäus, des ruhmreichen königlichen Apostels, unseres Schutzpatrons, im achten Jahr der Amtszeit als Propst des verehrungswürdigen Herrn und unseres Vaters Nikolaus Schomaker.

Wappen:
a) oben links, unten rechts: Schomaker (wie Nr. 58)
b) oben rechts, unten links: Bodenteich (wie Nr. 45)

Kommentar

Dieser älteste der Lüner Teppiche, an dem Konventualinnen des Klosters nachweislich im Jahre 1502 gearbeitet haben33), ist zugleich der größte und aufgrund seines Bildprogramms der bedeutendste. Bis heute ist diese herausragende Bedeutung nicht hinreichend gewürdigt worden; auch der folgende Kommentar kann diesen Mangel nicht beheben. Wohl aber mögen der Versuch einer themengeschichtlichen Einordnung, Hinweise zur Ikonographie vor allem der Sibyllendarstellungen, die Formulierung weiterführender Fragen und Ansätze zu einer Interpretation der bildlichen Gesamtaussage dazu beitragen, seinen besonderen Rang zu erkennen und zu bestimmen.

Auf welche Weise sich bereits im Altertum die Weissagungen der ursprünglich nur aus besonderem Anlaß befragten Orakel im Zuge eines Wandlungs- und Umdeutungsprozesses mit soteriologischen Ideen verbanden, wird, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, etwa in der vierten Ekloge Vergils sehr anschaulich34). Von hier aus bedurfte es keiner tiefgreifenden Entwicklung mehr, um die sibyllinischen Sprüche auch in die theoretischen Schriften des Christentums einzubringen. Als erster christlicher Schriftsteller vertrat Lactanz die Auffassung, die aus der antiken Literatur bekannten Sibyllen müßten als Prophetinnen Christi gelten. Seine um 300 entstandene Schrift „Divinae Institutiones“, die diesen Gedanken ausführt35), erreichte eine hohe Wirksamkeit und führte dazu, daß seine Vorstellungen in der patristischen Literatur vielfach aufgegriffen wurden36). Das galt um so mehr, nachdem Augustin die Göttlichkeit der Sibyllen attestiert hatte37).

Die Sibyllen wurden Thema der christlichen Kunst, sei es in der bildlichen Darstellung, sei es in der Dichtung. Sie begegnen als Einzelpersonen ebenso wie in größerer Zahl, zu Darstellungszyklen zusammengefaßt; häufig erscheinen sie in Gemeinschaft mit antiken Philosophen, aber auch mit biblischen Propheten38). Besonders seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde der Parallelismus der Propheten und Sibyllen bestimmend39), ein Parallelismus, der eindeutig einer Didaktik der christlichen Heilslehre entsprungen ist, verbinden sich doch hier alttestamentliche Ordnung sowie Repräsentation der außerjüdischen antiken Welt zu einer Einheit soteriologischer Prophetie: Judentum und Heidentum treffen sich in gemeinsamer Vorhersage der Geburt Christi, so daß – unausgesprochen und lediglich symbolisiert – die Weltgeschichte als Heilsgeschichte begriffen werden kann. Diese religiöse Idee zeigt sich z. B. auch in der Sequenz „Dies irae“, die um 1250 entstand, und den Parallelismus auf zwei Personen verdichtet: „teste David cum Sibylla“40).

In zyklischen Darstellungen finden sich zumeist 10 Sibyllen, im Hochmittelalter oft zur Zwölfzahl erweitert, um so die Voraussetzungen für die Gegenüberstellung mit den zwölf sog. kleinen Propheten zu schaffen. Aus dem Jahre 1385 ist ein geistliches Schauspiel überliefert, in dem zwölf Sibyllen auftreten41), um 1425 erhielt der Palast des Kardinals Giordano Orsini in Rom eine Freskomalerei mit zwölf Sibyllen42). Dieser Zyklus hat auf die darstellende Kunst bis weit in das 16. Jahrhundert hinein gewirkt, besonders auch im Zusammenhang mit der ebenfalls in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Renaissance der Sibyllenliteratur43). Von erheblicher Wichtigkeit ist dabei der Traktat „Sibyllarum et prophetarum de Christo vaticinia“ des Dominikaners Philippus de Barberiis (Filippo de Barbieri), der 1481 im Druck erschien44). Philippus differenziert hier zum ersten Mal die zwölf Sibyllen nach Kostüm und Attribut und fügt unter Verarbeitung der älteren Überlieferung den Wortlaut der ihnen jeweils zugeschriebenen Prophezeiungen an. Eine Fülle von Beispielen aus der Kunst Italiens zeigt, wie genau man sich nach 1481 an die Angaben des Traktats hielt, daß die Schrift des Philippus de Barberiis gleichsam zur autorisierten Vorlage für Sibyllendarstellungen geriet45). Das gilt vor allem auch für die Texte der Weissagungen, die vielen Darstellungen in Form ergänzender Beischriften hinzugefügt wurden.

Der Lüner Weihnachtsteppich, nach seiner Umschrift im Jahre 1500 begonnen und zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig im Entwurf fertiggestellt, folgt im Text der sibyllinischen Prophetien ohne jeden Zweifel dem nur 19 Jahre zuvor gedruckten Traktat Philipps. Die unten in den Anmerkungen zum Vergleich angeführten Passagen aus der Druckschrift geben dafür den eindeutigen Beleg. In Einzelheiten sind zwar Abweichungen festzustellen, die zum Gegenstand einer genaueren textgeschichtlichen Untersuchung werden müßten, das Faktum der Abhängigkeit von Barbieri indessen bleibt davon unberührt46). Dieser Sachverhalt weist der Entstehung des Teppichs eine außerordentliche Aktualität zu und rückt ihn in die Nähe, wenn nicht in die Tradition der zeitgenössischen italienischen Kunst, als deren bekanntestes Zeugnis der Sibyllenzyklus Michelangelos an der Decke der Sixtina gelten kann47). Für Lüne ergeben sich daraus Fragen nach der Übermittlung nicht nur des Themas, sondern vor allem auch der Texte, eine Problematik, die hier nicht näher behandelt werden kann.

Ihre Tragweite zeichnet sich um so deutlicher ab, wenn man in räumlicher und zeitlicher Nachbarschaft auf weitere Belege für die Rezeption des Barbieri-Traktates stößt. So ist in einer Handschrift, deren Schreiber von 1491 bis 1508 als Altarist des Klosters Frankenberg in Goslar nachzuweisen ist und die demzufolge auch aus Goslar stammen dürfte, ein niederdeutsch abgefaßtes, aus 3953 Versen bestehendes geistliches Schauspiel heilsgeschichtlichen Inhalts überliefert48). Die Verse 2797 bis 3253 schildern eine Beratung König Salomos mit den Propheten und Sibyllen, in der sie ihre auf Christus deutenden Weissagungen nennen. Dabei tragen die zwölf auftretenden Sibyllen ihre Prophezeiungen in lateinischer Sprache vor und paraphrasieren sie durch einen jeweils hinzugefügten Text in niederdeutscher Sprache. Die lateinischen Passagen nun gehen bis auf einige geringfügige Abweichungen, die auch auf fehlerhaftes Kopieren der Vorlage durch den Schreiber oder Lesefehler des Herausgebers zurückgehen könnten, auf den italienischen Sibyllentraktat zurück49). In engem Zusammenhang mit der Entstehung dieses Schauspieles muß die Themenwahl stehen, die einer 1500/1506 vorgenommenen Ausmalung des Huldigungssaales im Rathaus zu Goslar zugrunde gelegt wurde: es entstand ein Zyklus von zwölf Sibyllen, hier freilich in Gemeinschaft mit deutschen Königen, wie es für den Rathaussaal einer Reichsstadt nahelag50). Die Beischriften der Sibyllen jedoch entsprechen wiederum dem Text, den Philippus de Barberiis gibt51).

Innerhalb weniger Jahre also wurde in Norddeutschland eine nur zwei Jahrzehnte alte italienische Druckschrift bestimmend für Gestaltungen des Sibyllenthemas, einmal in literarischer Form, die beiden anderen Male in der darstellenden Kunst. Es wäre genauer zu prüfen, welche gegenseitigen Abhängigkeiten hier bestehen, und es wäre auch zu untersuchen, ob es eine kontinuierliche norddeutsche Sibyllentradition gab, zumal die frühesten Darstellungen zu diesem Komplex, die aus dem gesamten deutschen Kulturraum bekannt sind, im 14. und 15. Jahrhundert in Niedersachsen und Westfalen geschaffen wurden52). Der Lüner Teppich entstand früher als die Malereien in Goslar, möglicherweise auch früher als das geistliche Schauspiel, das allein wegen der regionalen Gegebenheiten in sehr enger Verbindung mit der Ausschmückung des Huldigungssaales gesehen werden muß, und so könnte dieser Teppich das älteste Beispiel für die Barbieri-Rezeption in Deutschland sein. Doch auch ohne diese Prämisse dürfte erkennbar sein, von wie hoher Bedeutung diese Handarbeit – gerade auch als solche – für die deutsche, wenn nicht gar für die europäische Kunst- und Kulturgeschichte ist. Gerade vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Vermittlung des Stoffes und der Urheberschaft für den Entwurf des Bildprogrammes besonders drängend, ohne daß darüber an dieser Stelle Auskunft gegeben werden könnte. Auffällig ist, daß die Umschrift eines Lüner Teppichs nur in diesem einen Fall den Namen des Propstes, Nikolaus Schomaker, nennt. Das kann seine einfache Erklärung darin finden, daß es die Größe des Teppichs eben nur in diesem Fall zuließ, den Namen in die Inschrift aufzunehmen, um auf diese Weise der Namensnennung der Priorissa zu entsprechen; im Falle der anderen Textilien ist diese Entsprechung durch die Einarbeitung der Wappen erreicht. Dennoch ist der Gedanke an eine Vermittlung Schomakers nicht unbedingt auszuschließen. Das erste geistliche Amt, das er nach seinem Studium bekleidete, war das eines Domherrn zu Hildesheim53). Er behielt es bis zu seinem Tode bei, so daß die Verbindungen dorthin vermutlich nicht abrissen. Zumindest zu Beginn seines Kanonikats hat er in Hildesheim residiert, und mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte ihm der heute verlorene Freskenzyklus mit Sibyllen und antiken Weisen aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts im Atrium des dortigen Godehardklosters aus eigener Anschauung bekannt gewesen sein54). Eine Kenntnis des Sibyllenthemas für Schomaker anzunehmen, dürfte nicht verfehlt sein. Wie es aber zum Entwurf für den Teppich kam, der die Sibyllen in Beziehung zu den Propheten setzt und damit in einer anders bestimmten Tradition steht, ist durch diese Vermutung nicht zu klären.

Knauf sieht „eine gewisse Akzentlosigkeit in dem strengen Dekorationssystem des Teppichs“55). Diese Auffassung mag Resultat einer stilkritischen Betrachtung sein, der kompositorische Aufbau des Ganzen setzt indessen sehr wohl eindeutige Akzente. Der formale und vor allem inhaltliche Mittelpunkt ist das Medaillon mit der Darstellung Christi Geburt. Indem Gottvater und der Heilige Geist zusätzlich in die Darstellung eingebracht werden, erhält es eine weitere Sinndimension, vermittelt durch die gleichsam allumfassende Trinität. Außer dem Mittelfeld heben sich aus dem formalen Gefüge gleichförmig gestalteter Medaillons schon aus optischen Gründen auch die vier Eckfelder heraus. Dieser Eindruck verstärkt sich durch eine vom Übrigen abweichende Darstellung: gezeigt werden Evangelistensymbole mit vergleichsweise sparsamer Schriftbeigabe. Ihre inhaltlichen Bezüge zur Zentraldarstellung sind deutlich: die Evangelisten stehen stellvertretend für das Neue Testament, für das Buch der Heilsgeschichte, deren Beginn durch die Geburtsszene dokumentiert ist. Außerdem mag im Bewußtsein des zeitgenössischen Betrachters verankert gewesen sein, daß die Evangelistensymbole Bestandteil der Maiestas-Domini-Darstellungen sind, die das Ziel der Heilsgeschichte zum Inhalt haben. Diese fünf Rundfelder setzen also einen durchaus sichtbaren, inhaltlich auf das Neue Testament bezogenen Akzent.

Da sie, betrachtet unter formalen Gesichtspunkten, zugleich die Endpunkte und den Schnittpunkt der beiden Diagonalen markieren, kann man in ihnen auch die stabilisierenden Elemente eines symmetrischen Aufbaus sehen. Bestimmend für die weitere formale Struktur des Bildprogramms ist die vorgegebene Zahl der übrigen Medaillons; die Gegenüberstellung von zwölf Sibyllen und den sog. zwölf kleinen Propheten erfordert 24 Felder, so daß weitere sechs Felder durch andere Personen besetzt werden mußten. Dazu wählte man zwei der sog. großen Propheten sowie vier weitere Gestalten des Alten Testaments.

Die Ordnung dieser Personen erfolgte in der Weise, daß diejenigen Figuren dem Zentrum am nächsten stehen, deren Aussagen in ihrem Gehalt die deutlichsten Bezüge zum Mittelfeld herstellen. So enthalten die neun Felder, die das Geburtsmedaillon wie einen Rahmen umgeben, besonders wichtige Prophezeiungen – gerade hier fanden die Propheten Jesaja und Jeremia ihren Platz – oder aber solche, die durch die Autorität von Schriftstellern abgesichert sind: nach den Ausführungen Barbieris gilt das für die delphische, cimmerische, cumanische und hellespontische Sibylle56). Ihre Darstellungen bilden die Eckpunkte dieses Rahmens. Eine zweite, innere Rahmung des Zentralbildes ergibt sich durch die Anordnung der vier christologischen Allegorien, die gewissermaßen alle Prophetien aufnehmen und schließlich auf die Geburtsszene weiterleiten. In den symbolisch-allegorischen Bereich gehören auch die vier alttestamentlichen Figuren des Moses, Aaron, David und Salomo, von denen jede in typologischen Beziehungen zu Christus steht. David und Salomo gehören außerdem zu den Vorfahren Christi, wie sie in der Darstellung der Wurzel Jesse auf einem anderen im Kloster Lüne gearbeiteten Teppich (Nr. 58) erscheinen.

Der Weihnachtsteppich gibt sich in seinem Aufbau also deutlich als Zentralkomposition zu erkennen, wenngleich erstes Betrachten einen scheinbar gegenteiligen Eindruck erweckt. Weitaus deutlicher wird dieses kompositorische Prinzip bei einem später angefertigten Teppich, der sich auf das zweite, im Kloster vermutlich festlicher gestaltete christliche Hochfest bezieht: der Osterteppich (Nr. 60). Dort wird das Zentrum der Darstellung wesentlich augenfälliger hervorgehoben, und insofern mag es gestattet sein, eine Weiterentwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten in den Handarbeiten anzunehmen. Doch als Zentralkomposition ist bereits das Programm des Weihnachtsteppichs zu klassifizieren.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich ein weiterer Aspekt. Die Umschrift des Mittelfeldes bietet nicht ein Bibelzitat oder eine andere Schriftstelle, sondern sie nimmt einen schon zur Entstehungszeit des Teppichs jahrhundertealten liturgischen Text auf, der als Antiphon Bestandteil der Christnachtsfeier ist57). So wird durch diese Darstellung nicht nur deren bildliche Aussage, sondern auch eine starke liturgische Komponente in den Vordergrund gerückt. Mit dieser Beobachtung lassen sich Überlegungen zur Benutzung des Teppichs verbinden. Es ist davon auszugehen, daß er wie die feierliche Liturgie, zugleich komplementär zu ihr, nur bei besonderen Anlässen, im konkreten Fall vielleicht also nur in der Christnacht, verwendet wurde. Daß er dabei auf dem Boden ausgebreitet worden wäre, erscheint kaum wahrscheinlich. Dagegen spricht schon die Anordnung der Schrift, zu deren Lesung der Teppich aufgehängt sein muß. Möglicherweise besaß das Kloster eigens für diesen Zweck angefertigte Vorrichtungen; ob ein Textil dieser Größe als Ambobehang verwendet werden konnte, erscheint fraglich.

Eindeutig jedoch ist, daß der Teppich nicht etwa als ornamentales Kunstwerk, sondern als Ausdrucksmittel für den Gottesdienst gedacht war und seine Entstehung auf Motive dieser Art zurückgeht. Dafür bezeichnend ist nicht nur der immanente liturgische Akzent, sondern auch der nicht als bloße Floskel aufzufassende Passus der Umschrift, der auf die Reform des Klosters nach den Regeln der Bursfelder Kongregation Bezug nimmt: vornehmstes Anliegen dieser benediktinischen Erneuerungsbewegung war die Pflege des cultus divinus58). Gerade im Hinblick auf diesen Wesenszug erhält übrigens die Bezeichnung „Weihnachtsteppich“ den Vorrang gegenüber anderen Benennungen. Mit Hilfe dieses Teppichs ließ sich einerseits – zur Ehre Gottes, wie es wiederum in der Umschrift heißt – eine besonders festliche Atmosphäre für die Feier des Weihnachtsfestes schaffen, andererseits aber der durch das Wort vermittelte Inhalt der christlichen Lehre in eine sinnenfälligere, weniger abstrakte Verständnisebene umsetzen, die den Aufnahmemöglichkeiten der Gottesdienstteilnehmer vermutlich besser gerecht wurde.

Der Teppich ist also in seiner genuinen Funktion vor allem Zeugnis klösterlicher Frömmigkeit, wie kompliziert auch immer die Strukturen des inhaltlichen Aufbaus sein mögen. Und in diesen Zusammenhang ist auch zu setzen, daß sich am unteren Rand die Initialen von Konventualinnen finden, die an seiner Fertigstellung beteiligt waren. Der aus anderen Motiven entstehende Wunsch, auf diese Weise die Erinnerung an die eigene Person über den Tod hinaus festzuhalten, tritt hier weniger in Erscheinung. Das mag sich bei der Gestaltung der jüngeren Teppiche verändert haben, bei denen diese Initialen mehr Raum einnehmen und deshalb stärker hervortreten. Im Kommentar zum Osterteppich (Nr. 60) werden alle Initialen, die sich auf den großen Teppichen des Klosters finden, im Zusammenhang behandelt.

Textkritischer Apparat

  1. Das Wort bricht aus Platzmangel ab.
  2. Mithoff: MISSUBUS.
  3. Fehlt bei Schütte.
  4. Mithoff: UIDESTE.
  5. Sic!
  6. Mithoff: IACEBIS.
  7. Mithoff: INGENO.
  8. Schütte: CUIUS.
  9. Schütte: NEUM.
  10. Mithoff: I(M)MANU.
  11. Sic!
  12. Mithoff: ABACUS.
  13. Mithoff: UENIES.
  14. Mithoff: UENIES.
  15. Mithoff: UENIAT.
  16. Sic!
  17. Gebhardi: GENETRICIS.
  18. Gebhardi: SCHOMAKERI.
  19. Lesung unsicher.
  20. Nach diesen Buchstaben folgt außerhalb der Schriftzone ein einzelnes P.

Anmerkungen

  1. Wegen der großen Zahl der Inschriften wird im folgenden von dem sonst benutzten Ordnungssystem mit Hilfe von Großbuchstaben abgewichen und ein aus Zahlen und Kleinbuchstaben kombiniertes System verwendet.
  2. Ex. 4, 13.
  3. Als Bibelzitat nicht nachzuweisen.
  4. Ps. 18, 6.
  5. Diese sowie die Anmerkungen 9, 11, 13, 15, 19, 21, 23, 25, 29, 30 und 32 bieten als Quellennachweis jeweils den vollständigen Text der sibyllinischen Prophetien, wie ihn der unten im Kommentar behandelte Traktat des Philippus de Barberiis von 1481 gibt. Die Inkunabel selbst (vgl. Anm. 44) konnte nicht eingesehen werden. Der Wortlaut entspricht deshalb der Wiedergabe bei Mâle, Sibyllas, S. 31–33, der der Druckfassung von 1481 folgt. Mâle hat zum Vergleich eine etwas ältere Pariser Handschrift herangezogen, die ebenfalls den Sibyllentraktat Barbieris enthält und in einigen Fällen andere Lesarten bietet (S. 30). Maßgeblich für seinen Abdruck ist jedoch die Fassung von 1481. – Der Hinweis auf Philippus de Barberiis findet sich bereits bei Schütte, S. 42, Anm. 4 (mit Textauszügen). – „Sibylla Persica: Ecce bestia conculcaberis et gignetur Dominus in orbe terrarum, et gremium virginis erit salus gentium et pedes ejus erunt in valitudine hominum.“ (Hervorhebung hier und im folgenden durch den Bearbeiter.)
  6. Os. 14, 6: „... ros Israhel germinabit quasi lilium et erumpet radix eius ut Libani.“
  7. Ct. 3, 11.
  8. Joel 3, 18: „... in die illa stillabunt montes dulcitudinem et colles fluent lacte.“
  9. Sibilla Libyca: „Ecce veniet dies et illuminabit condempsa tenebrarum et solventur nexus Synagogae et desinent labia hominum et videbunt regem viventium; tenebit illum in gremio virgo domina gentium et regnabit in misericordia et uterus matris erit satua cunctorum.“
  10. Am. 9, 11: „in die illo suscitabo tabernaculum David quod cecidit et reaedificabo aperturas murorum eius.“
  11. Sibylla Delphica: „Nascetur propheta absque matris coitu ex virgine ejus.“
  12. Is. 9, 6.
  13. Sibylla Cimmeria (Chimica): „In prima facie virginis ascendet puella pulchra facie, prolixa capillis, sedens super sedem stratam, dans ei ad comedendum vis proprium, id est lac de coelo missum.“
  14. Abd. 17: „et in monte Sion erit salvatio et erit sanctus.“
  15. Sibylla Erythraea: „In ultima autem aetate humiliabitur Deus et humanabitur proles divina, jungetur humanitati divinitas. Jacebit in feno agnus et officio puellari educabitur Deus et homo. Signa praecedent apud Apellas. Mulier vetustis sima puerum praemium corripiet. Boetes orbis mirabitur, ducatum praestabit ad ortum.“
  16. Mich. 1, 3 [!].
  17. Beginn einer Antiphon, die in der Christnacht gesungen wurde, überliefert bereits in dem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Responsoriale von Compiegne: „Liber Responsalis sive antiphonarius“, in: PL 78, Sp. 725–850, hier Sp. 735. – Vgl. den Kommentar zu Nr. 64, dazu bes. Anm. 5, 6 und 8.
  18. Mich. 5, 2: „et tu Bethleem Ephrata parvulus es in milibus Iuda“; Mt. 2, 6: „et tu Bethleem terra Iuda nequaquam minima es in principibus Iuda.“
  19. Sibylla Samia: „Ecce veniet dies et nascetur de paupercula et bestiae terrarum adorabunt eum et dicent laudate eum in atriis coelorum.“
  20. Als Bibelzitat nicht nachzuweisen.
  21. Sibylla Cumana (nach Vergil, Ecl. IV): „Ultima Cumaei venit jam carminis aetas / Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. / Jam redit et virgo, redeunt Saturnia regna, / Jam nova progenies coelo demittitur alto. / Casta, fave, Lucina, tuus jam regnat Apollo.“ – S. u. Anm. 34.
  22. Jer, 31, 22: „... quia creavit Dominus novum super terram femina circumdabit virum.“
  23. Sibylla Hellespontica: „De excelsis coelorum habitaculo prospexit Deus humiles suos. Et nascetur in Diebus novissimis de virgine hebraea in cunabulis terrae.“
  24. Hab. 2, 3: „... apparebit in finem, et non mentietur si moram fecerit expecta illum quia veniens veniet et non tardabit.“
  25. Sibylla Phrygia: „Flagellabit dominus potentes terrae, et Olympo excelso veniet, et firmabit consilium in coelo, et anuntiabitur virgo in vallibus desertorum.“
  26. Apc. 1, 5.
  27. Agg. 2, 8.
  28. Za. 9, 9.
  29. Sibylla Tiburtina: „Nascetur Xristus in Bethleem et annunciabitur in Nazareth, regente Tauro pacifico, fundatore quietis: O felix mater cujus ubera illum lactabunt!“
  30. Sibylla Europa: „Veniet ille et transibit montes et colles et latices sylvarum Olympi; regnabit in paupertare et dominabitur in silentio et egredietur de utero virginis.“
  31. Mal. 4, 2.
  32. Sibylla Agrippa: „Invisibile verbum palpabitur et germinabit ut radix et siccabitur ut folium, et non apparebit venustas ejus et circumdabit eum alvus maternus et flebit Deus laetitia sempiterna et ab hominibus conculcabitur et nascetur ex matre ut Deus et conversabitur ut peccator.“
  33. Notiz aus der Klosterannalistik zum Jahre 1502: Item in isto anno consuerunt sorores Tapete cum Sybillis et prophetis: Nolte, S. 115, Nr. 1.
  34. Vgl. Alföldi, Weltherrscher. – In diesen Zusammenhang fügt sich ein, daß Kaiser Augustus eine offizielle Sammlung sibyllinischer Sprüche anlegen ließ: Weißenhofer, Darstellung, hier S. 46.
  35. Kraus, Geschichte, S. 353; Weißenhofer (wie Anm. 34), S. 45.
  36. Die Sibyllenthematik behandeln u. a. Isidor, Beda Venerabilis und auch Hrabanus Maurus; vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, S. 150, s. v. Sibyllen (mit Textnachweisen).
  37. Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XVIII 23.
  38. Weißenhofer (wie Anm. 34), S. 46. Beispiele auch bei Kraus (wie Anm. 35), S. 357. Die Gegenüberstellung von zehn Sibyllen und antiken Philosophen zeigen die Schnitzereien Jörg Syrlins am Chorgestühl in Ulm aus der Zeit um 1470; vgl. dazu die Monographie von Vöge, Jörg Syrlin.
  39. Vgl. Kraus (wie Anm. 35), S. 358. Zahlreiche Beispiele aus der italienischen Kunst bei Mâle (wie Anm. 5), S. 37 ff. – Besonders hinzuweisen ist auf die Arbeiten des florentinischen Goldschmiedes und Kupferstechers Baccio Baldini, der Vorlagen für eine Blattfolge von zwölf Sibyllen und zwölf Propheten schuf. Den Kupferplatten sind die Texte der sibyllinischen Weissagungen als Inschrift beigegeben, einige von ihnen folgen dem Wortlaut des Barbieri-Traktates. Die Datierung der Kupfer wird für die Jahre 1477/1481 angenommen: Kolloff, Art. Baccio Baldini; Beschreibung der Sibyllenfolge S. 583–585.
  40. Analecta Hymnica, Bd. 54, S. 269–275, Nr. 178. Die Dichtung, ursprünglich Tropus zum „Libere“ in der dritten Nokturn, dann Sequenz des Totenamtes, wird hier noch Thomas von Celano († nach 1250) zugeschrieben.
  41. Vöge (wie Anm. 38), S. 18, Anm. 16.
  42. Vöge (wie Anm. 38), S. 17 f.
  43. Besonders zu erwähnen ist der Druck des Lactanz 1465 und das 1474 erschienene Werk „De christiana religione“ des Marsilius Ficinus; vgl. Vöge (wie Anm. 38), S. 17; Weißenhofer (wie Anm. 34), S. 46; Mâle (wie Anm. 5), S. 27 f.
  44. 1. Dezember 1481 in Rom bei Johannes Philippus de Lignamine. Der Traktat findet sich fol. 6 v–19 v. Die Inkunabel trägt den Titel „Discordantiae sanctorum doctorum Hieronymi et Augustini“ und enthält Abhandlungen zu verschiedenen Themen, darunter auch solche liturgischer Art. Die „Discordantiae“ erschienen unter demselben Datum in einer erweiterten Ausgabe ebenfalls im Druck von J. Ph. de Lignamine, um 1482 wurden sie erneut in Rom gedruckt, nunmehr bei Georg Herolt und Sixtus Riessinger; vgl. Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 3, Sp. 401 f., Nr. 3385–3387.
  45. Mâle (wie Anm. 5), S. 37 ff., bietet mehrere Beispiele mit Nachweis der Textabhängigkeiten. Propheten- und Sibyllenzyklen begegnen etwa am Grabmal des Papstes Sixtus IV. (1493), in der Kirche St. Maria Maggiore zu Spello in Umbrien (1501) oder – von der Hand Raphaels – in der Kirche St. Maria in Minerva in Rom.
  46. In diesem Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, daß auch die Wiedergabe einiger Bibelstellen in den Teppichinschriften nicht mit dem Vulgatatext übereinstimmt; vgl. o. Anm. 6, 18, 22, vor allem 24, auch Anm. 16 (Zuweisung eines Micha-Zitats an Jona).
  47. Vgl. Kraus (wie Anm. 35), S. 347–373.
  48. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 759 Helmst.; Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 2, S. 193 f., Nr. 839. – Edition: Schönemann, Sündenfall; S. XII Handschriftenbeschreibung. In einem Akrostichon der gereimten Vorrede gibt sich als Verfasser dieses vom Herausgeber als „Der Sündenfall“ betitelten Schauspiels Arnoldus Immensen zu erkennen, den Schönemann als Einbecker Geistlichen ansieht.
  49. Die Abweichungen erscheinen jedoch nicht gravierend. So heißt es im Text der persischen Sibylle (Vers 2879) egredietur statt gignetur, orbem statt orbe terrarum, sciencium statt gentium (s. o. Anm. 5). Von Bedeutung ist allerdings, daß die Sibylla Erithrea eine Prophetie vorträgt (Vers 2948), die Barbieri der hellespontischen Sibylle zuweist (s. o. Anm. 23), während diese einen Text nennt (Vers 3159), den der Traktat nicht enthält: Jesus cristus nascetur de casta. Genau diese Passage erscheint nun als Beigabe der Sibylla Hellespontica auch in dem von Raphael geschaffenen, bei Mâle (wie Anm. 5), S. 43, behandelten Sibyllenzyklus. Da aber auch hier die übrigen Beischriften mit dem Barbieri-Text übereinstimmen, hält Mâle – unkritisch zwar, sicherlich aber zu Recht – an der Abhängigkeit fest, wenngleich eine genauere Untersuchung der Textrezeption erforderlich gewesen wäre. Mutatis mutandis gilt dasselbe für das hier genannte Schauspiel; im Kern kann die Abhängigkeit vom Sibyllentraktat des Italieners nicht zweifelhaft sein.
  50. Müller-Grote, Malereien; Beschreibung der Sibyllendarstellung mit Wiedergabe der Inschriften S. 25 f. – Verf. war die Existenz des Lüner Weihnachtsteppichs bekannt, er behandelt ihn jedoch nicht, weil er ihn nicht aus eigener Anschauung kannte (S. 81).
  51. Dabei sind die Abhängigkeiten vom Traktat Barbieris noch enger als bei dem Schauspiel, auch die Prophetie der Sibylla Hellespontica ist hier beibehalten worden. Dennoch bestehen – wie auch in Lüne – kleinere Differenzen. Von Interesse ist, daß der Text der samischen Sibylle eine mit dem entsprechenden Text des Teppichs identische Lesart hat, die von Barbieri abweicht: statt dies steht dives (s. o. Anm. 19). Auch hier sind noch Einzelfragen der Textgeschichte und -überlieferung zu klären. Dennoch ist im Grundsatz nicht in Zweifel zu ziehen, daß die festgestellten Textabhängigkeiten bestehen.
  52. Vöge (wie Anm. 38), S. 23.
  53. Nachweise im Kommentar zu seiner Grabplatte unter Nr. 63.
  54. Beschreibung des Zyklus’ von der Hand des Konventualen Johannes Legatius in: Leibniz (Hg.), Scriptores, Bd. 2, S. 410; Wiederabdruck bei Vöge (wie Anm. 38), S. 170 f.
  55. Knauf, S. 32.
  56. Mâle (wie Anm. 5), S. 31: „Sibylla Delphica ... de qua ait Chrisippus“; „Sibylla Cimmeria ... de qua Ennius“. S. 32: „Sibylla Cumana ... referente Virgilio in lib. Bucolic“; „Sibylla Hellespontica ... de qua scribit Heraclides“. Zum Vergil-Zitat vgl. o. Anm. 21 und 34. Bei den drei anderen Autoren handelt es sich neben dem Römer Ennius (239–169) um Chrysippos von Soloi (ca. 281–208) und Herakleides Pontikos d. Ä. (ca. 388–310). Einzelheiten wurden nicht überprüft.
  57. Vgl. o. Anm. 17.
  58. Vgl. Linneborn, Reformation, hier 22, 1901, S. 49.

Nachweise

  1. Gebhardi, Coll. II, S. 400 (nur A); Mithoff, S. 125 (ohne D); Schütte, S. 40–43 (ohne D).
  2. Abbildung: Krüger, Stickereien, S. 115, Abb. 5; Schütte, Tafel 43, 44; Knauf, S. 116.
  3. Erwähnung: Knauf, S. 32, 47.

Zitierhinweis:
DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Nr. 57 (Eckhard Michael), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di024g002k0005705.