Inschriften: St. Michaeliskloster und Kloster Lüne bis 1550

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 24: Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne (1984)

Nr. 54 Kloster Lüne Anfang 16. Jh.

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Flügelaltar mit geschnitzten Darstellungen und Figuren im Chor der Klosterkirche. Als Hauptszene ist in der Mitte des Schreins, über seine gesamte Höhe reichend, die Kreuzigung dargestellt. Beiderseits dieses Mittelfeldes befinden sich je zwei übereinander angeordnete Passionsdarstellungen: links unten Gefangennahme, darüber Christus vor Hannas; rechts oben Christus vor Kaiphas, darunter Handwaschung des Pilatus. Dem Schrein ist in der Mitte ein quadratisches Feld aufgesetzt, das die Himmelfahrt Christi zeigt. Alle Felder besitzen innen als oberen Abschluß eine Gewölbearchitektur, nach vorn sind sie durch flachbogige Arkaden auf unterschiedlich ornamentierten, gedrehten Säulchen abgeschlossen. Die Bögen enthalten Maßwerkbildungen aus Schlingen und Ranken, die der gesamten vorderen Rahmung den Charakter filigraner Baldachine verleihen. Beide Säulchen des Mittelbaldachins tragen auf halber Höhe die Statuette eines Heiligen. Die Flügel enthalten jeweils acht Apostel- und Heiligenfiguren, gleichmäßig in zwei übereinanderliegenden Zonen angeordnet, ebenfalls unter Baldachinen aus Gewölbearchitektur und vorgeblendetem Maßwerkfiligran stehend. Die Aufstellung der Figuren ist nicht mehr ursprünglich. Sie stehen heute in folgender Reihenfolge: linker Flügel, oben: Katharina1) – Andreas – Petrus – Paulus; unten: Johannes Bapt. – Simon (?)2) – Johannes Ev.3) – Bartholomäus; rechter Flügel, oben: bartloser Heiliger mit Buch – Jacobus maior – Jacobus minor4) – Benedikt; unten: Thomas5) – Thomas von Aquin6) – Philippus (?)7) – Georg. Der erhaltenen Struktur der Baldachine ist zu entnehmen, daß in der Mitte einer jeden Zone heute verlorene, teilende Säulchen angebracht waren, so daß die Flügel in Anlehnung an das Gliederungsprinzip des Schreins je vier Felder besaßen, in denen jeweils zwei Figuren standen. Dem entspricht, daß sich die vier Figuren in der oberen Zone des linken Flügels durch gegenseitiges Zuwenden deutlich in zwei Gruppen trennen. Hier scheint die ursprüngliche Anordnung unverändert zu sein. Bei den übrigen Figuren ist in der Aufstellung kein System zu erkennen. Vermutlich standen aber auch sie paarweise: deutlich sind teils nach rechts, teils nach links gewendete Gestalten zu unterscheiden.

Die korrekte Aufstellung wäre wiederherzustellen, wenn sich die Nimbeninschriften auf den Rückwänden der Flügel erhalten hätten. Mithoff fand sie angeblich noch ohne Beschädigung vor8). Heute aber ist die ursprüngliche Gestaltung des Hintergrundes entweder zerstört, verändert oder durch unsachgemäße Eingriffe entstellt. Der rechte Flügel zeigt Reste eines schachbrettartigen Hintergrundes: in schlichter Vergoldung gegebene Quadrate wechseln mit solchen, die ein Ornament auf punziertem Goldgrund tragen. Hinter den Köpfen der Schnitzfiguren erscheinen aufgemalte Nimben, jedoch ohne Inschrift.

Völlig anders ist die Rückwand des linken Flügels behandelt. Nach dem Bild, das die erhaltenen Reste vermitteln, war der gesamte Hintergrund mit punziertem Granatapfelmuster auf Vergoldung versehen, den Heiligengestalten war ein Nimbus mit Inschrift beigeordnet. Die Zerstörung der Hintergrundfassung ist so weitreichend, daß zwei Nimbeninschriften völlig verloren und die übrigen nur unvollkommen lesbar sind. Dazu kommt, daß – wie eine genaue Untersuchung ergab – die sechs vertikal angebrachten Bretter, aus denen die Rückwand gebildet ist, heute nicht mehr in der ursprünglichen Reihenfolge stehen: das zweite und dritte Brett von Norden sind miteinander vertauscht. Dadurch ergibt sich eine Zerteilung oder eine Verzerrung der Nimben, die hinter den Köpfen der Schnitzfiguren noch erhalten sind. So sieht man bei den links stehenden Figuren in beiden Zonen nur einen Halbnimbus, während anschließend zwischen der ersten und zweiten Figur ein ganzer Nimbus erscheint, ohne daß er einer von ihnen zugeordnet wäre. Die folgende Wiedergabe der Inschriften berücksichtigt diesen Sachverhalt, indem die Beschriftung der zusammengehörigen Nimbenteile zusammenhängend gelesen wurde. Danach ergibt sich in der oberen Zone im Nimbus der links außen stehenden Figur die Inschrift (A), in dem der rechts außen stehenden die Inschrift (B). In der unteren Zone lauten die Nimbeninschriften von links nach rechts (C), (D), (E) und (F). Die Buchstaben stehen erhaben zwischen Stegen auf punziertem Goldgrund.

Maße: H.: 228,5 cm; B.: 146,0 cm (nur linker Flügel); Bu.: 3,5 cm.

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis.

Kloster Lüne [1/5]

  1. A

    S K[A]TER ...

  2. B

    ..... U ..

  3. C

    S[CT] ......

  4. D

    .... T[O] . [AS]9)

  5. E

    ....... [H]A ...

  6. F

    [B]ARTOLOMEUS

Kommentar

Die erhaltenen Buchstaben zeigen die charakteristischen Merkmale der frühhumanistischen Kapitalis: epsilonförmiges E, Verdickungen im oberen und unteren Oval des O, schrägstehende Außenhasten sowie hochstehendes Mittelteil bei M10). Die hier gegebene Datierung erfolgte nach diesem Schriftbefund.

Der Altar, heute auf einer nicht zugehörigen Predella aufgestellt, soll ursprünglich als Gemeindealtar gedient und sich weiter westlich im Kirchenschiff befunden haben, etwa auf der Grenze zwischen Gemeinderaum und Chor11). Im Zuge der Umgestaltung des Kircheninneren um das Jahr 1648 erhielt er seinen heutigen Platz12). Zutat dieser Zeit dürfte das Sprengwerk über den Flügeln und dem Schrein sein.

Der frühere Aufsatz des Hauptaltars wurde 1655 in die Patronatskirche der Familie von Bülow in Gudow (Kreis Herzogtum Lauenburg) geschenkt13). Dort hat er sich bis heute erhalten. Es handelt sich ebenfalls um einen gotischen Flügelaltar mit geschnitzten Figuren. Ursprünglich standen sie in einer Reihe auf einer Sockelzone unter Baldachinen, im Zentrum des Schreins befindet sich eine Marienkrönung. In der Barockzeit wurden die Flügel abgenommen und auf den Schrein gesetzt. Die so geschaffene Aufstellung zu zwei Zonen erhielt eine Rahmung im Stil der Zeit. Die Außenseiten der Flügel besitzen in Malerei je vier Darstellungen aus der Passion Christi14).

Anmerkungen

  1. Das spezifische Attribut fehlt. Die Inschrift (A) erlaubt jedoch diese Identifizierung mit völliger Eindeutigkeit.
  2. Das Attribut fehlt. Unterhalb des angewinkelten rechten Armes beginnt etwa in Hüfthöhe eine tiefe, in gleicher Breite geradlinig nach unten fortlaufende Kehlung, die ohne Zweifel das zugehörige Attribut aufgenommen hat. Es liegt nahe, dabei an die Säge, das Kennzeichen des Apostels Simon, zu denken. Diese Annahme erhält zusätzliches Gewicht, wenn man die frühere Ausstattung der Figuren mit Attributen in die Überlegungen einbezieht. Durch eine ältere, im Kloster vorhandene Fotografie ist dieser Zustand dokumentiert. Dort erscheint die Säge als Attribut des Hl. Benedikt, ein gänzlich irriges Ergebnis früherer Restaurierung, das heute rückgängig gemacht worden ist. Die Säge ist heute verloren; wie aber der Fotografie zu entnehmen ist, könnte sie nach ihren Abmessungen in die erwähnte Kehlung gepaßt haben. Deshalb wird hier die Identifizierung als Simon vorgeschlagen. Als andere Attribute wären allenfalls noch eine Lanze (Matthias) oder, noch weniger wahrscheinlich, eine Keule (Judas Thaddäus) denkbar. Vgl. Anm. 5 und 9.
  3. Das Attribut fehlt. Die ausgestreckte rechte Hand dürfte jedoch einen Kelch gehalten haben, außerdem macht die Darstellung eines jugendlichen, bartlosen Mannes die Identifizierung wahrscheinlich.
  4. Das Attribut ist nicht die Keule (Judas Thaddäus), sondern die Walkerstange. Das ergibt sich deutlich aus den Abmessungen sowie aus der Gestaltung des oberen Teiles dieses Werkzeuges. Eine Keule wäre kaum schulterhoch gewesen und hätte zudem keinen sorgfältig bearbeiteten, glatten Stiel gehabt. Vgl. dazu die Abbildung bei Braun, Tracht und Attribute, Sp. 163, Abb. 72, die Jacobus minor mit der Walkerstange in einer Darstellung aus der Zeit um 1500 zeigt.
  5. Ausschlaggebend für diese Deutung ist die große Ähnlichkeit dieser Figur mit der Gestalt des Christus im Schrein des Altars. Thomas galt als Zwillingsbruder Christi und wurde ihm zum Verwechseln ähnlich gestaltet (vgl. dazu: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 8, Sp. 468–475, s. v. Thomas). Als Attribut eignet ihm die Lanze, die er hier sehr wohl in der rechten Hand gehalten haben könnte. Die oben in Anm. 2 erwähnte Fotografie zeigt ihn mit dem Gegenstand, der sich heute bei der zweiten Figur von rechts im unteren Teil des rechten Flügels findet. Es handelt sich um einen Vierkantstab mit einer verdickten Endung, oben ist er zugespitzt. Vielleicht hat man hier die obere Hälfte einer Lanze vor sich, so daß die Fotografie den korrekten Zustand wiedergibt. Zum Platz der Figur in der Gesamtdisposition vgl. Anm. 9.
  6. Die unter Anm. 2 genannte Fotografie zeigt einen Kelch als Attribut. Dieser Umstand stützt die Identifizierung dieser Figur zusätzlich zur Darstellung als Ordensgeistlicher.
  7. Die Figur hält heute mit beiden Händen den in Anm. 5 beschriebenen Vierkantstab vor sich, gelehnt auf die linke Schulter. Diese Haltung legt die Vermutung nahe, daß das zugehörige Attribut der Kreuzstab war, die Figur also den Apostel Philippus darstellt. Der Vierkantstab bildete entweder den Vertikalbalken dieses Kreuzstabes, oder aber er gehört zur Figur des Thomas, sofern man ihn wegen der Spitze am Ende für den Rest einer Lanze ansehen will. Unter dieser Voraussetzung müßte der Kreuzstab in seiner Gesamtheit als verloren gelten.
  8. Mithoff, S. 122: „In den Schreinsflügeln stehen die hl. Zwölfboten, ausserdem St. Johannes d. T., St. Paulus, die hl. Katharina und der hl. Georg. Die Namen dieser Statuetten sind den goldenen Nimben eingepreßt.“ Da hier die Figuren des Benedikt und des Thomas von Aquin unerwähnt bleiben, ist bereits die Identifizierung der Gestalten fehlerhaft. Das aber bedeutet, daß die Zuweisung nicht anhand der Nimbeninschriften erfolgt sein kann, und daraus folgt wiederum, daß die Inschriften zur Zeit Mithoffs kaum mehr intakt gewesen sein können.
  9. Diese Inschrift ist als Beweis dafür ausreichend, daß an dieser Stelle ursprünglich die in Anm. 5 als Thomas identifizierte Figur gestanden hat, die heute in der unteren Zone des rechten Flügels aufgestellt ist.
  10. Vgl. dazu Kloos, Epigraphik, S. 155 f.
  11. Knauf, S. 25.
  12. In dieser Zeit wurde der Kirchenraum instandgesetzt, die Gewölbekappen erhielten flache Stuckornamente. Daß diese Arbeiten 1648 abgeschlossen waren, ergibt sich aus der Anbringung dieser Jahreszahl gemeinsam mit dem Wappen und dem Monogramm der Äbtissin C. M. von Estorff in einem Medaillon an der westlichen Gewölbekappe im vierten Joch von Osten.
  13. Das geht aus einer Inschrift hervor, die heute an der Rückwand des Altars auf einer Tafel angebracht ist. Die Tafel ist 23,3 cm hoch und 92,5 cm breit und trägt in Fraktur folgenden Text zu fünf Zeilen: ANNO 1655, hat die WohlEhr Würdige, Hoch Edelgebohrne, Andächtige: / Viel Ehr vnd Tugendt Reiche, JungFraw Catharina Margarita / von Estorff Domina, dero Adelichen Jungfraülichen Vorsamelung. / des Closters lühne, dieses Altar Zur Ehre Gottes, / in diese Kirche Vor Ehret. Es handelt sich um die bereits in Anm. 12 genannte Domina.
  14. Der Altar ist auch beschrieben bei: Behrends, Marienkirche, S. 18–21. Die Arbeit erschien auch separat mit anderer Seitenzählung; über den Altar dort S. 12–15.

Nachweise

  1. Beschreibung des Altars: Mithoff, S. 121.
  2. Nolte, Aus dem Kloster Lüne, S. 18.
  3. Knauf, S. 25 f., dazu Abb. S. 53, 54. Sämtlich fehlerhafte Deutung der Schnitzfiguren in den Flügeln.
Addenda & Corrigenda (Stand: 23. August 2019):

In dem aufgeschlagenen Buch, das die Figur des Philippus (?) in der unteren Reihe des rechten Flügels hält, die ursprünglich wohl über zwei Buchseiten verlaufende Inschrift G, deren Reste heute nur noch auf der rechten Seite lesbar sind. Schriftreste finden sich auch in dem Buch der Figur des Thomas ganz links in der unteren Reihe des rechten Flügels, sie sind aber nicht mehr lesbar.1)

Maße: Bu.: ca. 0,5 cm.

Schriftart(en): Fraktur.

  1. G

    [ – – – ] / hen[ – – – ] / Des[ – – – ] / des lan[ – – – ]a)

Zu einer Inschrift auf der Predella des Altars und zur Datierung von Altar und Predella vgl. DI 76, Nr. 101.

Textkritischer Apparat

  1. Insgesamt unsichere Lesung, nur des in der letzten Zeile sicher lesbar.

Anmerkungen

  1. 1.Für den Hinweis auf die Beschriftungen in den Büchern danken wir der Restauratorin der Klosterkammer Kirsten Schröder.
Autorenangabe: Sabine Wehking.

Zitierhinweis:
DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Nr. 54 (Eckhard Michael), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di024g002k0005404.