Inschriften: St. Michaeliskloster und Kloster Lüne bis 1550
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 24: Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne (1984)
Nr. 46 Kloster Lüne 1493
Beschreibung
Grabplatte des Propstes Nikolaus Graurock, im Westflügel des Kreuzgangs im dritten Joch von Süden entlang der Außenwand in den Fußboden eingelassen. Das Kopfende weist nach Süden. Selenit.
Die Platte lag ursprünglich in der Klosterkirche1). Im Mittelfeld befindet sich ein kreisrundes, im Durchmesser etwa 75,0 cm großes, durch eine eingehauene Begrenzung in Form eines geflochtenen Bandes gebildetes Medaillon, das eine Wappendarstellung enthält. Am Rand, beginnend oben links, läuft in erhabenen Buchstaben die Inschrift herum. Ihre letzten drei Worte stehen jedoch in einem geschwungenen Schriftband mit eingerollten Enden über dem Wappenschild. Die vier Eckfelder tragen pflanzliches Ornament. Die teilweise abgetretene Platte ist mehrfach gebrochen, fehlende Stellen wurden mit Mörtel aufgefüllt.
Maße: H.: 269,0 cm; B.: 137,0 cm; Bu.: 11,8 cm, im Schriftband 9,8 cm.
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.
Anno d(omi)ni M° cccc / xciii° xu° kl [...]a) obiit d(omi)n(u)s Ni[c]ola(us) Grauroc[k] / lubic(ensis)b) et in lune pre/posit(us) ac Archidiaco[(us) i(n) e]c)ccl[es]iad) verden[si c]uius a(n)i(m)a // req(u)iescat in pace
Übersetzung:
Im Jahre des Herrn 1493, an den 15. Kalenden [...] starb Herr Nikolaus Graurock, in Lübeck und Lüne Propst sowie Archidiakon in der Verdener Kirche, dessen Seele ruhen möge in Frieden.
Datum: 1493, Juni 172).
Nikolaus Graurock (Schild schräggeteilt, rechts gerautet, links ein springender Hirsch) |
Textkritischer Apparat
- Die Stelle ist völlig zerstört. Sie bietet Platz für etwa drei Buchstaben. Da die Klosterannalen Todestag und -stunde Graurocks überliefern, ist die Rekonstruktion dieses Inschriftbestandteils möglich. Zum Jahre 1493 heißt es: Eodem anno obiit dominus Nicolaus Grawrock praepositus in Lune feria secunda post dominicam in festo sanctorum martyrum Marci et Marcelliani hora sexta post cenam (Meyer, Reformationsgeschichte, S. 168). Der Tag der Heiligen Marcus und Marcellian fällt gemeinhin auf den 18. Juni. Da dieser Tag im Jahre 1493 auf einen Dienstag fiel, die Annalen aber den Montag nennen (feria secunda post dominicam), muß hier der 17. Juni gemeint sein. Das bedeutet, daß die Datierung mit Hilfe des Heiligenkalenders nicht korrekt ist oder der Festtag in Lüne am 17. Juni begangen wurde. Der 17. Juni aber fällt nach Zählung des römischen Kalenders auf die 15. Kalenden des Juli. In der Inschrift ist das xu° kl intakt. Also muß für die Fehlstelle ein iulii eingefügt werden. Damit ist der Todestag Graurocks eindeutig bestimmt, wenngleich der Marcus und Marcellianstag auf den 18. Juni weist.
- Als -us-Kürzung gegeben.
- Der Stein ist an dieser Stelle gänzlich zerstört und mit Mörtel geschlossen. Zur Rekonstruktion wurde hier folgende Buchstabenreihe angenommen: hochgestellte -us-Kürzung / i mit Kürzungsstrich / e. Diese Abfolge wäre grammatisch korrekt. Möglich wäre auch eine Reihenfolge mit u / s mit Oberlänge / e. Dagegen spricht jedoch, daß das Wort archidiaconus am Schluß ein s der runden Form getragen haben müßte. Für ein solches reicht indessen der verfügbare Platz nicht aus. Im übrigen sind alle -us-Endungen in den erhaltenen Worten in Kürzung gegeben.
- Ohne Kürzungszeichen für die Buchstaben es.
Anmerkungen
- Mithoff, S. 128, fand die Platte noch im Kirchenschiff vor.
- Das Datum ist durch die in Anm. a) vorgebrachten Überlegungen gesichert. Nolte, S. 110, Anm. 13, entnimmt der Grabplatte das Todesjahr 1495: „Auf seinem Grabstein: .... id(us) .... 1495! ...“. Hier liegt eine völlig irrige Lesung vor. Vermutlich wurde die Zahlenabfolge Mo cccc xciiio xuo als zusammengehörig begriffen und zu 1495 zusammengezogen, das folgende kl dagegen als id gelesen.
- Nolte, S. 106.
- Abdruck der Urkunde von diesem Tage bei: Pfeffinger, Historie, Bd. 2, S. 634–636.
- Vgl. Nolte, S. 92–106. Zu den Unruhen, in der älteren Literatur „Prälatenkrieg“ genannt, neuerdings: Diederichs, Aufruhr, mit prosopographischen Darstellungen.
- Druck: Pfeffinger (wie Anm. 4), S. 636–638.
- Nolte, S. 108.
- Nolte, S. 109.
- Vgl. die Einträge der Klosterannalen zum Jahr 1481. Gedruckt bei Meyer (wie Anm. a), S. 166 f.
- Über sie vgl. Nr. 36.
- Klosterannalen zum Jahr 1493: Meyer (wie Anm. a), S. 168.
- Klosterannalen zum Jahre 1481: eodem anno fecit dominus Nicolaus Grawrock edificare domum confessoris. (Meyer (wie Anm. a), S. 167). – Ebd., zum Jahre 1482: In eodem anno fecit dominus praepositus Nicolaus Grawrock edificare coquinam secundum reformationem et cellarium et etiam sal super coquinam. – Ebd., zum Jahre 1483: Eodem anno fecit dominus praepositus Nicolaus Grawrock edificare domum, in qua laboratur in sacristia, et etiam domum, in qua reservantur omnia. – Zur Lage der hier genannten Baulichkeiten vgl. das Folgende.
- Vgl. Nr. 45.
- Nolte, S. 111.
- Hodenberg, Lüneburger Urkundenbuch, 7. Abt., S. 731 f., Nr. 1238.
- Meyer (Hg.), Chronik, S. 64.
- Vgl. Bückmann, Domkapitel, S. 59. Ebd., Anm. 6, sind die übrigen dem Domkapitel reservierten Archidiakonate genannt: Sottrum, Scheeßel, Hollenstedt, Hittfeld, Salzhausen und Modestorf (Lüneburg). – S. 86, Anm. 4, erwähnt Bückmann unter Bezug auf Pfeffinger (vgl. oben Anm. 4 und 6), daß die Lüner Propstei mit dem Archidiakon in Bevensen besetzt war, ohne den Namen Graurocks zu nennen. Aus dieser Doppelfunktion folgert er, daß es sich bei der Präpositur um eine Sinekure gehandelt haben müsse. Daß diese Auffassung nicht haltbar ist, geht allein schon aus Graurocks Tätigkeiten für das Kloster hervor.
- Schlöpke, Chronicon, S. 432.
- Vgl. Nr. 15 und 63.
- Im Jahre 1490 wurde auf dem Lüneburger Johannisfriedhof ein Klaus (also Nicolaus) Graurock begraben; seine Ehefrau Windel war bereits 1483 verstorben: Rikemann, fol. 6 v. Es wird sich um einen gleichnamigen Verwandten des Lüner Propstes handeln. Ob die Familie bereits in der vorhergehenden Generation in der Stadt ansässig war, ist ungewiß.
- Schomakers Chronik (wie Anm. 16) , S. 64, zum Jahre 1452: Darvan protesterde de rat ad papam und schickeden to Rome M. Clawes Stoketo und M. Nicolaum Grawerock ...; S. 115, zum Jahr 1458, ist die Gefangennahme Graurocks durch den Grafen von Schwarzburg im Thüringischen erwähnt. Vgl. Nolte, S. 107.
- In den Personallisten bei: Boehn, Anna von Nassau, S. 119, zum Jahre 1479. Zu den übrigen Genannten gehören auch die Pröpste von Ebstorf und Medingen.
Nachweise
- Mithoff, S. 128 (nur bis prepositus).
Zitierhinweis:
DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Nr. 46 (Eckhard Michael), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di024g002k0004602.
Kommentar
Nikolaus Graurock wurde am 20. Dezember 1457 von Bischof Johann von Verden mit der Verwaltung des Klosters Lüne beauftragt3), am 12. Januar 1458 als Propst investiert4). Damit trat er die Nachfolge Dietrich Schapers an, der in den Stadtlüneburger Unruhen zwischen 1454 und 1456 eine Schlüsselrolle gespielt und sich schließlich vor Gericht zu verantworten hatte, nachdem er bereits am 5. Oktober 1451 als Propst abgesetzt worden war, ohne auf sein Amt zu verzichten5). In den ersten Jahren seiner Amtszeit war Graurock in seiner Stellung nicht unangefochten. Widerstände des Konvents, der sein Recht der freien Propstwahl mißachtet sah, wurden durch eine Einigung nach dem Vorbild einer Wahlkapitulation im Jahre 1466 ausgeräumt6). Einige Zeit später, am 3. Februar 1470, machte sich nunmehr der Koadjutor des Bischofs von Verden das Argument zu eigen, der freien Propstwahl sei nicht entsprochen worden, entzog Graurock die Präpositur und ließ durch den Konvent einen von ihm protegierten Kandidaten wählen7). Nikolaus Graurock intervenierte persönlich in Rom und erreichte, daß der Papst am 25. August 1471 alle gegen ihn gerichteten Anordnungen kassierte und ihn in seine alten Rechte einsetzte8). Damit war Graurocks Position als Propst für die Folgezeit gesichert.
Als er starb, hatten sich die Verhältnisse im Kloster gegenüber der Mitte des 15. Jahrhunderts grundlegend geändert: am 19. Oktober 1481 waren in Lüne sex virgines et una conversa aus dem Kloster Ebstorf eingezogen, um die Reformation nach den Bestimmungen der Bursfelder Kongregation einzuleiten9). Einige Tage später trat die bisherige Priorissa Bertha Hoyer von ihrem Amt zurück10). An ihrer Stelle wurde Sophia von Bodenteich gewählt. Damit begann eine Erneuerung des monastischen Lebens, die zu einem Aufschwung des Klosters in der Zeit um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert führte.
Daß Nikolaus Graurock die Reform unterstützt hat, zeigt sich allein an einem Vermerk über ihn in der Chronistik des Klosters: profuit nobis paterne et pie et multis beneficit nobis11). Dem entspricht, daß er noch 1481 damit begann, die secundum reformationem notwendigen Erweiterungsbauten im Klosterbereich aufführen zu lassen12). Das Wirtschafts- und Arbeitsgebäude am Innenhof westlich der Klausur ist bis heute Zeugnis für die Förderung der Erneuerungsbestrebungen durch Nikolaus Graurock. Sichtbares Zeichen dafür ist auch, daß das älteste der farbigen Lüner Banklaken sein Wappen gemeinsam mit dem der Priorissa von Bodenteich zeigt13).
Die Inschrift seiner Grabplatte nennt ihn auch Propst in Lübeck und Archidiakon der Verdener Kirche. Die Lübecker Präpositur hat er nach Nolte zur Mitte der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts erworben14); 1485 heißt er to lubeke unde lune proveste15). Wesentlich früher hatte er das Archidiakonat in Bevensen erhalten, auf das sich die Inschrift bezieht. Bereits 1452 ist er in der Schomaker’schen Chronik in dieser Funktion bezeugt, zugleich als Inhaber des akademischen Grades eines Magisters16). Da der Archidiakon in Bevensen seit 1191 stets ein Verdener Domherr war17), muß Graurock auch ein Kanonikat im dortigen Kapitel besessen haben. Dazu kam ein Kanonikat in Bardowick18). Diese Pfründenhäufung ist nicht ungewöhnlich; bereits bei Propst Weygergang ist sie zu beobachten, und auch Graurocks Nachfolger Nikolaus Schomaker besaß mehrere Kirchenämter19).
Ob er wie dieser aus Lüneburg stammte, ist ungewiß20). Daß er jedoch Beziehungen zur Stadt unterhielt, ist wahrscheinlich. Vor seiner Einsetzung als Propst des Klosters Lüne war er vom Rat der Stadt im Zusammenhang mit den Unruhen in der Bürgerschaft nach Rom abgesandt worden und mehrfach in Gefangenschaft geraten21). Ob und in welchem Ausmaß Graurock auch in späterer Zeit in beratender oder diplomatischer Funktion tätig war, etwa erneut in Diensten der Stadt Lüneburg oder der welfischen Herzöge, müßte unter anderer Themenstellung untersucht werden. Daß er 1479 als herzoglicher Rat bezeugt ist22), kann unter Umständen nur Ausdruck seiner Zugehörigkeit zu den Landständen als Propst des Klosters Lüne sein.