Inschriften: St. Michaeliskloster und Kloster Lüne bis 1550

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 24: Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne (1984)

Nr. 34 Kloster Lüne 1. H. 15. Jh.

Beschreibung

Sakramentshäuschen an der Nordwand des Nonnenchores links neben dem dritten Fenster von Westen. Holz. Einer trapezförmigen, vorn 67,0 und hinten 51,0 cm breiten Grundfläche ist nach unten eine Rahmung mit einfacher Kehle angesetzt, so daß ein sockelartiger Unterbau entstanden ist. Auf der Grundfläche erhebt sich, der Form eines Hauses nachgebildet, der eigentliche Schrein mit spitzen Giebeln an der Vorder- und Rückfront und Dachschrägen an den Seiten. Er ist vorn durch eine zweiflügelige, die gesamte Giebelseite bildende Tür geschlossen. Das Äußere trägt eine rote Bemalung. Jeder Türflügel zeigt in Malerei eine Heiligendarstellung. Die linke Gestalt hält einen langen Stab und ein Buch, die rechte ist ohne Attribute. Vermutlich handelt es sich um Apostelfiguren. Das Innere des Schrankes ist blau ausgemalt, und auch die Innenseiten der Türen sind mit Heiligendarstellungen versehen. Auf dem linken Flügel erscheint ein Papst mit Tiara, auf dem rechten ein Heiliger in Ordenstracht mit einer Cappa als Kopfbedeckung. Ihre Identifizierung wird im Zusammenhang mit der weiter unten vorzunehmenden Behandlung der Inschriftentexte möglich. Beide Figuren halten in der linken bzw. rechten Hand ein oben in einem Ring auslaufendes, geschwungenes weißes Schriftband mit aufgemalter schwarzer Beschriftung. Durch eine unsachgemäße Restaurierung sind die Inschriften entstellt und bieten einen nur teilweise verständlichen Text. Auf diesen Umstand verweist bereits Mithoff, der das Sakramentshäuschen 1871 in dem tonnengewölbten Vorraum zum Nonnenchor vorfand und es unter der unzutreffenden Bezeichnung „Altarschrein“ beschrieb1). Zu lesen sind heute nur noch einzelne Worte. Die außerdem erhaltenen, zu Gruppen unterschiedlichen Umfangs geordneten Hasten sind im folgenden durch Schrägstriche in eckigen Klammern wiedergegeben [/]. Damit ergibt sich für das Schriftband des linken Flügels die Inschrift (A), für das des rechten Flügels die Inschrift (B).

Maße: H. bis zur Spitze des vorderen Giebels: 154,0 cm; B. vorn: 67,0 cm; T.: 36,0 cm. Bu.: 1,6 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Kloster Lüne [1/4]

  1. A

    [/////////] hostia per qua fra[////] [////] tartara ·

  2. B

    · Tantum ergo sacram[//////] vene[///////] cernui ·

Mit Hilfe der intakt gebliebenen Worte und der verderbt erhaltenen Schriftzeichen ist eine Rekonstruktion der Inschriften möglich. Der epigraphische Befund erlaubt eine sichere Ergänzung beider Texte. Die Inschrift (A) ist einem frühmittelalterlichen, in der Vesper des Ostersonntages gesungenen Hymnus mit dem Initium „Ad cenam agni providi“ entnommen, dessen Verfasser unbekannt ist2). Die fünfte Strophe lautet:

O vere digna hostia, Per quam fracta sunt tartara, Redempta plebs captivata, Reddita vitae praemia.

Die erste Hälfte dieser Strophe ist zweifellos Vorlage der Inschrift gewesen. Der erhaltene Schriftbestand bietet dafür hinreichende Beweise. Andererseits werden die Veränderungen deutlich, die durch die fehlerhafte Restaurierung hervorgerufen worden sind. So ist über dem a von qua ein Kürzungsstrich verloren. Das erste Wort der Inschrift hat, wie die Buchstabenfragmente erkennen lassen, neun Hasten besesen – ebenso viele wie zur Bildung von digna erforderlich sind. Das g und das a sind in Ansätzen noch vorhanden. Auch die zweite Hälfte des Wortes fracta ist aus der Zahl der erhaltenen Hasten zu ergänzen. Das darauf folgende Wort besteht heute nur noch aus einem gitterartigen Geflecht aus vier Hasten, von denen die erste den Ansatz einer Oberlänge bewahrt hat. Hier hat ganz sicher ein s in gotischer Minuskel gestanden. Das gesamte Wort war vermutlich als sut mit einem Kürzungsstrich über dem u geschrieben. Ursprünglich lautete also die Inschrift (A):

  1. Digna hostia, per qua(m) fracta su(n)t tartara.

Übersetzung:

Würdiger Leib Christi, durch den die Höllengewalt gebrochen wurde.

Ungewiß bleibt, ob das Schriftband zu Beginn auch noch die Worte „o vere“ getragen hat. Der verbleibende Platz erscheint dafür ausreichend, Reste von Beschriftung sind hier indessen nicht zu erkennen.

Auch der Wortlaut der Inschrift (B) läßt sich wiederherstellen. In dem von Thomas von Aquin verfaßten Hymnus „Pange, lingua, gloriosi“, der in der Vesper am Fronleichnamstage gesungen wurde, hat die fünfte Strophe folgenden Text3):

Tantum ergo sacramentumVeneremur cernui, Et antiquum documentumNovo cedat ritui,Praestet fides supplementumSensuum defectui.

Wie bei (A) sind auch hier die beiden ersten Verse der Strophe als Vorlage für die Inschrift benutzt worden, und auch hier lassen sich danach die verderbten Textstellen rekonstruieren. Die sechs erhaltenen Hasten am Schluß des Wortes sacramentum lassen sich zu entu ordnen, wiederum ist ein Kürzungszeichen über dem u vorauszusetzen. Schwieriger ist die Rekonstruktion von veneremur. Vermutlich stand das zweite e ursprünglich in Ligatur mit dem vorausgehenden n, so daß das heute zu lesende e im Original ein r gewesen ist. Unter dieser Bedingung haben die verbliebenen sieben Hasten die Buchstabenfolge emur ergeben. Die Inschrift (B) hat also folgenden Wortlaut getragen:

  1. Tantum ergo sacramentu(m) veneremur cernui

Übersetzung:

Das so große Sakrament laßt uns also, uns demütig neigend, verehren

Beide Texte stehen in engem inhaltlichen Bezug zum Sakrament der Eucharistie und machen die Funktion des Schrankes als Sakramentshäuschen besonders deutlich: Deshalb ist auch hostia in erster Linie als „Hostie“ und kaum mehr als „Opfergabe“ zu verstehen, wie es ein ausschließlicher Bezug auf das Ostergeschehen noch voraussetzte. Damit ist auch mit diesem Beispiel eine Bestätigung dafür gegeben, daß der weit verbreitete Hymnus „Ad cenam agni providi“ während des Hochmittelalters Eingang in eine große Fülle verschiedener Bearbeitungen des Fronleichnamsoffiziums gefunden hatte, die vornehmlich in zisterziensischen und benediktinischen Handschriften überliefert sind4).

Die Identifizierung der Texte auf den Türflügeln des Sakramentshäuschens ermöglicht zugleich eine Identifizierung der dargestellten Heiligenfiguren. Ganz offensichtlich nämlich sollen die Verfasser der Texte gezeigt werden, da ihnen die Schriftbänder in die Hand gegeben wurden. Demzufolge handelt es sich bei der auf dem rechten Flügel stehenden Figur um Thomas von Aquin. In dem heiligen Papst könnte man Gregor I. sehen, sofern ihm die Verfasserschaft für den Osterhymnus zugeschrieben wurde: einer unbegründeten mittelalterlichen Tradition zufolge galt er als Autor hymnischer Dichtungen, allgemein war die Auffassung, er sei der Begründer des gregorianischen Gesanges gewesen5). Andererseits könnte auch Urban IV. gemeint sein, der das Fronleichnamsfest 1264 offiziell einführte6). Dagegen spricht indessen, daß er nicht zu den heiliggesprochenen Päpsten zählt. Deshalb ist eine sichere Entscheidung nicht möglich.

Anmerkungen

  1. Mithoff, S. 124.
  2. Analecta Hymnica, Bd. 51, S. 87–89. – Dieser Hymnus ist neben zwei anderen der einzige, der in den ältesten Hymnaren irischer und zugleich nicht irischer Provenienz aufgezeichnet ist. Die Herausgeber der Analecta schließen daraus überzeugend auf sein hohes Alter (ebd., S. 90). Die Zuschreibung an Ambrosius ist nicht zutreffend. In den Analecta Hymnica, Bd. 27, S. 88, wird der Ursprung des Hymnus „Ad cenam agni providi“ aus der mozarabischen Liturgie vermutet, zugleich aber darauf verwiesen, daß eine solche Annahme unsicher bleibt. Vgl. auch die Arbeit von Breuer (wie Anm. 4). – Textabdruck des Hymnus auch bei: Wackernagel, Kirchenlied, S. 81, Nr. 116.
  3. Analecta Hymnica, Bd. 50, S. 586; Wackernagel (wie Anm. 2), S. 145, Nr. 233.
  4. Breuer, Textgeschichte, S. 11–13; ebd., S. 15, Hinweis auf eine Überlieferung vom Ende des 15. Jahrhunderts, nach der ein Hymnus für das Fronleichnamsfest mit der Strophe „O vere digna hostia“ beginnt.
  5. Vgl. Hucke, Entstehung, bes. S. 264.
  6. Vgl. LThK, 2. Aufl., Bd. 4, Sp. 405, s. v. Fronleichnam.

Nachweise

  1. Abb.: Knauf, S. 65.

Zitierhinweis:
DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Nr. 34 (Eckhard Michael), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di024g002k0003402.