Inschriftenkatalog: Lüneburger Klöster

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 76: Lüneburger Klöster (2009)

Nr. 206 Ebstorf, ehem. Amtszinskorngebäude 1622

Beschreibung

Schwellbalken und Ziegel. Das große zweigeschossige mit Ziegeln ausgemauerte Fachwerkhaus trägt an der Traufenseite auf der Schwelle des vorgekragten Obergeschosses die Inschrift A, die erhaben in vertiefter Zeile geschnitzten Buchstaben in Rot auf hellem Grund, die Buchstaben des in einem eigenen Feld stehenden Beginns der Inschrift nicht farbig gefaßt. Auf der westlichen Giebelseite des Hauses auf Ziegeln die Inschriften B und C, die Buchstaben jeweils erhaben.

Maße: Bu.: 7 cm (A), 10 cm (B, C).

Schriftart(en): Kapitalis.

Sabine Wehking [1/9]

  1. A

    ES IST EIN GROS [...]BEANTa) // CONSIDERA TRIA · PRAETERITA : MALVM COMMISSVM : BONVM OMISSVM : TEMPVS AMISSVM : TRIA PRAESENTIA : VITAE FVGACITATEMb) : SALVANDORVM PAVCITATEM ET SALVANDI DIFFICVLTATEM : TRIA FVTVRA : [MORTIS CRVDELI]DITATEMc) : EXTREMI IVDICII SEVERITATEM : INFERNI CRVCIATVM INTOLLERABILEM . QVID SVM? QVIS? QVALIS? QVANTVS? QVOTVS? VNDE? QVIBVSVEORTVS AVIS? QVORSVM TENDO? QVIBVSVE VIIS? VERMIS : HOMO : MALVS : EXIGVVS : POSTREMVS : AB IMO : TALIBVS ET CRETVS : NITOR AD ASTRA : FIDE · SIT NOMEN DOMINI BENEDICTVM · [A(NNO) D(OMINI) 1622] d)

  2. B

    MW

  3. C

    D(ANIEL) H(AGEMANN) 1622

Übersetzung:

Bedenke drei Dinge der Vergangenheit: Die begangene Missetat, die unterlassene Wohltat, die verlorene Zeit. Drei Dinge der Gegenwart: die Flüchtigkeit des Lebens, die geringe Zahl der zu Rettenden und die Schwierigkeit der Rettung. Drei Dinge der Zukunft: die Grausamkeit des Todes, die Strenge des Jüngsten Gerichts, die unerträgliche Qual der Hölle. Was bin ich? Wer? Wie beschaffen? Wie groß? Wie gering? Woher? Von welchen Vorvätern abstammend? Wohin strebe ich und auf welchen Wegen? Ein Wurm, ein Mensch, schlecht, winzig, der letzte, von tiefstem Grund, und von solchem ausgegangen strebe ich zu den Sternen im Glauben. Der Name des Herrn sei gepriesen. (A)

Versmaß: Zwei elegische Distichen (A, QVID SVM ... FIDE).

Kommentar

Der anspruchsvolle Inhalt der Inschrift A steht im Gegensatz zu der wenig sorgfältigen und ungleichmäßigen Ausführung der Kapitalis. Der erste Teil der Inschrift (bis INTOLLERABILEM), dessen Ursprung sich bislang nicht nachweisen läßt, war im 17. Jahrhundert offenbar sehr verbreitet. In Johann Gerhards Schola pietatis ist als Quelle ein alter Kirchenlehrer angeben, der jedoch nicht benannt ist.1) Die elegischen Distichen finden sich in den 1601 gedruckten Aenigmata des Johann Lauterbach.2)

Wie die Initialen MW aufzulösen sind, ist nicht bekannt, da sie nicht mit dem Namen der Ehefrau des Amtmanns, Anna Hausmann, in Einklang zu bringen sind. Daniel Hagemann amtierte zunächst von 1609 bis 1612 als Amtsschreiber des Klosters.3) 1610 erhielt er von Herzog Ernst eine Exspektanz auf die Stelle des Amtmanns in Ebstorf, zuvor war er für die Amtmannsstelle in Diepholz vorgesehen gewesen. Zugleich erteilte ihm der Herzog die Genehmigung zur Heirat und die Erlaubnis, mit seiner zukünftigen Ehefrau auf dem Klosterhof zu wohnen.4) Ob Hagemann diese Genehmigung in Anspruch nahm und sich die Initialen MW auf eine vor 1622 verstorbene erste Ehefrau beziehen, läßt sich nicht klären. Im Zusammenhang seiner Eheschließung 1622 ist er nicht als Witwer bezeichnet. Nach dem Tod des Johann Witte (vgl. Nr. 191) fungierte Daniel Hagemann von 1613 bis 1630 als Ebstorfer Amtmann.5) Er heiratete im Jahr der Errichtung des Gebäudes am 5. Mai 1622 in Medingen Anna Hausmann. Zu der Hochzeit schickte Herzog Christian ein Stück Wild.6)

Textkritischer Apparat

  1. Vermutlich falsch restauriert und daher unverständlich. Möglicherweise ursprünglich ES IST EIN GROS FRAGE (VND) ANT(WORT).
  2. Irrtümlich als EVGACITATEM ausgeführt.
  3. Die Buchstaben in Klammern nur gemalt.
  4. Die Jahresangabe nur gemalt, vermutlich jünger.

Anmerkungen

  1. Johann Gerhard, Schola Pietatis, Bd. 2, Jena 1622, fol. 74r–75v. Der Text auch bei Christian Weise, Die Drey klügsten Leute der gantzen Welt. Sämtliche Werke, Bd. 18, Berlin 2005, S. 209, auch hier ohne Angabe der Quelle.
  2. Joannis Lauterbachii Aenigmata. [Frankfurt] 1601, S. 205. Auch wenn die Distichen bei Lauterbach unter dem Titel Praedicamenta decem stehen, so handelt es sich doch wie in der Inschrift lediglich um neun Fragen und die dazu passenden Antworten. Bei Lauterbach exsanguis anstelle von EXIGVVS.
  3. Dose, Klosteralltag, S. 397.
  4. HSTA Hannover, Celle Br. 61a, Nr. 3279.
  5. Dose, Klosteralltag, S. 397.
  6. HSTA Hannover, Celle Br. 61a, Nr. 3394.

Nachweise

  1. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg (A), S. 69.
  2. Dose, Klosteralltag, S. 61.

Zitierhinweis:
DI 76, Lüneburger Klöster, Nr. 206 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di076g013k0020607.