Inschriftenkatalog: Lüneburger Klöster

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 76: Lüneburger Klöster (2009)

Nr. 23 Kloster Wienhausen 2./3. V. 14. Jh.

Beschreibung

Propheten-Teppich.1) Wollstickerei auf Leinen. Der Teppich ist im Textilmuseum ausgestellt. Erhalten ist nur die linke Hälfte, deren unterer Rand stark, der obere gering beschnitten war, beide Ränder wurden 1937 im Zuge einer Restaurierung ergänzt, bei der auch die teilweise beschädigten Inschriften überarbeitet wurden.2) Auf den Randstreifen an Ranken aufgehängte Wappenschilde.3) Im Innenfeld übereinander drei Reihen von je zwei achtpaßförmigen Feldern mit Darstellungen von thronenden Propheten, die Schriftbänder halten, auch die Achtpässe sind als Schriftbänder gestaltet. Da der rechte Teil der drei rechten Felder durch die Beschneidung des Teppichs fehlt, sind die Inschriften hier unvollständig. Dargestellt sind in der oberen Reihe Osea (Schriftband mit Titulus A, Achtpaß B) und Joel (Schriftband mit Titulus C, Achtpaß D), in der mittleren Reihe Jona (Schriftband mit Titulus E, Achtpaß F) und Micha (Schriftband mit Titulus G, Achtpaß H) sowie unten Sophonias (Schriftband mit Titulus I, Achtpaß J) und noch einmal Osea (Schriftband mit Titulus K, Achtpaß L). Die Buchstaben der Inschriften im Farbwechsel rot/blau auf weißem Grund.

Maße: H.: 243 cm; B.: 158 cm; Bu.: 3,5–4 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Kloster Wienhausen [1/4]

  1. A

    OSEE · PROFETA

  2. B

    + FORNICACIO · ET · VINVM · ET · EBRIETAS · AVFER(VNT) COR 4)

  3. C

    IOHEL · PROFETA

  4. D

    · QVICVM[..........]VERIT NOMEN · D(OMI)NI · SALWS · ERI(T) 5)

  5. E

    IONAS · PROFETA

  6. F

    · MELIVS · EST · MICHI MORI · QVAM · VIVERE 6)

  7. G

    MYCHEAS · PROFETA

  8. H

    · AB · EA Q[.........]T · IN SINV TVO CVSTODI · CLAVSTRA · ORIS T(VI) 7)

  9. I

    SOPHONIAS · P(RO)PH(ET)Aa)

  10. J

    + VOX · DIEI · DOMINI · AMARA · TRIBVLABITVR · IBI · FORTIS 8)

  11. K

    OSEE · PROFETA ·

  12. L

    FORNICA[...]b) ET · VINVM · ET · EBRIETAS · AVFER(VNT) · COR 4)

Übersetzung:

Der Prophet Osea. Unzucht und Wein und Trunkenheit nehmen (dem Menschen) den Verstand. (A, B; K, L)

Der Prophet Joel. Wer immer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet sein. (C, D)

Der Prophet Jona. Besser ist es für mich zu sterben als zu leben. (E, F)

Der Prophet Micha. Vor der, welche an deinem Busen schläft, bewahre die Tür deines Mundes. (G, H)

Der Prophet Sophonias. Die Stimme des Tags des Herrn (ist) bitter. Da wird der Starke geplagt werden. (I, J)

Kommentar

Der Propheten-Teppich mit seiner Aufteilung in Medaillons nimmt unter den Wienhäuser Teppichen gestalterisch eine Sonderstellung ein, da diese Darstellungsform erst wieder auf den – unter Rückgriff auf alte Vorlagen gefertigten – Lüner Teppichen aus der Zeit um 1500 vorkommt. Daß bei den Wappen der Rahmenleiste auf ein ähnliches Repertoire zurückgegriffen wurde wie bei Tristan I, ist naheliegend, wenn es um Repräsentation ging, sagt aber nichts über eine gleichzeitige Entstehung beider Stücke aus. Dasselbe gilt für die Bekleidung der Propheten, die naturgemäß traditionell in langen pelzgefütterten Mänteln dargestellt sind. Als mögliches Datierungskriterium bietet sich hier die Ausführung der Inschriften an. Die von Kohwagner-Nikolai9) konstatierten Übereinstimmungen in der Gestaltung der Buchstaben zwischen dem Propheten-Teppich und Tristan II sind wenig aussagekräftig, wenn sie sich auf I mit beidseitigem Nodus, keilförmige Schäfte und X mit geschwungenem Balken beziehen, da auch die anderen Teppiche mit gotischer Majuskel im Farbwechsel diese Merkmale aufweisen bzw. kein X zum Vergleich in ihren Inschriften vorkommt. Lediglich das R mit langgestreckter Cauda stimmt als spezifisches Merkmal auf beiden Teppichen überein. Die Ähnlichkeit, die Kohwagner-Nikolai in der Gestaltung der A, E und C zu Tristan II zu erkennen meint, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht zutreffend. Die charakteristischen A von Tristan II mit oben zum Deckbalken spitz zulaufenden Hasten finden sich auf dem Propheten-Teppich nicht, auch ist der Mittelbalken hier zumeist gerade gestickt, auf Tristan II immer gebrochen. Die C und E sind auf Tristan II mit einem einfachen Abschlußstrich versehen, während die Abschlußstriche auf dem Propheten-Teppich – auch im Zustand vor der Restaurierung 1937 – betont nach innen gebogen sind und in Zierhäkchen enden. Diese Form entspricht ebenso wie die schmalen, manchmal spitzovalen O sehr viel mehr den Buchstaben von Tristan III (Nr. 21), auf dem sich wie im Joel-Medaillon auch der Farbwechsel innerhalb des verschränkten W findet, ein solcher Farbwechsel auch in der PP-Ligatur des Sophonias-Medaillons. Das unter orthographischen Gesichtspunkten wenig sinnvoll erscheinende W in SALWS wurde offensichtlich nur als Zierform gewählt, obwohl dadurch kein Platz mehr für die Ausführung des letzten Buchstabens der Inschrift blieb. Alle Kriterien der Buchstabengestaltung zusammengenommen ergibt sich für den Propheten-Teppich zwar eine gewisse Tendenz, ihn in die Nähe von Tristan III zu rücken, trotzdem zeigt er eine eigenständige, zeitlich schwer bestimmbare Gestaltung und ist daher hier auf das zweite oder dritte Viertel des 14. Jahrhunderts datiert.10)

Auch wenn mindestens die Hälfte des Teppichs heute fehlt, läßt sich festhalten, daß die Propheten mit den aus den entsprechenden Bibelbüchern gewählten Texten nicht nur mahnend auf den Tod, das Jüngste Gericht und die Rettung des Menschen durch Gott verweisen, sondern auch weltliche Ratschläge für ein mäßiges und geziemendes Leben geben (B, H, L). Durch die Wiederholung der Warnung vor Unzucht und Trunkenheit wird darauf besonderes Gewicht gelegt. Es ist anzunehmen, daß auch der heute verlorene rechte Teil eine solche gleichgewichtige Mischung aus geistlichen und weltlichen Ratschlägen aufwies.

Textkritischer Apparat

  1. Der obere Bogenteil des ersten P nicht ausgeführt. Farbwechsel innerhalb der Ligatur.
  2. So der alte Zustand, der erste Buchstabe heute als S ausgeführt, falsch restauriert.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. WIEN Ha 4.
  2. Den alten Zustand zeigen die Bildtafeln 12 u. 13 bei Schütte, Bildteppiche, Bd. 1.
  3. Zur möglichen Identifizierung der Wappen vgl. Appuhn/Grubenbecher, Wienhausen, S. 51, u. Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, S. 189. Zur Identifizierung dieser Art von Wappen auf den Textilien der Klöster vgl. Nr. 5, Anm. 2.
  4. Os. 4,11.
  5. Ioel 2,32, zu ergänzen zu QVICVM[QVE INVOCA]VERIT.
  6. Ion. 4,8.
  7. Mi. 7,5, zu ergänzen zu Q[VAE DORMI]T.
  8. Nach So. 1,14.
  9. Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, S. 193.
  10. Die Datierung ist damit deutlich später angesetzt als bei Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, Nr. 1, S. 188 (um 1300), Wilhelm, Bildteppiche, S. 27 (um 1300). Schütte (Bildteppiche, Bd. 1, S. 16) datiert den Teppich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Nachweise

  1. Mithoff, Kloster Wienhausen, Tafel VII (Zeichnung, Detail).
  2. Schütte, Bildteppiche, Bd. 1, S. 15 u. Tafel 14–16.
  3. Maier, Kunstdenkmale Wienhausen, S. 155f. u. Abb. 207.
  4. Wilhelm, Bildteppiche, S. 27f., Abb. S. 29.
  5. Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, Nr. 1, S. 189.

Zitierhinweis:
DI 76, Lüneburger Klöster, Nr. 23 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di076g013k0002308.