Inschriftenkatalog: Stadt Lemgo

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 59: Lemgo (2004)

Nr. 4 St. Marien 4. V. 14. Jh.

Beschreibung

Wandmalerei. Das hochrechteckige Wandgemälde an der Südwand des Südchores, das im Jahr 1912 freigelegt wurde,1) ist beschädigt und stark verblaßt. Es stellt Moses mit den zehn ägyptischen Plagen, den Zehn Geboten und zehn Sünden dar. Das Gemälde zeigt die stehende Figur des Moses, zu beiden Seiten und in der Mitte vor der Figur drei Reihen zu je zehn übereinander angeordneten Medaillons. Die figürlichen Darstellungen in den äußeren Medaillonketten sind nur noch teilweise erkennbar. Links die ägyptischen Plagen, von denen noch das in Blut verwandelte Wasser, die Viehseuche, die Plage der Geschwüre, die Heuschreckenplage und die Plage der Finsternis erkennbar sind. In der rechten Medaillonkette sind noch die Sünden Mord, Diebstahl, Unzucht und Meineid auszumachen. In den Medaillons der mittleren Reihe Inschriften. Die drei Medaillonreihen sind durch waagerecht über die ganze Darstellung verlaufende Schriftbänder verbunden. Auf dem linken Teil der Schriftbänder die auf die ägyptischen Plagen bezogenen Inschriften A1–J1, in der mittleren Medaillonkette die auf die Zehn Gebote bezogenen Inschriften A2–J2, auf dem rechten Teil der Schriftbänder die auf die Sünden bezogenen Inschriften A3–J3. Die Inschriften der rechten Spalte sind – wenn überhaupt – heute nur noch schemenhaft zu erkennen, auch die Inschriften der beiden anderen Spalten sind teilweise zerstört. Sie lassen sich nach einer Fotografie von 1937 ergänzen, die allerdings auch bereits Beschädigungen der Inschriften zeigt. Eine weitere Grundlage zur Ergänzung der im Mittelalter als Merkverse gebräuchlichen Texte bieten Parallelüberlieferungen, vor allem eine von Laun nachgewiesene Pariser Handschrift (B. N. ms. fr. 9220), die dasselbe Motiv und weitgehend dieselben Texte enthält wie die Lemgoer Wandmalerei (vgl. Kommentar).2)

Inschriften ergänzt nach Fotografie.

Maße: H. 262 cm; B. 172 cm; Bu. 6 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

LWL-Denkmalpflege, Landschafts- u. Baukultur in Westfalen [1/6]

  1. A1/B1

    pr[ima r]u[b......]a) // ranaru(m) pla[ga s(ecunda)]

  2. C1/D1

    Inde culex tristi(s) // p(ost) musca s(u)bdi(tur) ist(is)

  3. E1/F1

    qui(n)ta pec(us) strav[it] // vesicas sex(ta) creavitb)

  4. G1/H1

    [po(n)e] s[ubit gra(n)do] // [p(ost) b(r)uc(us)c) de(n)te ....(n)dod)]

  5. I1/J1

    [nona ..... sole(m)]e) // nec[at ....i(m)af) p(ro)le(m)]3)

  6. A2/B2

    [ – – – ] // [ – – – ]g)

  7. C2/D2

    Sabbata / sanctifices // habea[s in] / hono(r)e pa[re(n)]/tes

  8. E2–H2

    no(n) s[is] / occi[sor] // Fur // Mechu[s] // [ – – – ]h)

  9. I2/J2

    [........ / nuptam] // [nec rem / – – – ]i)4)

  10. A3–C3

    [Yd........ h...] // [ – – – ]j) // [s]abbata [......]

  11. D3–F3

    [Patrem derisit] // [Occidit] // [furtu(m) peccare]k)

  12. G3/H3

    [Mechari didicit] // [Est testificat(us) i(n)ique]

  13. I3/J3

    [Fec....]ulter[...]l) // fuit usur[...] alt(er)m)

Übersetzung:

Die erste (Plage) der rote [Strom]. Die zweite (Plage) die Froschplage. Danach die schreckliche Mücke. Dann folgt auf diese die Fliege. Die fünfte (Plage) hat das Vieh zu Boden gestreckt. Die sechste (Plage) hat die Blattern bewirkt. Hinterher folgt Hagel. Danach die Heuschrecken mit ihrem [schrecklichen] Gebiß. Die neunte (Plage) [verhüllt] die Sonne. Die letzte (Plage) tötet den Erstgeborenen. (A1–J1)

... Du sollst den Sabbat heiligen. Du sollst deine Eltern ehren. Sei kein Mörder, Dieb, Ehebrecher ... ... nicht die Ehefrau und das Gut ... (A2–J2)

Götzenbilder ... Sabbat ... Er hat seinen Vater verspottet. Er hat getötet. Er hat bewußt einen Diebstahl begangen (und) Unzucht getrieben. Er hat falsches Zeugnis abgelegt. Er hat Ehebruch begangen. Der andere war ein Wucherer. (A3–J3)

Versmaß: Hexameter, teilweise leoninisch gereimt (zweisilbiger Reim in der ersten Kolumne A1–J1, teilweise einsilbiger Reim in der zweiten Kolumne A2–J2).

Kommentar

Die Fragmente der letzten Kolumne lassen erkennen, daß die vierte bis sechste Zeile (D3–F3) einen Hexameter bildeten und die vier letzten Zeilen (G3/H3, I3/J3) zwei Hexameter; es ist daher zu vermuten, daß auch die drei ersten Zeilen einen Hexameter ergaben.

Die Verse der Inschriften A1–J1, die sich auf die ägyptischen Plagen beziehen, werden Hildebert von Lavardin (1056–1133) zugeschrieben und haben im Mittelalter weite Verbreitung als Merkverse gefunden.5) Die Verbindung zwischen den ägyptischen Plagen und den Zehn Geboten findet sich bereits bei Augustin und Origines. Laun weist ein Moses-Dekalog-Schema, wie es in der Lemgoer Wandmalerei vorliegt, in einer Pariser Handschrift (B. N. ms. fr. 9220) aus der Zeit um 1300 nach.6) Die Lemgoer Wandmalerei ist gegenüber der Vorlage vereinfacht, da verbindende Zwischentexte zwischen den Rubriken weggelassen wurden und stattdessen die Plagen und Gebotsübertretungen durch kleine Szenen veranschaulicht werden. Durch diese Vereinfachung des Schemas wurden die Inhalte auch für ein weniger gebildetes Publikum anschaulich gemacht und dienten so als Mahnung, katechetische Unterweisung und Beichtspiegel zugleich.7) Die Datierung der Wandmalerei folgt der kunsthistorischen Einordnung von Kluge und in den BKD Lemgo.8)

Textkritischer Apparat

  1. Zu ergänzen zu rubens unda. Der Text der Fehlstelle muß aus Platzgründen stark gekürzt gewesen sein. Diese wie alle weiteren Ergänzungen beruhen auf der Wiedergabe der Merkverse bei Laun (wie Anm. 2), S. 17 u. S. 52–54, sowie auf den Texten des Holzschnitts (wie Anm. 2).
  2. e und t aus Platzgründen hochgestellt.
  3. Kleines hochgestelltes u mit verlängerter und durchstrichener linker Haste.
  4. Zu ergänzen zu nefa(n)do, die beiden letzten Buchstaben aus Platzgründen klein und hochgestellt.
  5. Zu ergänzen zu nona tegit solem.
  6. Zu ergänzen zu primam ultima. Die beiden Wörter müssen aus Platzgründen stark gekürzt gewesen sein.
  7. Zu ergänzen: Unum crede Deum ne iures vana per ipsum. Der Text der Fehlstellen muß aus Platzgründen gekürzt gewesen sein.
  8. Zu ergänzen Testis iniquus.
  9. Nach dem Holzschnitt zu ergänzen zu: Alterius nuptam nec rem cupias alienam. Die bei Laun (wie Anm. 2), S. 17, wiedergegebene Version der Merkverse bietet an dieser Stelle den Text: vicinique thorum resque caveto suas.
  10. Die Pariser Handschrift und der Holzschnitt, die in dieser Kolumne im Text von der Wandmalerei abweichen (vgl. Anm. k), bieten an dieser Stelle den Text: Ydola fecit homo dominum iuravit inique bzw. Ydola fecit homo Domini iuravit in nomen. Es hat jedoch den Anschein, als ob in der Wandmalerei auch die dritte Zeile noch zum Vers gehört habe.
  11. Die Handschrift und der Holzschnitt weichen an dieser Stelle deutlich vom Text der Wandmalerei ab und bieten anstelle von sabbata ... peccare den Text: Sabbata contempsit proprios spernendo parentes / Sanctos occidit novit committere furta.
  12. Handschrift und Holzschnitt bieten an dieser Stelle den Text: Fecit adulterium.
  13. Das r hochgestellt. Nach Handschrift und Holzschnitt zu ergänzen zu usurarius alter.

Anmerkungen

  1. BKD Lemgo, S. 277.
  2. Christiane Laun, Bildkatechese im Spätmittelalter. Diss. München 1979, S. 51–55. Dieselbe Darstellung in Kombination mit den Merkversen findet sich auch in einem Holzschnitt des 15. Jahrhunderts: Campbell Dodgson, Catalogue of early german and flemish Woodcuts preserved in the Department of Prints and Drawings in the British Museum. Bd. 1, London 1903, S. 111, 118A.
  3. Hildebertus Lavardinensis, Carm. min. 34 (ed. A. Brian Scott, München/Leipzig 22001).
  4. Frei paraphrasiert nach Ex 20, 1–17.
  5. Hildeberts Text weicht geringfügig von dem der Inschrift ab: Prima rubens unda rane tabesque secunda. / Inde culex tristis post musca nocivior istis. / Quinta pecus stravit vesicas sexta creavit. / Pone subit grando post brucus dente nefando. / Nona tegit solem primam necat ultima prolem. Grundlegend zur Überlieferung und zu der Verknüpfung der Verse mit Merkversen zu den Zehn Geboten und den Sünden: Laun (wie Anm. 2), S. 1–24 u. S. 51–56, mit weiteren Angaben zur Literatur und zu Handschriften, in denen dieses Motiv vorkommt. In einigen von Laun verzeichneten Handschriften sind sämtliche Texte auf Medaillons verteilt, die in drei Kolumnen angeordnet und durch weitere Zwischentexte verbunden sind.
  6. Laun (wie Anm. 2), S. 52–56.
  7. Laun (wie Anm. 2), S. 58–62.
  8. Kluge, Wandmalerei, S. 166. BKD Lemgo, S. 276.

Nachweise

  1. Fotografie, dat. 1937, WAfD Münster.
  2. Gerlach, Denkwürdigkeiten, S. 3–6 (A1–J1, A2–J2, zumeist unvollständig und fehlerhaft).
  3. Kluge, Wandmalerei, S. 166 (abweichender Text nach Holzschnitt).
  4. BKD Lemgo, S. 278f. mit Abb. 291 (unvollständig, Text nach Holzschnitt ergänzt).

Zitierhinweis:
DI 59, Lemgo, Nr. 4 (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006k0000403.