Inschriftenkatalog: Landkreis Weissenfels

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 62: Weißenfels (Landkreis) (2005)

Nr. 45(†) Weißenfels, St. Mariae nach 1465

Beschreibung

Sandsteinquader mit historischer Nachricht an der Stirnseite des ersten Strebepfeilers östlich des Nordportals. Der Quader, der sich ursprünglich über dem Sockel befunden hatte, wurde 1903 unter das Wasserschlaggesims des Strebepfeilers versetzt, seine Oberfläche geglättet und die mit schmaler Kerbe eingehauene dreizeilige Inschrift mit Linienrahmen nachgearbeitet.1)

Maße: H.: 29,5 cm; B.: 81,5 cm; Bu.: 4–4,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt [1/1]

  1. Anno · d(o)m(ini)a) · mccclb) · id estc) · iubi/leo · flagellatores · fueruntd) · / et · iudeie) · cremati · sunt · f)

Übersetzung:

Im Jahre des Herrn 1350, das ist im Jubeljahr, sind Geißler dagewesen und sind Juden verbrannt worden.

Kommentar

Einzelne hybride Buchstabenformen wie n und u mit Verbindungsstrichen zwischen den oberen bzw. unteren Hastenenden, wie der obere offene Bogen des g und das s mit schwellendem Mittelteil, mehrfach gebrochenen Bögen und verbreiterten Bogenenden weisen auf eine Nachbildung der Schrift im frühen 20. Jh. Als Worttrenner dienen Quadrangel. Der seit dem frühen 18. Jh. gut bezeugte Text dürfte aber dem spätmittelalterlichen Original entsprechen.

Die Inschrift des 15. Jh. ersetzte möglicherweise eine ältere, die am Vorgängerbau des 1465 begonnenen Langhauses2) angebracht war. Sicherlich war die Anfertigung der mutmaßlichen Originalinschrift durch das zeitliche Aufeinandertreffen mehrerer bewegender, im öffentlichen Gedächtnis haftender Ereignisse veranlaßt worden, wenn diese auch nicht alle in demselben Jahr geschehen waren. Das waren das zweite römische Jubeljahr oder Heilige Jahr 1350,3) die Geißlerbewegung und die europaweite Judenverfolgung. Die Geißler hatten Meißen, Thüringen und das Gebiet der mittleren Saale schon im April 1349 aufgesucht;4) Judenverfolgungen fanden hier mit einer Ausnahme zwischen Februar und Juli 1349, im benachbarten Naumburg am 27. Februar, statt.5) Vielleicht bezieht sich die Inschrift weniger auf konkrete lokale Ereignisse als vielmehr auf das Geschehen in den Jahren 1349 und 1350 allgemein, denn Juden wurden noch 1350 verfolgt. Auch wird eine jüdische Gemeinde zu Weißenfels in den jüdischen Memorbüchern, die der getöteten Glaubensgenossen gedenken, nicht genannt.6) Die Existenz einer Gemeinde vor 1350 vermag allein diese Inschrift zu bezeugen. Wenn es tatsächlich ein Judenpogrom in Weißenfels gegeben hat,7) dann konnten wohl einige Juden entfliehen, denn seit 1354 erscheinen Juden mit dem Namenszusatz „von Weißenfels“ in anderen mitteldeutschen Städten.8) Am Ort selbst sind Juden erstmals 1379 sicher bezeugt.9)

Inhalt und Anbringungsort sind typisch für Inschriften des Texttyps „Historische Nachricht“, die vorzugsweise an allgemein zugänglichen und beständigen Orten wie Kirchen angebracht wurden.10) Der topische Charakter derartiger Inschriften relativiert aber ihren Quellenwert, wie in Bezug auf eine vergleichbare Inschrift aus der Marktkirche in Hannover schon dargelegt wurde11) und sich in Weißenfels wiederum zeigt.

Textkritischer Apparat

  1. domini] DOI Vulpius, Schieferdecker, Weißenfelser Kreisblatt, Bach; domini Förstemann; dni BKD Prov. Sachsen 3; DO Kaphengst. Die Lesart von Sommer (BKD Prov. Sachsen 3) entspricht der üblichen und möglicherweise auch der noch Ende des 19. Jh. erhaltenen Wortkürzung. Die Hasten von n und i wurden wahrscheinlich erst bei Überarbeitung der Inschrift zu m zusammengezogen.
  2. mcccl] M°. ccc°. L. Förstemann; m° ccc° l BKD Prov. Sachsen 3.
  3. id est] Kein Wortabstand.
  4. fuerunt] fuderunt Förstemann.
  5. iudei] inde Förstemann, Judaei Vulpius, Weißenfelser Kreisblatt, indei Gerhardt.
  6. sunt ·] Es folgen zwei übereinander gesetzte und ein dritter, den Worttrennern gleichender Quadrangel.

Anmerkungen

  1. Lorenz 1903, S. 8, 23.
  2. Vgl. Nr. 44.
  3. Vgl. LexMa 4, 1989, Sp. 2024 f.
  4. Atlas Kirchengeschichte 1987, Karte 65; LexMa 4, 1989, Sp. 510–512.
  5. In Halle erst zwischen 1350 Februar 6 und 1351 September 21 (Haverkamp 1981, S. 37 f.).
  6. Neufeld 1927, S. 6 f.
  7. Germania Judaica II/2 1968, S. 874 f.
  8. Ebd. und a. a. O. III/2 1995, S. 1577 (Anm. 10).
  9. A. a. O. III/2 1995, S. 1574.
  10. Vgl. z. B. die Ende des 14. oder Anfang des 15. Jh. am Nordportal der Marienkirche zu Mühlhausen (Thüringen) angebrachte deutschsprachige (!) Inschrift mit historischen Nachrichten aus dem 13. und 14. Jh., die den Zug der Geißler und ein Judenpogrom im Jahre 1349 überliefert (BKD Prov. Sachsen 4, S. 66–68).
  11. Vgl. DI 36 (Hannover), Nr. 6.

Nachweise

  1. Vulpius, Teil 2, S. 39.
  2. Schieferdecker 1703, S. 11 f.
  3. Förstemann 1835/1836, S. 643.
  4. Weißenfelser Kreisblatt 1873, o. S.
  5. BKD Prov. Sachsen 3, S. 70.
  6. Lorenz 1903, S. 8.
  7. Gerhardt 1907, S. 62.
  8. Kaphengst 1925, S. 108.
  9. Germania Judaica II, 2, 1968, S. 874.
  10. Bach 2, 1996, S. 79.

Zitierhinweis:
DI 62, Weißenfels (Landkreis), Nr. 45(†) (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di062l001k0004509.