Inschriftenkatalog: Landkreis Weissenfels

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 62: Weißenfels (Landkreis) (2005)

Nr. 9 Weißenfels, Lutherkirche um 1301

Beschreibung

Glocke, ehemals im Dachreiter der (abgebrochenen) Klosterkirche,1) jetzt im Westturm der 1928/29 errichteten Lutherkirche. Gerundete Haube; an der Schulter umlaufende, schwach erhabene Inschrift (Gebet) zwischen zwei Stegpaaren. Den Schriftzug unterbrechen drei Reliefs: zwischen Alpha und Omega ein hochrechteckig gerahmtes Relieffeld von Zeilenhöhe (7 cm) mit thronendem Christus in der Mandorla und den Evangelistensymbolen in den Zwickeln sowie zwei rundbogig geschlossene Relieffelder mit sitzenden Heiligen (H.: 5 cm), die zwischen den beiden letzten Buchstaben von VENI bzw. am Ende der Inschrift plaziert sind. Am Wolm ein weiteres Stegpaar.

Maße: H. (m. Kr.): ca. 98 cm; D.: 109 cm; Bu.: 4–6 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.2)

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt [1/1]

  1. + O · REX GLORIEa) · U A ω ENI · CUM · PACE ·

Übersetzung:

O König der Herrlichkeit, A ω, komme mit Frieden.

Kommentar

Freie Hasten-, Balken- und Bogenenden sind zumeist mit kräftigen keilförmigen, häufig gespaltenen Verdickungen abgeschlossen, deren Spitzen fast immer in einfache Zierbögen auslaufen. Die Bögen sind mäßig schwellend. Eine unregelmäßige Ausformung der Buchstaben und stark differierende Buchstabengrößen ergeben ein sehr unruhiges Schriftbild, das bis auf die trapezförmigen A-Formen unziale bzw. runde Formen aufweist. Das einzelne A (= Alpha) hat einen gebrochenen Mittelbalken; der Kontur des zweiten A wird teilweise von einer zarten Borte aus kleinen Halbkreisen gesäumt. Nur das erste E hat einen Abschlußstrich. Der Mittelbalken des zweiten E wurde in Form eines nach links gestürzten T in den offenen Bogen hineingesetzt. Das M ist linksgeschlossen. Als Worttrenner stehen Kreise mit eingesetzten Punkten. Dem Deckbalken des Alpha und der Mitte des Omega entwachsen Kreuze. Am Anfang der Inschrift steht ein Kreuz mit verbreiterten Balkenenden, denen kleine Zierbögen angesetzt sind.

Abgesehen von den zumeist fehlenden Abschlußstrichen bei C und E hat die Schrift einen Entwicklungsstand, der auf eine Entstehung um 1300 oder im frühen 14. Jh. verweist. Die Form der Glockenhaube aber ähnelt sehr denen der auf das Ende des 13. Jh. datierten Glocken von Wegeleben und Üllnitz (Sachsen-Anhalt).3) Das Christusrelief zeichnet eine schärfere Modellierung aus, die eine stilkritische Datierung in das zweite Drittel des 13. Jh. erlauben würde, doch ist für dieses Relief wohl ein älterer, zur Datierung also ungeeigneter Model verwendet worden. Wahrscheinlich ist die Weißenfelser Glocke für die Kirche des neuerbauten und 1301 bezogenen Klarissenklosters gegossen worden. Die viel ältere Nikolaikirche, an der der Nonnenkonvent zuerst angesiedelt war, wird eigene Glocken besessen haben.4) Die von Büttner vermutete kryptische Datierung 1272, die sich durch Interpretation einiger Buchstaben als römische Zahlzeichen ergibt und von jüngeren Autoren übernommen wurde,5) ist barocker Phantasie entsprungen.

Die vorliegende Glockeninschrift, eine Anrufung Christi mit der Bitte um Frieden, ist seit dem 13. Jh. als eine der meistgebrauchten überhaupt in geringfügig abweichenden Varianten belegt. Ihre Herkunft ist aber nicht hinreichend geklärt. Friedrich Winfrid Schubart, der dem Formular einen eigenen Aufsatz widmete, erklärt dessen Entstehung aus der Gottesfriedensbewegung,6) die aber in Deutschland bei weitem nicht eine solche Bedeutung erlangte wie in ihrem Ursprungsland Frankreich und zudem längst abgeklungen war, als die Formel Verbreitung fand.7) Die Gottesfriedensbewegung stelle vielleicht den historischen Hintergrund dar, schreibt Edmund Kizik, aus ihr erkläre sich aber noch nicht die literarische Vorlage und die ursprüngliche Funktion des Textes.8) Kizik zitiert hingegen kirchliche Wettersegnungen, in denen sich das Formular wiederfindet.9) Jörg Poettgen verweist auf die Kirchweihliturgie, in der Psalmenverse mit dem Ehrentitel „Rex gloriae“ (Ps 23,7–10) verwendet wurden, und vertritt die Ansicht, der Glockenspruch sei aus dem Formular der Kirchweihliturgie abgeleitet.10)

Doch unabhängig von seiner Herkunft kann das Gebet, wie schon von Schubart und Kizik angedeutet, auch in wörtlichem Sinne verstanden werden. Die Friedensbitte bezieht sich wohl zu allererst auf den endzeitlichen, bei Christi Wiederkehr verheißenen ewigen himmlischen Frieden.11) Andere Inschriften, die das immer wiederkehrende Läuten der Glocke unmittelbar mit der Bitte um göttliche Gnadenerweise verbinden,12) lassen vermuten, daß auch um die Herstellung oder stete Erneuerung irdischen Friedens gebeten wird. Eine spätmittelalterliche Glockeninschrift aus Regensburg bringt das klar zum Ausdruck: „QUANDO PULSETUR PAX ET CONCORDIA DETUR.“13)

Das Glockenläuten wurde schon seit dem hohen Mittelalter durch päpstliche und herrscherliche Dekrete mit Friedensgebeten verbunden, um die zerstrittene Christenheit zu einigen oder eine Bedrohung durch Andersgläubige (Araber, Türken) abzuwenden.14) Glocken läuteten auch festgelegte Friedenszeiten ein wie etwa den nächtlichen Frieden oder die Wochentage, an denen Fehden ruhen sollten. Am Sonntag schließlich, an dem von Gott selbst bestimmten Ruhetag, unterstanden alle Gläubigen in besonderem Maße einem Friedensgebot, das auf die Meßfeier einstimmen sollte und das überhaupt erst die Meßfeier möglich machte.15)

Obwohl vielfältiger Anlaß für Friedensgebete gegeben war, scheint doch nach bisherigem Kenntnisstand keiner eine literarische Vorlage für die Inschrift geliefert zu haben. So gewinnt die von Kizik neuerlich aufgedeckte Quelle ein größeres Gewicht, zumal Gebets- und Liturgietexte öfter auf Glokken angebracht wurden16) und die Wetterbeschwörung eine der wichtigsten, vielfach auch epigraphisch dokumentierten Funktionen aller Glocken war.17) Vielleicht sollten aber durch diese Inschriftformel nicht allein die Naturgewalten beschworen, sondern auch alle anderen, zu unterschiedlichen Anlässen vorgetragenen Friedensbitten oder -gebote in knappster und allgemeinster Form zum Ausdruck kommen.

Die in VENI eingestellten Buchstaben Alpha und Omega, erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets, haben gemäß dem offenbarten Wort Gottes als Ausdruck ewigen göttlichen Seins in der christlichen Kunst schon früh Verbreitung gefunden.18)

Textkritischer Apparat

  1. GLORIE] Der vorletzte Buchstabe besteht aus Schaft und Bogen. gloriae Büttner, Otto, Heydenreich, Weißenfelser Kreisblatt.

Anmerkungen

  1. Heydenreich 1840, S. 101. Schon viele Jahre vor Abbruch der ruinösen Klosterkirche war die Glocke geborgen und zunächst in der Marienkirche deponiert worden (Weißenfelser Kreisblatt 1873, o. S.; Altertümer 1925, o. S.). Die Klosterkirche trug man zwischen 1882 und 1884 ab (Kunstchronik 1884, o. S.; Thieme 1928, S. 59; Bach 1970, S. 154 f.).
  2. Eine Abzeichnung der Buchstabenformen in der Einleitung S. XLVI.
  3. Abgebildet bei Schilling 1988, S. 70.
  4. Zur Frühgeschichte des Klarissenklosters vgl. Nr. 2 und Einleitung, S. XVI.
  5. Heydenreich 1840, S. 101; Weißenfelser Kreisblatt 1873, o. S.
  6. Schubart 1898, S. 542–544.
  7. LexMa 4, 1989, Sp. 1587–1592.
  8. Kizik 1992, S. 204–206.
  9. Franz 2, 1909, S. 87, 91 f. Der Verweis auf Franz schon bei DI 1 (Main- und Taubergrund), Nr. 441.
  10. Poettgen 1999/2000, S. 75 f., 79. Vgl. auch Schubart 1896, S. 538, 544.
  11. Das macht Nr. 25 deutlich.
  12. Vgl. Nr. 51; vgl. a. Walter 1913, S. 262 (Glockeninschrift in Regensburg von 1478: „Ubi campana resonat, sint omnia sana“).
  13. Walter 1913, S. 167 f.
  14. Otte 1884, S. 36, 39 f.
  15. Schubart 1898 (wie Anm. 6); Lippert 1939, S. 17. Zum Fehdeschutz für bestimmte Zeiten, Personen und Orte vgl. Conrad 1962, S. 435 f.; HRG 1, 1971, Sp. 1090 f.
  16. Kizik 1992, S. 205 f.; Poettgen 1999/2000, S. 77.
  17. Otte 1884, S. 44–47; Bergner 1896, S. 24 f. Zahlreiche Belege bei Walter 1913 und in den Bänden der „Deutschen Inschriften“ (DI). Vgl. a. HdA 5, 1933, Sp. 938–941, s. v. läuten.
  18. Vgl. Nr. 1, 3.

Nachweise

  1. Büttner, Teil 2, S. 83 (unvollständig).
  2. Otto 1796, S. 62 (unvollständig).
  3. Heydenreich 1840, S. 101 (unvollständig).
  4. Weißenfelser Kreisblatt 1873, o. S. (unvollständig).
  5. BKD Prov. Sachsen 3, S. 80.

Zitierhinweis:
DI 62, Weißenfels (Landkreis), Nr. 9 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di062l001k0000900.