Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

G1, Nr. 24(†) Bad Gandersheim, Stiftskirche um 1490

Für eine ältere Fassung dieser Katalognummer, siehe DIO02 Nr. 24

Beschreibung

Retabel des Dreikönigsaltars. Eiche, farbig gefasst. Das doppelflügelige Retabel stammt aus der ehemaligen Moritzkirche und wurde nach einem Brand im Jahr 1580 in die St. Georgskirche versetzt. Von dort kam es nach Abschluss der im 19. Jahrhundert durchgeführten Renovierungsmaßnahmen auf den Hohen Chor der Stiftskirche.1)

Die äußeren Flügel sind auf beiden Seiten bemalt, die inneren nur auf der Außenseite, ihre Innenseite zeigt vollplastische Figuren der Zwölf Apostel. Auf den Außenseiten der Außenflügel die Verkündigung mit den Inschriften A und B schwarz auf hellen Grund gemalt. Im Bild der Maria Graffiti aus dem 18. Jahrhundert.2) Auf den Innenseiten der Außenflügel Szenen aus der Kindheitsgeschichte Jesu.3) Der rechte Innenflügel zeigt auf der Außenseite eine Schutzmantelmadonna4), der linke die Gregorsmesse: Papst Gregor kniet vor einem Altar, auf dem eine kleine Christusfigur steht, aus deren Wundmalen das Blut in einen Kelch fließt. Um die Mensa des Altars innerhalb der Szene verläuft die hellbraun auf dunkleren Grund gemalte Inschrift C.

Im geöffneten Schrein im Mittelfeld auf einem Sockel in Schnitzarbeit die Anbetung der Heiligen Drei Könige als zentrale Darstellung. Am Sockel die unter einer Übermalung nur noch schwach erkennbare, gemalte Inschrift D. Neben der Szene sind in zwei Registern vier Figuren der in der Moritzkirche verehrten Heiligen angebracht: Veit (Vitus), auf der Rückseite identifiziert durch die gemalte Inschrift E,5) Dorothea, Sebald? mit Kirchenmodell und ein Mönch. Am Schrein unterhalb des Kreuzblumenkammes die nur noch in Resten erhaltene, photografisch sichtbar gemachte und digital rekonstruierte Inschrift F.

Inschriften E nach Kdm., F nach Richter.

Maße: H.: 113 cm; B.: 113 cm (geschlossener Schrein); Bu.: 1,5 cm (A, B), 2,2 cm (C), 3,5 cm (D), 1,75 cm (F).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A, C–F) mit Versal (B).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Katharina Kagerer) [1/2]

  1. A

    ave gracia plena dominvs tecvm6)

  2. B

    Ecce ancilla domini fiat michi secvndu(m) verbvm tvvm7)

  3. C

    [ . . ]a) aue · maria · gra(cia) // p(lena)b)8)

  4. D

    maria . m(ate)rc) . gr(ati)e . m(ate)r . mi(sericordi)e . tu . nos . ab . hoste . p(ro)tege .9)

  5. E ()

    vyt

  6. F

    [...] [per] me co(n)radu(m) borge(n)trik10)

Übersetzung:

Gegrüßt seist du, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir. (A)

Siehe, (ich bin) die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort. (B)

Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade. (C)

Maria, Mutter der Gnade, Mutter der Barmherzigkeit, schütze du uns vor dem Feind. (D)

(...) durch mich, Konrad Borgentrik. (F)

Versmaß: Drei Verse einer ambrosianischen Strophe, rhythmisch und endgereimt. (D)

Kommentar

Die von Jan Friedrich Richter entdeckte Künstlersignatur F weist den Altar als Arbeit des im Hildesheimer Land und in Braunschweig tätigen Bildschnitzers Konrad Borgentrik aus,11) von dem noch drei weitere Retabel stammen: zum einen das ursprünglich für die Nicolai-Kirche in Alfeld gestiftete, ein weiteres aus Hemmerde bei Unna und drittens der heute verlorene Altar aus Schlewecke im Landkreis Hildesheim.12)

Richter vermutet, dass im Zusammenhang mit der Meistersignatur F auf dem Gandersheimer Altar noch die Marienantiphon Regina coeli laetare angebracht war; denn diese befindet sich auch auf dem Braunschweiger Altar. Für den verlorenen Schlewecker Altar ist sie kopial überliefert. Die heutige restaurierte Fassung des dritten, ehemals Alfelder, heute in Köln befindlichen Retabels zeigt ebenfalls das Regina coeli.13)

Für die Vermutung Richters spricht, dass solche einheitlichen werkstatttypischen Inschriften für einzelne bedeutende südniedersächsische Altarwerkstätten, wie die des Hans Raphon oder Bartold Kastrop, nachzuweisen sind.14) Allerdings ist die Strophe maria mater gratie des Gandersheimer Altars weder für den Schlewecker noch für den heute in Braunschweig befindlichen Altar als Inschrift nachgewiesen, so dass durchaus auch mit einer gewissen Variation innerhalb der in einer einzigen Werkstatt-Tradition stehenden Inschriften zu rechnen ist.

Textkritischer Apparat

  1. Zwei nicht als Buchstaben identifizierbare Zeichen, das zweite besteht aus drei Schäften, vielleicht m.
  2. aue ... p(lena)] MARIA (mehrfach wiederholt) Gmelin.
  3. m(ate)r] virgo Kdm.

Anmerkungen

  1. Provenienz nach Richter, Gotik in Gandersheim, S. 46; die Moritzkirche wurde im Rahmen ihres Wiederaufbaus dem Gandersheimer Rathaus angegliedert.
  2. Johann Christian Gandersh(eim), die übrigen sind nicht mehr zu entziffern.
  3. Im Bild der Darbringung im Tempel mit Bleistift das Graffito: 1774.
  4. Im Bild der Schutzmantelmadonna ein weiteres Graffito (vgl. Anm. 2): Johann Christian Gandersheim 1740 [– – –] ICG.
  5. Die Inschrift konnte nicht verifiziert werden. – Eine verborgene Inschrift zur Bezeichnung der Darstellung findet sich auch auf einer Figur des Retabels der Göttinger Albani-Kirche von 1499, vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 59 Inschrift G.
  6. Lc. 1,28.
  7. Lc. 1,38.
  8. Mariengebet nach Lc. 1,28.
  9. Die beiden ersten Verse sind Teil der Marienstrophe ‚Maria mater gratie, mater misericordie‘, vgl. Analecta hymnica, Bd. 39, Nr. 72, S. 68. Tu nos ab hoste protege ist nicht Bestandteil dieser Strophe, lässt sich aber als Einzelvers in Strophenzusammenhängen nachweisen, die zu den „kleinen Tagzeiten“ Terz, Sext und Non des ‚Officium parvum Beatae Mariae Virginis‘ gehören, das als akzessorisches Offizium im Anschluss an das Tagesoffizium auch in den Säkularkirchen gefeiert wurde. Näheres zu dieser Strophe s. DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 84.
  10. Die Künstlersignatur des Konrad Borgentrik auf dem Schlewecker Retabel von 1479 lautet: Completum est opus illud in Hildensem per me Conradum Borgentrich sub Anno Domini m cccc lxx ix in vigilia anu(n)ctiac(i)o(n)is marie virginis; auf dem heute in Braunschweig befindlichen Altar: Completum est opus illud in brunswik per me Conradum Borgentrik 1483 vigilia laurencii (Nachweise der Inschriften wie Anm. 13). Nach dem Muster dieses Formulars wäre auch die Gandersheimer Künstlersignatur zu ergänzen.
  11. Zu Konrad Borgentrik vgl. Thieme/Becker, Bd. 4, S. 354.
  12. Der ehemals Alfelder Altar befindet sich heute mit erneuerter Fassung in der Minoritenkirche in Köln. Der Altar aus Hemmerde wurde beim Umbau der dortigen Kirche im Jahr 1871 dem damaligen Vaterländischen Museum in Braunschweig gestiftet und ist heute im dortigen Städtischen Museum aufgestellt, vgl. DI 35 (Stadt Braunschweig I), Nr. 215.
  13. Die Inschriften des Retabels aus Hemmerde sind ediert in: DI 35 (Stadt Braunschweig I), Nr. 215; die Veröffentlichung der Inschriften des Schlewecker Altars s. DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 41. Zum Alfelder Altar s. DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 84 und Kdm. Kreis Alfeld, S. 34, mit Verweis auf: [Ernst Franz August] Münzenberger, Der neue Hochaltar in der Minoritenkirche zu Köln. In: Zeitschrift für christliche Kunst, Jg. 2 (1889), S. 178‑182 mit Tafel 10, die den restaurierten Altar mit der Kamminschrift REGINA COELI LAETARE zeigt.
  14. Auf den Retabeln Hans Raphons finden sich z. B. die Verse: Tantus amor pietasque ..., vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 56, und DI 75 (Halberstadt, Dom), Nr. 161; die Schnitzretabel aus der Bildhauer-Werkstatt des Bartold Kastrop zeigen – allerdings auch nicht ausnahmslos, wie DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57 belegt – das sog. Gebet Sixtus’ IV.: Ave sanctissima Maria Mater Dei, vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82 u. Nr. 116.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 134–136.
  2. Richter, Gotik in Gandersheim, S. 46–49 mit Abb.
  3. Brackebusch, Inventar 1892, S. 4–8.
  4. Gmelin, Tafelmalerei, S. 121.

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, G1, Nr. 24(†) (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017g1002404.