Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 204† Moringen, ehem. Rathaus 4. V. 16. Jh.

Beschreibung

Utlucht (Standerker) des früheren Rathauses. Die Auslage über der steinernen Treppe des 1734 teilweise abgebrannten Rathauses wurde 1749 beim Wiederaufbau desselben abgebrochen. Auf der Utlucht befanden sich zwei Inschriften: Inschrift A an der Seite zur Marktstraße (zur Rechten), Inschrift B an der gegenüberliegenden Seite (nach dem Hospital zu).1)

Inschriften nach Antiquitates u. Domeier.

  1. A

    Curia dat curas nona) sit Tibi curia curae Curarum ergo expers esse vis a curia abstineb)2)

  2. B

    Quam bene conveniens sortita est curia nomen A gravibus curis Curia nomen habet3)

Übersetzung:

Die Kurie (das Rathaus) bringt Sorgen, du solltest dich nicht darum bemühen. Du willst sorgenfrei sein – dann halte dich fern von der Kurie. (A)

Was für einen treffenden Namen hat die Kurie (das Rathaus) erhalten: Sie hat ihren Namen von den schweren Sorgen. (B)

Versmaß: Ein Hexameter und ein weiterer Vers (trochäischer Septenar?) (A), Elegisches Distichon (B).

Kommentar

Die Spruchweisheiten, deren Wortspiele mit curia (Kurie, Rathaus), cura (Sorge) sowie curae esse (besorgt sein um etwas) nur im Lateinischen funktionieren, stellen den Dienst in der Stadtverwaltung, dessen Nutzen für das Gemeinwohl gewöhnlich (besonders in Grabschriften) betont wird, auf den ersten Blick überraschend negativ dar. Diese Färbung geht darauf zurück, dass sie ursprünglich auf Höfe gemünzt waren. Die Sentenz (A), die in einer Sammlung des Jan Gruter (de Gruytere, 1560–1627) von 1624 als sprichwörtlich belegt ist (vgl. Anm. 2), wurde 1617 am Ende der Neuausgabe einer (um 1427 entstandenen) Satire auf höfisches Leben des Franzosen Alain Chartier gedruckt.4) Eine frühere Form, die ebenfalls mit dem Halbvers Curia dat curas beginnt, wurde bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts auf die päpstliche Kurie verfasst.5) Auch das Distichon (B), das der am französischen Königshof als Panegyriker tätige Publius Faustus Andrelinus aus Forli (um 1461–1518)6) verfasst hat, richtete sich auf die römische Kurie.7) Dass die Spruchweisheiten um 1600 von Magistraten mit ostentativem Seufzer auf ihr Geschäft bezogen wurden, belegt auch die Anbringung einer Variante von (A) über dem Eingang zum Rathaus von Friedeberg in der brandenburgischen Neumark (Strzelce Krajenske, Woiwodschaft Lebus, Polen) im Jahr 1602.8)

Eine Entstehung der Utlucht im zeitlichen Zusammenhang mit dem Rathausbau, der auf zwei Kellereingängen mit den Jahreszahlen 1596 und 1597 (Nr. 195, 196) datiert ist, ist möglich, aber nicht nachzuweisen.

Textkritischer Apparat

  1. non] Antiquitates; nam Domeier.
  2. esse vis a curia abstine] Nur Domeier.

Anmerkungen

  1. Domeier, Moringen1, S. 56. Die Richtungsangaben in Klammern: Antiquitates Moringenses, S. 17.
  2. Als Sprichwort (vulgatum) zitiert in Jan Gruters Florilegium magnum: Curia dat curas, non sit tibi Curia curae? / Curarum ergo expers esse vis? a Curia abstine; Florilegii magni seu Polyantheae Tomvs Secundvs [handschriftl. korr.: Primus] Jani Gruteri. Formatus concinnatusque ex quinquaginta minimum Auctoribus vetustis, Grecis, Latinis, Sacris, Profanis, quorum tamen nullus fere comparet in tomo primo. (…), Straßburg, 1624, S. 438, s. v. Curiae. Vgl. auch Anm. 5.
  3. Nach einem Distichon des Publius Faustus Andrelinus: Quam bene conueniens sortita est curia nomen / A grauibus curis Curia dicta venit: Andrelinus, Aegloga, 1512 (VD 16 A 2769), s. v. Curia [S. 21f.]. Weitere Ausgaben im 16. u. 17. Jahrhundert. Vgl. Walther, Proverbia, Bd. II/9, S. 247 (Nr. 39840a18a).
  4. Vgl. Le Curial par Alain Chartier. Texte français du XVe siècle avec l’original latin publiés d’après les manuscrits par Ferdinand Heuckenkamp, Halle s. S. 1899, S. VIII (S. 401 der Ausgabe von 1617, ed. Duchesne).
  5. Curia dat curas: ergo si vivere curas / Et bene secure, non sit tibi Curia cure; überliefert unter der Überschrift Versus de statu Romane Curie in zwei Handschriften aus dem Umfeld des Würzburger Neumünster-Stiftes, die um 1350 entstanden sind; vgl. Hermann Grauert, Magister Heinrich der Poet in Würzburg und die römische Kurie, München 1912 (Abhandlungen der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften Philosophisch-philologische und historische Klasse, Bd. XXVII), S. 106 (Text) mit S. 62. Die andere Überlieferung findet sich in der „Würzburger Liederhandschrift“; BSB München 2° Cod. ms. 731 (Cim. 4), fol. 42v (urn:nbn:de:bvb:19-epub-10638-7). Vgl. Walther, Proverbia, Bd. II/1, S. 576 (Nr. 4759): Curia dat curas, ergo si tu bene curas / Vivere secure, non sit tibi curia cure.
  6. Dictionnaire de biographie française, T. 2, Paris 1936, S. 971f.
  7. Vgl. Ludwig Geiger, Studien zur Geschichte des französischen Humanismus, in: Vierteljahrsschrift für Kultur und Litteratur der Renaissance 1, 1886, S. 1–48, hier S. 39–41, bes. S. 41.
  8. Curia dat curas, a curis curia dicta (Die Kurie bringt Sorgen, wegen der Sorgen wird sie Kurie genannt); C[arl] Treu, Geschichte der Stadt Friedeberg in der Neumark und des Landes Friedeberg. Nach den Quellen dargestellt bis zum Jahre 1865. Verbessert und bis zur Gegenwart vervollständigt von Paul Müller, Friedeberg 1909, S. 190. Das Rathaus wurde bereits im 19. Jahrhundert abgebrochen.

Nachweise

  1. Antiquitates Moringenses, S. 17.
  2. Domeier, Moringen1, S. 56.

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 204† (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0020402.