Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 102 Northeim, St. Sixti 1. V. 16. Jh.

Beschreibung

Altarretabel. Holz. „Passionsaltar“, früher oft als „Marienaltar“ bezeichnet. Aufgestellt an der Außenwand des südlichen Seitenschiffs. Das Retabel stand um 1870 in der von 1845/46 bis 1888 als zweite Sakristei genutzten südlichen Chorkapelle. Mit Erneuerung der Sakristei in der nördlichen Chorkapelle 1884 wanderte das Retabel dorthin, wo es bis in das späte 20. Jahrhundert blieb.1)

Im Mittelschrein unter einem Baldachin mit reichem gotischen Schnitzwerk eine Kreuzabnahme. Zwei Männer stehen auf Leitern und lassen den Gekreuzigten herab, dessen Beine Joseph von Arimathia umfängt. Im Vordergrund vier trauernde Frauen, darunter vermutlich Maria Magdalena und Maria Kleophas (Jh. 19,25), sowie Johannes, der die in sich zusammensinkende Maria auffängt. Auf den Gewandsäumen der begleitenden Figuren mit Ausnahme des Johannes und des Soldaten mit Schwert auf der rechten Leiter ist Inschrift A angebracht, zumeist mehrfach wiederholt, je nach Faltenwurf auch nur teilweise. Auf dem Kragensaum des frontal blickenden, reich gekleideten Mannes auf der linken Leiter (Nikodemus?) Inschrift B. Alle Inschriften sind mit dünnem, teilweise verdoppeltem Strich gold auf blauem Hintergrund gemalt; intendiert war wohl, dass die Linien zu einem breiten Strich verschmelzen, teilweise stehen sie aber wie konturiert nebeneinander.

Auf den Innenflügeln Malereien: links oben die Handwaschung des Pilatus, darunter die Kreuztragung mit einer burgundisch anmutenden Stadtsilhouette im Hintergrund (ähnliche Silhouetten auch auf den beiden folgenden Gemälden); rechts oben eine Beweinung unter dem Kreuz (am Kreuzeshaupt auf einer gemalten Tafel der rotbraun auf hellem Braun gemalte Titulus C, mit Kürzungsstrichen über jedem Buchstaben; es wird eine vertiefte Inschrift auf einer zweifach vertieften Fläche imitiert), darunter die Auferstehung. In der Beweinung liegt der Leichnam halb aufgerichtet auf dem Schoß Marias; Johannes stützt Maria, davor die Dornenkrone und drei Nägel, angeordnet wie im Kreuznimbus. Eine Frau mit turbanartiger Kopfbedeckung wendet sich weinend ab; rechts kniet die betende Maria Magdalena, vor ihr eine Salbbüchse aus grün-blau gemusterter Keramik mit der schwarz gemalten Aufschrift D. Auf den Außenseiten der Flügel Darstellungen der vier Evangelisten mit ihren Attributen in Grisaillemalerei.2)

Maße: H.: 77 cm; B.: 108 cm (Schrein), 53,5 cm (Flügel); Bu.: 0,5 cm (A), 0,7 cm (B), 0,6 cm (C), 0,4 cm (D).

Schriftart(en): Kapitalis mit Elementen der frühhumanistischen Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Lara-Sophie Räuschel) [1/4]

  1. A

    AVE · MARIA · GRACIA · PLENA · DOMINUSa) · TECUM3)

  2. B

    AVE · MARIA // AVE · MARIA

  3. C

    · I(ESUS) · N(AZARENUS) · R(EX) · I(UDAEORUM) · 4)

  4. D

    ALOE5)

Übersetzung:

Sei gegrüßt Maria, voller Gnade, der Herr ist mit dir. (A)

Kommentar

Die Schrift von (A, B, D) zeichnet sich durch keilförmige Verbreiterungen der Schaft- und Balkenenden sowie der Cauda des R aus. Das flachgedeckte A ist mit gebrochenem Mittelbalken, rechtsschrägem und geradem Balken gestaltet. Die Deckbalken von A und T mit Anstrichen, bei A zumeist nur links. Bei M, N und V ein Wechsel von Haar- und Schattenstrichen mit Rechtsschrägenverstärkung. Die Bogenschwellungen (auch am unzialen E) sind innen gerade abgeschlossen, an den Bogenenden serifenartige Abschlussstriche. Bogenschwellungen und Strichverstärkungen fehlen auf dem Gewandsaum der betenden Frau ganz links. In (C) das I mit Nodus.

Gmelin, der das Schnitzwerk als handwerklich hervorragend lobt, bezeichnet die Malereien als „dürftige Durchschnittsarbeit“, die zudem teilweise durch Restaurierungen des 19. Jahrhunderts verdorben sei. Verwandtschaft mit Antwerpener Retabeln kennzeichnet das Werk als flämisch, laut Gmelin ist es „um 1505“ entstanden. Die Aufstellung dürfte kurz vor oder nach der Fertigstellung der Kirche 1519 erfolgt sein.6)

Textkritischer Apparat

  1. DOMINUS] Die Schreibung schwankt zwischen U und V; U auf dem Gewandsaum der Maria.

Anmerkungen

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 83. Von Hindte nennt das Retabel „Marienaltar“ und nimmt an, dass dieses ursprünglich zu dem Marienaltar gehört habe, der vor dem Lettner zwischen Chor und Langhaus stand; von Hindte, St.-Sixti-Kirche, S. 9.
  2. Zur Malerei vgl. Gmelin, Tafelmalerei, S. 634–636 (Nr. 209).
  3. Mariengebet nach Lc. 1,28.
  4. Io. 19,19.
  5. Nach Jh. 19,39 wird Jesu Leichnam mit „100 Pfund“ Aloe und Myrrhe gesalbt.
  6. Gmelin, Tafelmalerei, S. 634.

Nachweise

  1. Gmelin, Tafelmalerei, S. 634 (D) u. 635 (C: Abb. 209.4).
  2. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158f. (ohne Inschriften).
  3. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 83 (ohne Inschriften).
  4. Engel, Kunstdenkmäler, Tafel [10]. – Von Hindte, St.-Sixti-Kirche, S. 9 (A).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 102 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0010200.