Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 90† Northeim, Klosterkirche St. Blasius 1515

Beschreibung

Stein am Chorbogen. Einige Jahre nach der Stadtkirche St. Sixti begann Mitte der 1490er Jahre auch das Kloster St. Blasius mit einem Neubau der Kirche, der 1515 mit der Fertigstellung des Chors zu einem vorläufigen Abschluss kam. Der Stein war zusammen mit der Jahreszahl 1515 am vorderen Chorbogen angebracht.

Inschriften nach Letzner (Cod. Ms. Hist. 248).

  1. A

    Abnega te ipsum tolle crucem tuam et sequere Christum1)

  2. B

    Vive ut regula docet et habitus demonstrat et ad quid venisti et quod te agerea) oportet attende2)

  3. C

    Nosce te ipsum3) et meb)

Übersetzung:

Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich und folge Christus nach. (A)

Lebe, wie die Regel es lehrt und wie dein Habit es dir anzeigt, und achte darauf, wozu du gekommen bist und was du tun sollst. (B)

Erkenne dich selbst und mich (d. h. Christus). (C)

Kommentar

In den Inschriften mag man einen dreistufigen Aufbau erkennen: Von Abnega te ipsum … (verleugne dich selbst und folge Christus) als zeitlichem und sachlichem Beginn des Klosterlebens, über die Einhaltung der Klosterregel und der Erwartungen an das Mönchsleben zum Nosce te ipsum et me (erkenne dich selbst und Christus). Die Zitate sind zusammengestellt aus zwei Schriften des Augustiner-Chorherrn Thomas von Kempen (1379/80–1471), der zeitweise die Novizenausbildung in seinem Kloster geleitet hatte. Sie zeugen von der Bekanntschaft der Klosterbrüder mit den seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in geistlichen und Laienkreisen in Handschriften und frühen Drucken weitverbreiteten4) Werken der „Devotio moderna“, einer geistlichen Bewegung, die persönliche Frömmigkeit, gespeist aus der Betrachtung und dem Nachempfinden der Leiden Christi, in den Mittelpunkt des Glaubens rückte. Die „Devotio moderna“ hatte auch Einfluss auf die Bursfelder Kongregation von 1440, der das Blasius-Kloster 1464 beitrat.5)

Der Mitte der 1490er Jahre begonnene Neubau der Klosterkirche war 1513 so weit fortgeschritten, dass der Chor im Osten geschlossen wurde. Zwei Jahre später, 1515, entstanden Lettner, Altar und Predigtstuhl. Die Inschrift am Chorbogen dokumentierte den Abschluss dieser Bauphase. 1517/18 folgten noch Sakristei und Bibliothek. Der sehr groß dimensionierte Bau kam wenig später infolge der Hildesheimer Stiftsfehde (1519 bis 1523) und der Reformation zum Erliegen. 1591 stürzte das Dach teilweise ein; der Rest wurde 1612 wegen Einsturzgefahr abgenommen. Nachdem 1720 die Mauern – und damit auch die vorliegende Inschrift – immer weiter verschwunden waren, wurden um 1780 die Fundamentreste beseitigt.6)

Textkritischer Apparat

  1. te agere] teagere Letzner (Cod. Ms. Hist. 249); tangere Emendation Vennigerholz.
  2. Die Abweichungen von Cod. Ms. Hist. 249 beschränken sich auf einige Variationen bei den Versalien sowie die Zusammenschreibung der ersten drei Wörter der ersten und der letzten Zeile.

Anmerkungen

  1. Thomas a Kempis, De imitatione Christi lib. II, c. XII: Dvrus multis videtur hic sermo abnega temet ipsum: tolle crucem tuam, et sequere Iesum: Thomae Hemerken a Kempis … De imitatione Christi qvae dicitvr libri IIII cvm ceteris avtographi Brvxellensis tractatibvs. (…) Ex avtographo edidit Michael Iosephvs Pohl, Freiburg i. Bg. 1904 (Opera omnia, vol. II), S. 82, Z. 6–8; vgl. auch ebd., Z. 27f.
  2. Thomas a Kempis, Dialogus noviciorvm liber primus: De contemptv mundi, c. III, Abs. 1: Status religiosorum magnus et sanctus est si bene servetur; si quisque sic vivat ut regula docet et habitus demonstrat …; ebd., Abs. 2: … sed ad quid venisti et quid te agere oportet attende: Thomae Hemerken a Kempis, Opera omnia, vol. VII: Tractatvvm historicorvm partem alteram complectens, edidit Michael Iosephvs Pohl, Freiburg i. Bg. 1922, S. 12, Z. 7–10 u. S. 13, Z. 2f. – Das Kloster besaß eine 1330 von Abt Heinrich erlassene regula vivendi; vgl. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 1, S. 59f. Niedersächsisches Klosterbuch, Bd. 3, S. 1106 (F. Engel).
  3. Lateinische Übersetzung der griechischen Inschrift gnothi seauton am Apollontempel in Delphi. Die Sentenz war durch Cicero (De finibus bonorum 5, 44) in der abendländischen Geistesgeschichte gegenwärtig; von Clemens von Alexandrien und Origines wurde sie seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. für das Christentum in Anspruch genommen. Vgl. auch Walther, Proverbia, Bd. II/3, S. 430 (Nr. 18810). DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 323 (Hausinschrift aus dem Jahr 1534 an einem Adelshof).
  4. Vgl. Ulrike Bodemann, Nikolaus Staubach (Hg.), Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale, Frankfurt 2006 (Tradition – Reform – Innovation 11); bes. die Beiträge von Nikolaus Staubach, Monika Costard u. Stefan Sudmann.
  5. Vgl. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 1, S. 62f. Niedersächsisches Klosterbuch, Bd. 3, S. 1103 (F. Engel).
  6. Vgl. Letzner, Klösterchronik (Cod. Ms. Hist. 248), S. 1036f. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 1, S. 45–48. Niedersächsisches Klosterbuch, Bd. 3, S. 1107 (F. Engel).

Nachweise

  1. Letzner, Klösterchronik (Cod. Ms. Hist. 248), S. 1036f.; (Cod. Ms. Hist. 249), fol. 1174r/v.
  2. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 1, S. 45f. (nach Letzner).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 90† (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0009009.