Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 78 Greene, St. Martin 4. V. 15. Jh.

Beschreibung

Altarretabel. Holz. Aufgestellt in der Südostecke des Chors. Im Mittelteil des Schreins eine Anbetung der Könige im Relief, begleitet von jeweils zwei übereinander angeordneten Heiligenfiguren auf Sockeln, deren Inschriften nicht erhalten sind: links oben ein Bischof, darunter eine weibliche Heilige, rechts oben Katharina, darunter ein Papst, möglicherweise Gregor. In den Innenseiten der Flügel in zwei Reihen jeweils sechs Apostel. Auf der Rückseite des Schreins in Unterzeichnung eine – sehr schlecht erhaltene – Kreuzigung mit Maria und Johannes, auf den Außenseiten der Flügel Malereien: links in einem Rundbogen vor einem Schachbrettboden eine Anbetung des Christuskindes durch Maria und Joseph, rechts eine Gregorsmesse.

Der durch einen roten Scheibennimbus hervorgehobene Papst Gregor kniet mit betend gefalteten Händen vor dem am linken Rand des Bildes schräg stehenden Altar, auf dem der deutlich kleiner dargestellte Schmerzensmann erscheint, der die linke Hand grüßend erhebt. Hinter ihm der leere Sarkophag, darüber das Kreuz mit Dornenkrone. Mit der rechten Hand greift sich der Auferstandene an die Seitenwunde, aus der, ebenso wie aus den Fußwunden, ein Blutstrahl in den Kelch fließt. Neben dem Kelch liegt die Patene mit der Hostie, daneben ein geöffnetes Messbuch. An der Rückwand der Kapelle die Arma Christi (Marter- und Leidenswerkzeuge); von links: drei Nägel, eine Zange, die Lanze, der Stab mit Essigschwamm, davor drei Salbbüchsen,1) dann die Martersäule mit Hahn darauf, vor der Säule im Andreaskreuz ein Bündel Ruten und eine dreischwänzige Geißel, dann ein Bohrer, anschließend der untere Teil einer Kanne, darunter die Laterne der Gefangennahme und drei Würfel. Unter den Arma, wie auf einem Tuch gemalt, vier Köpfe aus der Passion; von links: Petrus, Herodes (mit Krone), Pilatus (mit Hut) und Judas (mit Bart). Hinter dem Papst stehen zwei Kardinäle, der linke hält hinter dem Kopf Gregors die Tiara, der rechte den Kreuzstab. In der Ecke unten links kniet vor dem Altar ein Diakon, der seine betend erhobenen Hände dem Papst zuwendet. Sein Gewand (Dalmatik) ist ebenso reich gemustert wie das des Papstes. Der durch eine rahmende Rundbogenöffnung und die Andeutung von Bodenfliesen im Vordergrund angestrebte Raumeindruck wird durch die nachlässige Behandlung der Zentralperspektive gestört. Die gemalte Inschrift A in zwei Zeilen unter dem Bild, weiß auf dunklem Untergrund. Die Inschrift ist durch Übermalungen stark überformt. Unten rechts auf den Fliesen des Vordergrundes, oberhalb des Inschriftenfeldes in etwas hellerer Farbe auf braunem Untergrund zwei nur schwach abgehobene Wörter (B), davor möglicherweise eine retuschierte Fehlstelle.

Das Retabel war seit dem frühen 18. Jahrhundert (1716 Erweiterung der Kirche) eingelassen in die Rückwand des barocken Kanzelaltars, so dass die Außenseiten nicht sichtbar waren. Steinacker konnte die Inschrift zu Beginn des 20. Jahrhunderts daher nur nach dem Corpus bonorum von 1748 wiedergeben.2) Das Retabel wurde 1953/54 ausgebaut, restauriert und mit einem zusätzlichen Rahmen versehen.3) Bis zur heutigen Aufstellung stand es zeitweilig in der Sakristei.

Maße: H.: 131 cm (mit neuem Rahmen), 125,5 cm (alt); B.: 151 cm (Schrein, neu), 139,5 cm (alt), 75 cm (Flügel, neu), 68,2 cm (alt); Bu.: 2,8 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Lara-Sophie Räuschel) [1/1]

  1. A

    de mit bogenden knena) sprektb) iic) p(ate)rd) n(oste)r vnde v / aue ma(r)ia de heft vordenet xiiie) dusentf) iar aflateg)

  2. B

    [….] duse(n)t iarh)

Übersetzung:

Wer mit gebeugten Knien zwei Vaterunser spricht und fünf Ave Maria, der hat sich 13 000 Jahre Ablass verdient. (A)

…tausend Jahr. (B)

Kommentar

Von der stark überarbeiteten und oftmals verfälschten Schrift ist nur erwähnenswert, dass das r im Regelfall (sprekt, iar) mit Zierstrich an der zum Quadrangel reduzierten Fahne ausgeführt ist. Inschrift B dürfte eine Wiederholung der Jahre des Ablassversprechens gewesen sein, möglicherweise hat der Maler aber auch seine Vorlage missverstanden: In dem Stich des Johannes von Brünn (s. u.) steht an dieser Stelle dessen Name (· Jo · zu · prun ·).

Bei der „Gregorsmesse“, so der in der Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Begriff, handelt es sich um einen Bildtypus des Spätmittelalters, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine zunehmende Verbreitung fand. Dargestellt wird die Vision des Papstes Gregor I., dem der Legende nach während einer Messe in der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme Christus auf dem Altar erschienen war.4) Entstanden ist der Bildtypus, „eine der wichtigsten Bildinnovationen des ausgehenden Mittelalters“,5) zwischen 1386 und 1390 an der Kirche Santa Croce in G., die seit 1385/86 eine byzantinische Mosaikikone, ein sogenanntes „Prothesisbild“, besaß, das den Schmerzensmann stehend im Sarkophag zeigt. Die Mönche an Santa Croce haben gedruckte Andachtsbilder verkauft, die Abbildungen der Ikone mit der Vision Gregors verbanden. Hinzu kam der Ablass, der mit dem Besuch der Kirche, die eine der sieben Stationskirchen für Rompilger war, verbunden war. Dieser Ablass, 1350 mit einer gefälschten Bulle Papst Clemens’ VI. festgeschrieben, wurde von Papst Urban VI. (1378–1389) auf alle Abbildungen der Ikone ausgedehnt, die damit den Besuch der Kirche ersetzten. Der durch die Pilgerzettel verbreitete Grundtypus fiel vor allem in Mitteleuropa auf fruchtbaren Boden und verbreitete sich durch Einzelwerke, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch durch Buchmalerei und Einblattdrucke, bis die Reformation dem Erfolg um 1530 schlagartig ein Ende setzte. Entscheidend für den Erfolg des Bildtypus ist das Ablassversprechen, das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf zahlreichen Einblattdrucken der Gregorsmesse abgedruckt ist.6) Auf den vor allem in West- und Norddeutschland entstandenen Tafelbildern und den zumeist süddeutschen Epitaphien wurde der Text dagegen nur selten inschriftlich angebracht, kann allerdings auf Tafeln daneben gestanden haben. Auf einem zwischen 1480 und 1500 entstandenen Votivbild im Kloster Preetz (Kreis Plön, Schleswig-Holstein) findet sich das einzige weitere Beispiel für eine Inschrift in niederdeutscher Sprache.7) Andere Versionen der Gregorsmesse finden sich auf den Außenseiten des Dreikönigsretabels (um 1490) und des Marienretabels von 1521, die sich heute in der Gandersheimer Stiftskirche befinden; Nr. G24, G29.

Gmelin datierte das Retabel, das er einer Braunschweiger Werkstatt zuschrieb, „um 1490“. Er vermutete, dass dem Maler ein Einblattholzschnitt als Vorlage diente.8) Infrage kommen zwei Holzschnitttypen des Israhel van Meckenem (um 1440–1503) aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts. Für die Darstellung der beiden Kardinäle und die meisten der Arma Christi (die Säule mit Hahn, die drei Salbbüchsen, Rutenbündel und Geißel im Andreaskreuz, die Laterne) diente offenbar ein etwas größerer Holzschnitt als Vorlage;9) die Haltung und die Dalmatiken von Papst und Diakon sowie die Haltung des Schmerzensmannes folgen einer anderen, kleineren Vorlage.10) Die Werke Israhel van Meckenems gehen wiederum zurück auf einen Holzschnitt des Johannes von Brünn, auf dem das Ablassversprechen von 14 000 Jahren für ein andächtiges Gebet von fünf Vaterunser und fünf Ave Maria gedruckt ist.11) Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen sehr kurzen, auf den Kern zurückgeführten Text, der einige sonst typische Elemente, wie die Nennung des Ortes der Vision und die Ergänzung des Ablasses durch weitere Päpste und Bischöfe, weglässt. Trotz der Formelhaftigkeit variieren bei den verschiedenen Versionen die Anforderungen an den Betenden – zumeist werden nur ein Vaterunser und ein Ave Maria verlangt, aber immer mit gebeugten Knien – wie auch die Ablassversprechen; neben den ursprünglichen 14 000 Jahren sind es in den Einblattdrucken später auch 33 000 Jahre.12) Bei der Tafelmalerei ist die Bandbreite noch größer; so werden einmal je elf Gebete verlangt und bei den Ablassjahren erscheinen auch 20 000, 30 000 und 34 000 Jahre.13) 13 000 Jahre kommen nie vor. Es läge daher nahe, eine Verfälschung der Zahl auf dem vorliegenden Bild von xiv (oder xiiii) in xiii dusent anzunehmen; allerdings ist die Zahl so bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts gelesen worden.

Im Bildtypus der Gregorsmesse kommt die vorreformatorische Sakramentsfrömmigkeit und Gnadenhoffnung exemplarisch zum Ausdruck. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich bedeutsam ist dabei die Vergegenwärtigung der Bildinhalte (Messe, die Vision des Papstes, der Anblick des Schmerzensmannes und der Leidenswerkzeuge) im betenden Nachvollzug durch die Gläubigen.14)

Textkritischer Apparat

  1. knen] Befund: bnev, fehlrestauriert; Knien Ehlers.
  2. sprekt] Die Unterlänge des p fehlt, ebenso der rechte Bogenabschnitt und der Balken des e.
  3. ii] V Kdm. u. Ehlers, v Gmelin. Eine Fehlrestaurierung aus v erscheint möglich, lässt sich aber nicht sicher belegen. Die Schäfte reichen, anders als bei dem v vor aue, nicht über das Mittelband hinaus.
  4. p(ate)r] r als e fehlrestauriert.
  5. xiii] XIII Kdm. u. Ehlers; xii Gmelin, offenbar Druckfehler. Möglicherweise verfälscht aus xiv oder xiiii; vgl. den Kommentar.
  6. dusent] u fehlrestauriert: zwei unten nicht verbundene Schäfte, der rechte Schaft ist ist unter die Grundlinie verlängert; tusend Ehlers.
  7. aflate] Der Bogen des f fehlt.
  8. […] duse(n)t iar] fehlt Kdm; durch dat Gmelin. Befund: das lange s im Mittelband, über et ein Kürzungsstrich. Davor offenbar eine retuschierte Stelle.

Anmerkungen

  1. Vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 120, S. 378f. Allgemein zu den Arma Christi: Kelberg, Gregorsmesse, S. 66–75. Kelberg (ebd., S. 74) hat mit Gmelin die drei Salbbüchsen, die er als regelmäßige Bestandteile aufführt, als Geldbeutel für die 30 Silberlinge bezeichnet; der Blick auf die Vorlagen (vgl. den Kommentar) zeigt aber, dass es sich ebenfalls um Salbbüchsen handeln muss.
  2. Vgl. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 443f. (mit Abb. 250 u. 251).
  3. Gmelin, Tafelmalerei, S. 379. Ehlers, Greene, S. 72f.
  4. Vgl. Meier, Gregorsmesse, S. 16–37, 40–45 u. 53f. Kelberg, Gregorsmesse, bes. S. 6–8.
  5. Hamm, Nähe des Heiligen, S. 197.
  6. Vgl. Kelberg, Gregorsmesse, S. 5–16. Meier, Gregorsmesse, S. 55–86, 107–265 u. 278f.; zu der Verbindung mit Ablassinschriften bes. S. 176–181.
  7. Vgl. Kelberg, Gregorsmesse, S. 17–20 u. 85–87. Nur auf sechs der von Kelberg aufgelisteten 197 Objekte mit Darstellungen der Gregorsmesse findet sich die erklärende Inschrift; vgl. den Katalog ebd., S. 148–226. Zu Preetz vgl. ebd., Nr. 153, S. 209. Die Verbindung von einem Epitaph (der Dorothea Schürstab in Nürnberg) und der Inschrift hat Berndt Hamm exemplarisch untersucht; Hamm, Nähe des Heiligen, S. 198–219. Zu Ablassinschriften vgl. allgemein Magin, Ablassinschriften, passim. Griese, Text-Bilder, S. 311–315.
  8. Vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Kat. Nr. 67, S. 258–261.
  9. Vgl. Lehrs, Katalog, Bd. 9, Nr. 351 u. 352, S. 285–287.
  10. Vgl. ebd., Nr. 347, S. 283 sowie Nr. 349, S. 284f. u. Nr. 118, S. 134f. (seitenverkehrt). Für den Vergleich wurde die Datenbank gregorsmesse.uni-muenster.de durchgesehen (21.02.2013). Die Bezüge wurden dort (und von Kelberg, Gregorsmesse, S. 158) nicht hergestellt, scheinen mir aber unabweisbar.
  11. Do gab er alle(n) den die mit gepoge(n) knien vnd mit rechter andacht spreche(n) / · v · p(ate)r n(oste)r v · aue · maria vor diser figur Als oft er das tut als vil ablas vnd gnad / Als in ier selbe(n) kirche(n) ist Daz sind · xiiij · tausent iar … Schreiber, Holzschnitte, Nr. 1455.
  12. 14 000 Jahre: Schreiber, Holzschnitte, Nr. 1455, 1457–1460, 1462, 1463, 1467, 1471, 1472; Ders., Metallschnitte, Nr. 2645, 2650, 2652. 33 000 Jahre: Schreiber, Holzschnitte, Nr. 1456, 1469.
  13. Kelberg, Gregorsmesse, Katalog Nr. 70 (11 Gebete), 112 (4 Gebete), 137 (30 000 Jahre), 153 (Preetz, 20 000 Jahre) u. 155 (34 000 Jahre); S. 172, 191, 202, 209 u. 210. Vgl. auch Hamm, Nähe des Heiligen, S. 201 (30 000 Jahre; Kelberg, Nr. 137) mit Abb. 4, S. 199. DI 74 (Stadt Regensburg II, Dom), Nr. 255 (34 000 Jahre; Kelberg, Nr. 155). DI 78 (Baden-Baden, Rastatt), Nr. 136 (34 000 Jahre). Vgl. insgesamt Hamm, Nähe des Heiligen, Anm. 57, S. 202f. Griese, Text-Bilder, S. 275.
  14. Hamm, Nähe des Heiligen, passim; (entspricht Hamm, Ars moriendi). Kelberg, Gregorsmesse, S. 15f.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 444.
  2. Ehlers, Greene, S. 73.
  3. Gmelin, Tafelmalerei, S. 378f.
  4. Kelberg, Gregorsmesse, S. 178 (nach Gmelin).
  5. Meier, Gregorsmesse, Abb. 74.

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 78 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0007801.