Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 77 Uslar, St. Johannis 4. V. 15. Jh.

Beschreibung

Altarretabel („Passionsaltar“). Holz, farbig gefasst. Auf der Festtagsseite geschnitzte Darstellungen aus dem Leben Jesu vor punziertem Goldhintergrund und gotischem Maßwerk als Bekrönungen. Im Mittelfeld des Mittelschreins eine Kreuzigung mit zahlreichem Personal, darunter drei Reiter und links Veronika mit dem Schweißtuch; am Kreuz auf einem Schriftband aus Metall die gravierte, schwarz ausgelegte Inschrift A. Die übrigen Darstellungen in zwei Reihen. Neben der Kreuzigung oben links Johannes der Täufer mit dem Lamm (Agnus Dei), oben rechts Johannes Evangelista (bartloser Jüngling mit Kelch), unten links Augustinus mit einem Herz in der Rechten, unten rechts Laurentius mit Rost. Die Aufstellung dieser Figuren wurde bei der Restaurierung Mitte der 1950er Jahre verändert, der Rost ergänzt.1) Außen neben den Figuren jeweils eine Szene. In den Seitenflügeln drei weitere Szenen in jeder Reihe. In der oberen Reihe, beginnend oben links: die Verkündigung; die Anbetung des Jesuskindes durch Maria und Joseph, davor möglicherweise zwei kleine Stifterfiguren; die Darbringung im Tempel; die Anbetung der Könige; nach der Kreuzigung: das Letzte Abendmahl; das Gebet am Ölberg; die Gefangennahme; die Geißelung. In der unteren Reihe von links: die Verspottung Christi; Christus vor Pilatus; die Kreuztragung; eine Pietà, dahinter stehend Maria Magdalena und Johannes, am Kreuz im Hintergrund der schwarz auf rot gemalte Titulus B, die Worttrenner rot; nach der Kreuzigung: der Abstieg in die Vorhölle; die Auferstehung; Himmelfahrt (im Zentrum der Felsen mit den Fußabdrücken); ein thronender Christus, der mit segnenden Händen die Wundmale zeigt, davor kniend ein betendes Paar. Auf den Außenseiten der Flügel Malerei. Links Szenen aus dem Leben Johannes’ des Täufers: Maria bei Elisabeth (Heimsuchung), Taufe im Jordan, Enthauptung des Täufers und Gastmahl des Herodes. Auf dem rechten Flügel Episoden aus der Legende des Laurentius, darunter die Geißelung und das Martyrium auf dem Rost.2)

In der kastenförmigen Predella hinter einem Schleierbrett mit spätgotischem Maßwerk Maria, begleitet von den zwölf Aposteln. Die restaurierten Figuren der – mit Ausnahme von dreien – bärtigen Apostel sind teilweise vertauscht. Auf dem Rahmen darunter die gemalten (hellgrau auf rot) Beischriften C. Von links nach rechts: ein bartloser Apostel ohne erhaltenes Attribut, ursprünglich vermutlich eine Stange oder ein Kreuz in der Linken haltend (über der Beischrift Simon); Bartholomäus mit Messer und Buch; Thomas mit Buch und dem Rest einer Lanze; Jakobus d. Ä. mit Muschel und Pilgerstab; Johannes (bartlos) mit Kelch; Petrus mit Schlüssel; Maria mit Kind auf der konvexen Mondsichel; Paulus mit Buch und Schwert; Andreas mit Buch, der sich vermutlich mit der Rechten auf ein heute verlorenes Kreuz stützte; danach ein Apostel mit Säge (Attribut für Simon Zelotes), über der Beischrift Philippus; Jakobus d. J. mit den Resten einer Stange in der Rechten und einem aufgeschlagenen Buch in der Linken, auf dem Schrift in jeweils sechs Zeilen überwiegend imitiert wird; auf der rechten Seite ist in der vierten Zeile von oben Inschrift D zu entziffern; ein Apostel mit Schlüssel, der vermutlich fehlrestauriert wurde, über der Beischrift mathias; zuletzt ein bartloser Apostel mit einem Buch in der Rechten über der Beischrift matheus; die linke Hand lässt erkennen, dass er in dieser früher eine Stange hielt.3) Die quadrangel- bzw. rautenförmigen Worttrenner sind mit gebogenen und schleifenförmigen Zierstrichen versehen.

Maße: H.: 205 cm (gesamt), 64 cm (Predella); B.: 345 cm (Mittelschrein), 258 cm (Predella); Bu.: ca. 4 cm (A), 3,5 cm (B, C), 0,4 cm (D).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B), gotische Minuskel mit Versalien der frühhumanistischen Kapitalis (C), Minuskel mit Versal (D).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Julia Zech) [1/3]

  1. A

    · I(ESUS) · N(AZARENUS) · R(EX) · I(UDEORUM) · 4)

  2. B

    · I(ESUS) · N(AZARENUS) · R(EX) · I(UDEORUM) · 4)

  3. C

    · Simon · bartolomevsa) · thomas ÿacobbus · Iohannes · Petrus · Maria · Pawllvs · Andreas · Philippus Iacop(us) (min)orb) · mathias mathe(us)c) ·

  4. D

    Maria

Kommentar

In Inschrift A sind die Schaftenden stark konisch verbreitert, I ist mit Nodus versehen. Als Haarstriche ausgeführt sind der Schrägschaft des N und der Bogen des R; die Cauda des R setzt am Bogen an. Die Merkmale der frühhumanistischen Kapitalis sind bei dem gemalten Titulus B weniger stark ausgeprägt, was auf Übermalungen zurückzuführen sein dürfte; die I waren möglicherweise mit Nodi versehen. Die gotische Minuskel von Inschrift C zeichnet sich durch schräg angesetzte Zierstriche (gebogen am zum Quadrangel reduzierten Balken des r) aus, die an den Unterlängen von h und y schleifenförmig ausgezogen sind. Der Balken des e ist zum teilweise gebogenen Zierstrich reduziert, a ist doppelstöckig; das Bogen-r besteht aus zwei Schrägbalken, der obere mit der unteren Ecke auf der Cauda aufsitzend; am Wortende steht ein geschlossenes Schleifen-s. Über u und v finden sich diakritische Zeichen (zwei Schrägstriche, die ein nicht ganz geschlossenes kleines v bilden).

Die Abbildung von Szenen aus dem Leben von Johannes dem Täufer und der Laurentius-Legende auf der Außenseite der Flügel, der im Spätmittelalter normalerweise sichtbaren Alltagsseite des Hauptaltarretabels, lässt vermuten, dass die Kirche bzw. der Altar außer Johannes auch dem heiligen Laurentius geweiht war. Für Judas wurde laut der Apostelgeschichte (1,23–26) Matthias durch Los als Ersatz bestimmt. Für den in der Apostelreihe hier ebenfalls hinzugenommenen Paulus wurde aber nicht, wie gewöhnlich, Matthias weggelassen, sondern Thaddäus.5)

Die Plastik bringt Gmelin mit Retabeln aus Völksen (heute Langreder) und Eldagsen in Verbindung, die beide in den 1480er Jahren entstanden sind. Die Malerei, die er zunächst der Werkstatt des Hans von Geismar zugeschrieben hatte, wurde von ihm in der Folge etwas älter eingeschätzt, ihre Entstehungszeit vor dem Altar in Hevensen von 1494 (Nr. 74) angesetzt.6) Gmelin folgt darin Gabriele Neitzert, die aus stilkritischen Gründen in der Uslarer Malerei ein vor dem Hevenser Altar entstandenes Werk sieht, dessen Maler der aus Gotha stammende „Meister Klaus“ gewesen sein könne, der von etwa 1484 bis 1496 vermutlich der Werkstattvorgänger des Hans von Geismar in Göttingen war. Die Plastik schätzt Neitzert in ihrer Qualität höher ein als Gmelin und betont ihre in der Szenengestaltung von keiner Vorlage abhängige Selbständigkeit. Die Entstehungszeit sieht Neitzert „um 1490“, wofür sie auch die Kleidung der dargestellten Personen anführt.7)

Die frühhumanistische Kapitalis, die hier für die Tituli (besonders Titulus A) gebraucht wird, wurde ab etwa 1480 verwendet. Sie findet sich sehr ähnlich in Tituli auf Altarbildern, die zwischen 1480 und den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts in Göttingen entstanden sind. Am ähnlichsten erscheint auch in dieser Beziehung das Passionsretabel des Meister Clawes, das in den 1480er Jahren für das Hospital St. Crucis in Göttingen geschaffen wurde.8) Der schriftgeschichtliche Befund stützt eine Entstehung des Retabels zwischen 1480 und 1500, möglicherweise „um 1490“. Als Stifter des Retabels kommt Herzog Wilhelm d. J. (1425–1503) infrage, der nach seinem Rückzug aus der Regierung des Fürstentums Calenberg-Göttingen (in den Jahren zwischen 1487 und 1491) zeitweise auch in Uslar residierte.9)

Textkritischer Apparat

  1. Brezelföriges s über dem v.
  2. Iacop(us) (min)or] Befund: or hochgestellt.
  3. mathe(us)] Der Befund ist das Ergebnis einer Überarbeitung aus simon. An dem Schaft-s am Anfang wurde nachträglich eine Brechung am oberen Rande des Mittelbandes eingefügt; die Brechung des oberen Bogenabschnitts wurde übermalt, der Rest ist noch zu erkennen; das Kasten-a wurde durch Einfügung des Balkens aus den beiden rechten Schäften des m hergestellt, die obere Brechung des linken Schaftes ist teilweise übermalt; das anschließende o wurde durch Verlängerung der beiden senkrechten Bogenabschnitte nach oben zum t bzw. zum Schaft des h umgestaltet, an dem unten die Brechung nach rechts fehlt; aus dem ursprünglichen n am Ende wurde der linke Schaft nach unten zum Bogen des h verlängert, der rechte Schaft zum e ergänzt.

Anmerkungen

  1. Mithoff nennt Johannes den Täufer unten rechts und oben links einen Heiligen, den er mit Vorbehalt als Stephan identifizierte; Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 196. Vermutlich wurden beide Figuren vertauscht und der Rost nach Resten oder nach dem Gemälde auf der Außenseite des rechten Flügels ergänzt. Zur Restaurierung von 1956 vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 176, S. 526.
  2. Vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 176, S. 520–526.
  3. Zur Darstellung und den Attributen der Apostel vgl. LCI, Bd. 1, Sp. 152–154 (s. v. Apostel).
  4. Io. 19,19.
  5. Vgl. LCI, Bd. 1, Sp. 151f.; ebd., Bd. 7, Sp. 602–604 (Matthias); Bd. 8, Sp. 423f.
  6. Vgl. zuerst Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 176, S. 526 u. 528. Korrigiert: Gmelin, Mittelalterliche Kunst in Göttingen, S. 598.
  7. Gabriele Neitzert, Der Altar der St. Johannis-Kirche zu Uslar, in: NomHbll 1978, S. 84–90 u. 138–145.
  8. Vgl. Noll/Warncke, Kunst und Frömmigkeit, Tafel 37, S. 357 (heute in der Landesgalerie in Hannover). Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 170, bes. Abb. 170.2, S. 497. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 70.
  9. Geschichte Niedersachsens, Bd. 2.1, S. 794 (E. Schubert). Nach Havemann, Geschichte, Bd. 1, S. 736.

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 77 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0007703.