Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 74 Hevensen, St. Lambertus 1494

Beschreibung

Altarretabel. Holz. Triptychon. Im Inneren geschnitzte plastische Darstellungen aus der Passion. Im linken Flügel oben das Gebet im Garten Gethsemane mit einer gemalten Landschaft im Hintergrund, darunter die Kreuztragung. Im rechten Flügel oben der Judaskuss, darunter die Auferstehung. Im Mittelschrein die Kreuzigung mit zahlreichem Personal, im Hintergrund teilweise eine gemalte Landschaft. Am Rand vier Kirchenväter: links oben Papst Gregor I., darunter Augustinus (mit Herz), rechts oben Hieronymus (mit Kardinalshut und Löwen), unter ihm Ambrosius. Vier Gipsfiguren (Moses, David, Johannes d. T. und Petrus) auf den schmalen Streben zwischen der Verkündigung und den Kirchenvätern, die laut Mithoff 1869/73 noch vorhanden waren, waren so beschädigt, dass sie 1962 abgenommen und im Pfarrarchiv deponiert wurden.1) Inschrift A unten auf dem Rahmen des Mittelschreins; sie wurde 1857 bei einer Restaurierung durch H. Doppmeier übermalt,2) bei der Restaurierung des Schreins 1962 (durch H. Diederichs aus Berka) in Gold auf dem roten Rahmen nach Mithoff neu angebracht. Die 1962 freigelegten Buchstabenreste zeigten, dass der Text in breiteren Buchstaben die ganze Rahmenbreite einnahm; möglicherweise ursprünglich in frühhumanistischer Kapitalis.3)

Auf der äußeren Alltagsseite Gemälde. Auf dem linken Flügel oben die Verkündigung, darunter die Anbetung der Könige; auf dem rechten Flügel die Geburt Jesu in einer Winterlandschaft, darunter der Bethlehemitische Kindermord. Der Engel in der Verkündigung hält in der Linken ein mehrfach gewundenes Schriftband. Auf diesem Inschrift B, schwarz auf weißem Hintergrund gemalt; wegen der Windungen des Bandes ist der Text nur teilweise ausgeführt. Hinter dem Engel zwei Fensteröffnungen mit Durchblicken auf eine Landschaft, in der rechten Gottvater, der den Heiligen Geist (in Gestalt der Taube) zu Maria ausbläst. Rechts Maria betend neben einer Vase mit Maiglöckchen. Hinter ihr ein Altar mit Kanne, Patene, Ziborium und drei umgedrehten Bechern, nach hinten begrenzt durch einen rechts abgeschnittenen rundbogigen Aufsatz mit einer rot und weiß gemalten Darstellung des auf Knien vor dem brennenden Dornbusch betenden Moses, der von Gott die Schrifttafeln mit den Zehn Geboten erhält; der Text auf den Tafeln ist nur angedeutet. Auf dem Rand des Rundbogens die verwischt ausgeführte Inschrift C, weiß auf rotem Hintergrund gemalt, nach rechts kleiner werdend. In der Geburtsszene über dem Stall ein weiterer Engel mit weißem Schriftband; eine Inschrift ist durch schwarze Striche nur angedeutet.

Auf der (späteren?) Predella, breiter als der Kasten, eine 1962 unter mehreren Farbschichten freigelegte, stark beschädigte Pfingstszene mit Jesus in der Mitte, die Weltkugel in der Hand haltend; aus den Nimben der Apostel züngeln die Flammenzungen des Heiligen Geistes.

Maße: H.: 152 cm; B.: 151 cm (Mittelschrein), 75 cm (Flügel); Bu.: 3 cm (A), 1,5 cm (B), 0,8–1 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis (A), frühhumanistische Kapitalis (B, C), gotische Minuskel (B, letztes Wort).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Jörg Lampe) [1/4]

  1. A

    <ADSPICITE DOLORES MEOS IN VESTRIS DOLORIBUS>

  2. B

    AVE GRACI(A) / ple(na)4)

  3. C

    ANNO · D(OMI)NIa) 1494 GOT GEB · IM DENb) EWGENc) LONd)

Übersetzung:

Seht auf meine Schmerzen bei euren Schmerzen. (A)

Gegrüßt seist du, voll der Gnade. (B)

Im Jahr des Herrn 1494. Gott gebe ihm den ewigen Lohn. (C)

Kommentar

Die verwischte Ausführung von Inschrift C ist künstlerisch wohl der angestrebten Perspektive geschuldet. Trotzdem lassen sich auch bei dieser Inschrift noch Elemente der frühhumanistischen Kapitalis ausmachen: A mit Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken, I mit Nodus, eingerolltes G (in GOT ein G, das aus zwei gegenläufigen, nicht miteinander verbundenen Bögen besteht), sowie offenes unziales D. Die Jahreszahl ist mit schlingenförmigen Vieren geschrieben, die 9 besteht aus einem kleinen linken und einem großen rechten Halbbogen. A und G ebenso auch im ersten Feld von Inschrift B, die im zweiten Feld zur gotischen Minuskel wechselt.

Das Schnitzwerk wird dem Umkreis der Braunschweiger Borgentrick-Schule zugeschrieben.5) Als Maler hat Behrens den von 1497 bis zu seinem Tod 1503 in Göttingen lebenden Hans von Geismar, den Meister des Göttinger Albani-Retabels, identifiziert, worin ihm die Literatur bisher weitgehend gefolgt ist.6)

Inschrift A variiert die Aufforderung, über die Wunden bzw. Schmerzen Christi zu meditieren, um zur Erkenntnis der von den eigenen Sünden verursachten Schmerzen zu gelangen. Diese Aufforderung – die sich an den zelebrierenden Priester richtet7) – findet sich sonst auf Predellenbildern und Wandmalereien Norddeutschlands und Skandinaviens, bei denen die auch auf dem vorliegenden Retabel abgebildeten vier Kirchenväter zum Teil mit Inschriften auf das Leiden Christi hinweisen.8) Bei Inschrift C dürfte es sich um ein Gebet des ausführenden Künstlers handeln und nicht um eine Fürbitte für einen nicht genannten, verstorbenen Stifter,9) da die Inschrift für Letzteres zu versteckt im Hintergrund angebracht ist. Da die Inschriften auf Altären sich auf die Kommunikation zwischen dem die Messe feiernden Priester und Gott beziehen, sind sie gewöhnlich in lateinischer Sprache abgefasst.10) Als einziger Laie kommt der Künstler als Hersteller des Bildes dieser Kommunikationssituation nahe, in die er sich als Laie auf Deutsch einschreiben konnte. Die sprachliche Form der Inschrift C dürfte darauf beruhen, dass in Göttingen, gelegen am südlichen Rand des niederdeutschen Sprachraums, bei Werken der künstlerischen Hochproduktion überregionale Einflüsse aufgenommen wurden.11)

Textkritischer Apparat

  1. D(OMI)NI] DMI Kat. Kunst und Kultur, S. 404; D(O)M(INI)I Gmelin; DM Reese; DoMinI Töpperwein.
  2. IM DEN] IIIII Kat. Kunst und Kultur, S. 404.
  3. EWGEN] EWIGEN Gmelin, Töpperwein; EWIG Kat. Kunst und Kultur, S. 404. Nach W eine Störung; Platz für ein I ist vorhanden, aber nicht so viel, dass ein Ausfall zwingend anzunehmen ist.
  4. LON] Fehlt Kat. Kunst und Kultur, S. 404.

Anmerkungen

  1. Vgl. Reese, Flügelaltar, S. 126. Kat. Kunst und Kultur, Nr. 106, S. 403. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 106.
  2. Reese, Flügelaltar, S. 129 mit S. 126.
  3. Reese, Flügelaltar, S. 129: „unbeholfen und mit freier Hand“. Kat. Kunst und Kultur, S. 403; Gmelin, Tafelmalerei, S. 505.
  4. Lc. 1,28.
  5. Kat. Kunst und Kultur, Nr. 106, S. 404 (Behrens). Gmelin, Tafelmalerei, S. 505. Reese, Flügelaltar, S. 132.
  6. Kat. Kunst und Kultur, Nr. 106, S. 404f. (Behrens). Reese, Flügelaltar, S. 132. Gmelin, Tafelmalerei, S. 505. Ders., Mittelalterliche Kunst in Göttingen, S. 600. Skeptisch: Noll, Hochaltarretabel von St. Albani, S. 178.
  7. Vgl. Wulf, Inschriften der Göttinger Altarretabel, bes. S. 286–289 u. 293.
  8. Vgl. den Kommentar von Christine Wulf zu einem Predellenbild aus Nordstemmen; DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 115 (1. V. 16. Jh.). Zu Rahmeninschriften vgl. Wulf, Inschriften der Göttinger Altarretabel, S. 285f.
  9. So Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 170, S. 503. Vgl. die Stifterinschrift Nr. 64.
  10. Wie Anm. 7.
  11. So finden sich bereits auf dem Göttinger Jacobi-Altar von 1402 deutschsprachige Inschriften, die offenbar aus einer in einem anderen Sprachraum entstandenen Vorlage übernommen wurden; vgl. Wulf, Inschriften der Göttinger Altarretabel, S. 288.

Nachweise

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 106 (C).
  2. Kat. Kunst und Kultur, Nr. 106, S. 403f.
  3. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 170, S. 502f. (B, C).
  4. Reese, Flügelaltar, S. 129 (A) u. 131 (B, C).
  5. Töpperwein, 1000 Jahre Kirchweih, S. 29 (C).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 74 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0007409.