Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 96: Lkr. Northeim (2016)
Nr. 44 Northeim, St. Sixti 2. V. 15. Jh.
Beschreibung
Retabel und Predella des Hauptaltars. Schnitzwerk, farbig und gold gefasst vor glattem, gold belegtem Hintergrund. Im Zentrum des Mittelschreins eine Marienkrönung (eigentlich: Mariensegnung), umgeben von einer in neun Segmente unterteilten Gloriole, in denen jeweils zwei Engel mit Musikinstrumenten die jubelnden Himmelschöre darstellen. Der erste Engel im zweiten Feld oben rechts hält auf einem Pult ein aufgeschlagenes Buch: auf der rechten Seite durch Striche angedeutete Schrift, auf der linken Inschrift A, schwarz auf weiß gemalt, aber durch Restaurierung überformt; in der untersten Zeile Noten. In der Gloriole thronend Maria und Christus mit der Weltkugel, die rechte Hand segnend über Maria erhoben; in dem von großen Kronen teilweise verdeckten Nimbus bzw. Kreuznimbus die Inschriften B. Links neben der Marienkrönung außen Johannes der Täufer mit Lamm und innen Papst Sixtus mit Tiara; rechts neben der Krönung der heilige Bischof Blasius mit Mitra, Bischofsstab und Horn sowie der Evangelist Johannes mit Kelch in der Linken, auf den die Rechte mit zwei Fingern weist, dazu die Beischriften C in den Nimben. In den Innenseiten der Flügel je vier Apostel: im linken Flügel Petrus mit Schlüssel, Andreas mit Kreuz, Jakobus d. Ä. mit Pilgerstab und Beutelbuch sowie Matthäus mit aufgeschlagenem Buch, auf dem Linien und Striche den Eindruck einer Beschriftung erzeugen, jeweils mit den Nimbenbeischriften D; im rechten Flügel Thomas mit Stange, Matthias mit Beil und aufgeschlagenem Buch, auf dem auf der linken Seite zwischen Linien eine Restaurierungsinschrift von 1906 angebracht ist,1) Paulus mit Schwert und Bartholomäus mit geschlossenem Buch und Messer, dazu die Nimbenbeischriften E. Die Beischriften B–E glatt vor punziertem Hintergrund. Als Worttrenner dienen reich verzierte, zumeist um einen zentralen Punkt entwickelte florale Muster, einmal auch fünf Punkte übereinander. Über den Darstellungen als Schleierbrett gotische Spitzbögen, unten geschnitzte, möglicherweise ergänzte Vierpässe. In der oben mit fünf gotischen Rundbögen begrenzten, kastenförmigen Predella in der Mitte ein mit einem Eisengittertürchen verschlossenes Tabernakel, links daneben die Figuren der Apostel Philippus mit Buch und T-Kreuz sowie Jakobus d. J. mit einem bogenartigen Objekt (Walkerstange?), rechts von diesem Simon mit Buch und Säge sowie Thaddäus mit geschlossenem Buch, die linke Hand hielt ehemals ein stabförmiges Objekt; jeweils mit den gemalten (gold vor grünem Hintergrund und dunkleren Konturen) Beischriften F in den Nimben auf der Rückwand. Die Worttrenner sind rautenförmig oder floral. Die Attribute der Apostel- und Heiligenfiguren dürften bei der Restaurierung durch Reinhold Ebeling 1906 teilweise ergänzt sein.2) Auf den Außenseiten der Flügel Malereien; auf dem linken Flügel Christus an der Martersäule, auf dem rechten die Kreuztragung.3)
Auf dem Schrein ist heute ein deutlich später entstandenes Triumphkreuz montiert; Nr. 105.
Maße: H.: 168 cm (Schrein), 75,5 cm (Predella); B.: 241,5 cm (Mitteltafel), 121,5 cm (Flügel), 207 cm (Predella an der Basis); Bu.: 0,3 cm (A), 3,8 cm (B–F).
Schriftart(en): Gotische Minuskel (A), gotische Minuskel mit Versalien (B–F).
- A
· glo·/riaa) · / · i(n) · [ex]ce/l(sis)b) · deo4)
- B
· sancta · maria · virgo · // ihes·us · cris·tus ·c)
- C
· sanctus · Johannes b(aptista) // · sanctus · sixtusd) · papa · // · sanctus · blasius · episcop(us) // · sanctus ·e) Johannes : ewang(elista)
- D
· sanctus · petrus · // · sanctus · andreas · // · sanctus · iacobus · // · sanctus · matheus ·
- E
· sanctus · Thomas · // · sanctus · Mathias · // · sanctus · paulus · // · sanctuusf) · bartholom(eus)g)
- F
sanctus : philippus · // sanctus · Jacob(us) min(or) // sanctus · symon · // sanctus · Thadeus ·
Übersetzung:
Ehre sei Gott in der Höhe. (A)
Die heilige Jungfrau Maria. Jesus Christus. (B)
Der heilige Johannes der Täufer. Der heilige Papst Sixtus. Der heilige Bischof Blasius. Der heilige Johannes der Evangelist. (C)
Textkritischer Apparat
- glo·/ria] Am Anfang der zweiten Zeile ein möglicherweise fehlrestauriertes Zeichen in Form eines J, dessen unterer Bogen als Schlaufe geformt und durch den Schaft zurückgeführt ist.
- i(n) · [ex]ce/l(sis)] Befund i · nce/l ; die beiden weit auseinanderstehenden Schäfte des n sind vermutlich aus einem e und einem x fehlrestauriert.
- Die Arme des Kreuznimbus’ werden als Worttrenner wiedergegeben.
- sixtus] calixtus Mithoff.
- Fünf Punkte übereinander.
- sanctuus] So!
- bartholom(eus)] Vom m sind zwei Schäfte ausgeführt, der Rest ist von der Figur verdeckt.
Anmerkungen
- instand / gesetz[t] / von / r. ebeling / hannover / 1906. Auf der rechten Seite des Buches finden sich die Reste einer ebenfalls modernen, stärker verblassten Inschrift in Kapitalisbuchstaben: RESTAUR/[….W.] / OTT[O] WORM / [….]; in der letzten Zeile möglicherweise eine Jahreszahl. Zu Reinhold Ebeling, einem Schüler Hermann Schapers, der von 1899 bis Mitte der 1930er Jahre als Kirchenmaler und Restaurator arbeitete, vgl. Lindemeier, Restaurierungsgeschichte, S. 162. Ebeling hinterließ auch auf seinen Wandmalereien Restaurierungsinschriften; vgl. ebd., S. 70f. mit Abb. 93 u. 95, S. 157f. Grundlage ist die im Internet zugängliche Dissertation Lindemeiers von 2009: Lindemeier, Studien, S. 54f., 60–62, 106, 109, 171f., 302 u. ö. 1908 malte Ebeling auch die Gewölbe der Sixti-Kirche aus; von Hindte, St.-Sixti-Kirche, S. 4. Diese Arbeit ist nicht aufgeführt bei Lindemeier, Restaurierungsgeschichte, S. 162.
- Ebeling arbeitete bei Wandmalereien zeittypisch mit starken Ergänzungen; vgl. Lindemeier, Studien, S. 146–148, 151 u. ö.
- Mithoff zufolge haben sich um 1870 auf „besondern (vielleicht später hinzugefügten) Seitenansätzen des Schreins“ noch Malereien befunden: links Johannes der Täufer und eine Heilige mit einem Teufel zu ihren Füßen, darüber (größer) Maria mit dem Kind; rechts St. Eustachius als Ritter, die Lanze haltend und einen Hirschkopf tragend, auf dem zwischen dem Geweih ein Kreuz steht, sowie der heilige Hieronymus; über beiden größer ein heiliger Papst (möglicherweise Sixtus); Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158. Diese Bilder wurden vermutlich bei der Restaurierung von 1906 entfernt.
- Incipit des Gloria im Ordo missae, nach Lc. 2,14.
- Vgl. Schiller, Ikonographie, Bd. 4,2, S. 147–150. LCI, Bd. 2, Sp. 671–676, bes. 672f. Legenda aurea, S. 590–592. Flor, Glaube und Macht, bes. S. 23–72.
- Kahsnitz, Hochaltarretabel in St. Jacobi, bes. S. 57f. zur Marienkrönung und den Aposteln. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 28.
- Vgl. DI 46 (Stadt Minden), Nr. 46 (um 1425). Eine farbig und gold gefasste Nachbildung befindet sich heute im Mindener Dom.
- Middeldorf Kosegarten, Marienretabel, S. 147: „um 1425–1430“.
- Werben in der Altmark. Die Johanniskirche (Bild 8 u. 9): guelcker.de/1920/werben-st-johannis/ (26.01.2016).
- Vgl. Friedrich Schlie (Bearb.), Die Kunst- und Geschichts-Denkmale des Großherzogthums Mecklenburg-Schwerin, Bd. 2, Schwerin i. M., 1891, S. 76 (mit den Tafeln nach S. 76).
Nachweise
- Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158.
- Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 84 (ohne Inschriften).
- Engel, Kunstdenkmäler, Tafel [2].
Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 44 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0004408.
Kommentar
Die punzierten Inschriften B–E zeichnen sich durch Zierhäkchen an Bogenenden sowie an den Enden von gebogenen oder geschwungen Zierstrichen aus; dies ist im Ansatz auch so bei den gemalten Beischriften F. Die Oberlängen von t und b ragen über die Zeile hinaus. Im Allgemeinen wird am Wortanfang ein rundes s verwendet, bei dem die Bögen gegeneinander verschoben sind, im Wortinneren (bei sixtus auch am Wortanfang) das Schaft-s, am Wortende dagegen ein Brezel-s. Brechungen und Bögen sind, dem Vorbild der Goldschmiedeminuskel folgend, teilweise hinter den Schaft gelegt; besonders auffällig ist dies beim p. Der Bogen des h setzt sehr hoch am Schaft an.
Das Motiv der Marienkrönung – im vorliegenden Fall handelt es sich genauer um die Segnung der gekrönten Maria unter Begleitung der Engelschöre –, das sich aus der Inthronisation als Braut Christi entwickelte, fand im Zuge der wachsenden Marienverehrung seit dem Hochmittelalter weite Verbreitung. Textquellen dafür sind das Hohe Lied 4,8, Ps. 44,10 und die Legenda Aurea.5) Eine etwas frühere Marienkrönung, begleitet von dem Kirchenpatron und anderen, für die Kirche wichtigen Heiligen sowie den Aposteln, findet sich im südniedersächsischen Raum bereits auf dem im Jahr 1402 entstandenen Retabel für St. Jacobi in Göttingen.6) Die künstlerische Vorlage für das Northeimer Retabel bildete aber vermutlich die Mindener „Goldene Tafel“, die sich heute im Berliner Bode-Museum befindet. Dies macht vor allem die zentrale Marienkrönung deutlich, die in Körperhaltung, Kleidung und Gestik dem Mindener Werk folgt, wenn auch die Mimik vergröbert erscheint. Die Tendenz der Vergröberung macht sich auch bei dem im Mindener Vorbild zahlreicheren und feiner ausgestalteten Engelschor sowie bei den Heiligenfiguren bemerkbar. Wahrscheinlich wurden auch die Brustbilder, die sich auf dem Mindener Retabel unterhalb der Figuren befanden, bereits bei der Anfertigung des Northeimer Werks durch einfache Vierpässe ersetzt. Auch von einer Rahmeninschrift findet sich auf dem vorliegenden Werk keine Spur.7) Eine Entstehung des Northeimer Retabels zu Beginn des zweiten Quartals des 15. Jahrhunderts stimmt mit der Datierung des Mindener Retabels in das Ende des ersten Quartals des 15. Jahrhunderts überein.8) Weitere Parallelen finden sich in den Marienkrönungen der ebenfalls um 1430 datierten Retabel in Werben (Lkr. Stendal, Sachsen-Anhalt)9) sowie St. Georgen in Wismar (Mecklenburg-Vorpommern).10)