Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 96: Lkr. Northeim (2016)
Nr. 34 Offensen, Kirche 1. V. 15. Jh. (um 1420?)
Beschreibung
Altarretabel. Kindheit-Christi- (Behrens) bzw. Drei-Königs-Retabel (Hartwieg). Triptychon. Im geschnitzten Mittelschrein die farbig gefasste Anbetung der Könige, die Innenseiten der Flügel mit Gemälden, Tempera auf Leinwand, auf Holz aufgezogen. Der Altar, dessen Herkunft unklar ist, ist erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Offensen belegt und wurde 1907/08 erneuert, wobei die Flügel vertauscht wurden und der – etwas zu breite – Zierkamm des Mittelschreins hinzugefügt wurde. 1956 und 1985 wurden erneut Restaurierungsmaßnahmen nötig.1) In dem Schrein unter drei gedrückten, an den Bogenenden beschnittenen Kielbögen die drei Könige, zwei frontal stehend, einer kniend mit einem geöffneten Kasten vor Maria mit dem Kind, links neben Maria kauernd Josef; alle Figuren auf flachen Konsolen. An der Rückwand im Hochrelief Ochs und Esel sowie Reste von punzierten Engeln. Vor dem Sockel ein zwar altes, an dieser Stelle aber wohl nicht originales Maßwerk mit doppelten Eichenblattranken, in das fünf Vierpässe eingelassen sind; auf dem mittleren Vierpass ein heute unkenntliches Wappen.2) Auf dem rechten Flügel eine Verkündigung: Auf einem Thron mit Baldachin Maria und Gabriel vor einem von drei Engeln gehaltenen, rot-gold gemusterten Ehrentuch; in der Ecke unten rechts eine goldene Vase mit weißen Lilien. Inschrift A im Nimbus des Erzengels Gabriel, Inschrift B im Nimbus der Maria; die Inschriften gearbeitet in Blattgold, Inschrift A punziert vor glattem Hintergrund, Inschrift B glatt vor punziertem Hintergrund. Inschrift C auf einem Schriftband zwischen dem Engel und Maria. Hinter Maria ein gotischer Pultschrank mit einem aufgeschlagenen Buch, darauf Inschrift D. Die Inschriften C und D gemalt, schwarz mit roten Versalien vor weißem Hintergrund. Über dem Baldachin sechs Engel und Gott, der Maria den Heiligen Geist in Gestalt der Taube sendet. Auf dem linken Flügel, nach der Vision der heiligen Birgitta (1303–1373),3) die Anbetung des Kindes durch Maria: Maria stehend vor einem von drei Engeln gehaltenen, schwarz4)-rot gemusterten Ehrentuch, links von ihr das nackte Jesuskind in einer goldenen, von sieben Engeln gehaltenen Strahlenmandorla. Inschrift E im goldenen Nimbus der Maria, glatt vor punziertem Hintergrund. Worttrenner in den Inschriften A, B und E sind Rosetten und Blätter, in (C) Punkte, jeweils fünf oder sechs um einen zentralen angeordnet. Die früher vorhandenen Darstellungen auf den Außenseiten der Flügel sind durch Abarbeitung verloren. Hier könnten sich Szenen aus Mariae Wochenbett befunden haben.5)
Maße: H.: 91 cm (ohne Predella); B.: 121,5 cm (Mittelschrein), 60,5 cm (Flügel); Bu.: 0,9 cm (A), 1,2 cm (B, C), 0,4 cm (D).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.
- A
· sanctvs · gabriel · archa(ngelvs)
- B
Sancta · maria · virgo
- C
· · Aue · gracia · plena · dominus · tecu(m)6) ·
- D
Ecce co(n)/cipies (et)a) / pariesb) // filiu(m) / et vo/cabis7)
- E
Sancta · maria · materc)
Übersetzung:
Der heilige Erzengel Gabriel. (A) Die heilige Jungfrau Maria. (B) Gegrüßt seist du, voll Gnade, der Herr ist mit dir. (C) Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären und ihn (Jesus) nennen. (D) Die heilige Maria, Mutter (Gottes). (E)
Textkritischer Apparat
- Tironisches et.
- paries] Farbabplatzungen beim p, langes s am Ende.
- mater] Der linke Teil des a beschädigt, e und r teilweise durch die Haare der Maria verdeckt.
Anmerkungen
- Behrens, Altar, S. 89f. u. 92. Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 105, S. 401. Hartwieg, Analyse, S. 248–250, 255f. Dies., Werke und Werkstatt, S. 456. 1902 ist das Altarbild in Offensen: Bei Überlegungen zum Einbau einer Heizungsanlage wird seine Existenz erwähnt; vgl. HStAH Hann. 180 Hildesheim, Nr. 6593.
- Vgl. Hartwieg, Analyse, S. 255f.
- Vgl. LCI, Bd. 5, Sp. 403.
- Es handelt sich um nachgedunkeltes Silber; Hartwieg, Analyse, S. 252.
- Hartwieg, Analyse, S. 247f. Danach Widder, Sankt Georg, S. 313.
- Lc. 1,28.
- Lc. 1,31: ecce concipies in utero et paries filium et vocabis nomen eius Iesum; vgl. auch Is. 7,14.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, S. 453–457. Dies., Analyse, bes. S. 270–272. Behrens, Altar, S. 92.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, S. 455. Dies., Befunde, S. 425–427.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, S. 457–461. Dies., Analyse, S. 257–262 u. 272f. Zur Braunschweiger Gedächtnistafel vgl. auch DI 35 (Stadt Braunschweig I), Nr. 72.
- Behrens, Altar, S. 92, 94 u. 97f. Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 105, S. 402 [Behrens]. Ähnlich auch Gmelin, Mittelalterliche Kunst in Göttingen, S. 594.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, S. 457 u. 465. Behrens’ Hinweis auf eine mögliche Verwandtschaft der Figuren mit denen eines gewöhnlich „um 1410–20“ datierten, heute neu zusammengestellten Retabels in Kemnade wurde bisher nicht weiter nachgegangen; vgl. Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 105, S. 402. Zu Kemnade vgl. Kdm. Kreis Holzminden, S. 383–385. Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 59, S. 361f.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, passim, bes. S. 461–466. Dies., Analyse, S. 276–283. Deiters, Das Barfüßerretabel und die ‚mitteldeutsche Kunst‘, S. 275–290.
- Die Qualität des Retabels und seine repräsentative Ausführung sprechen jedenfalls für den herzoglichen Auftraggeber; Deiters, Das Barfüßerretabel und die ‚mitteldeutsche Kunst‘, S. 275.
- Hartwieg, Werke und Werkstatt, passim, bes. S. 464f. Dies., Analyse, S. 278f.
- Widder, Sankt Georg, S. 313–319.
- Ebd., S. 312f.
- Vgl. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 164. Das Retabel könnte um 1870 allerdings auch weggestellt gewesen und so der Aufmerksamkeit Mithoffs bzw. seines Gewährsmannes entgangen sein.
- Hahn, Kostbarkeit, S. 9. Behrens, Altar, S. 92.
Nachweise
- Engel, Kunstdenkmäler, Tafel [24–27].
- Behrens, Altar, S. 90f.
- Kat. Kunst und Kultur, Bd. 2, Nr. 105, S. 401 (A–D) u. Farbtafel R nach S. 812.
- Stange, Tafelbilder, Bd. I, Nr. 766, S. 233f. (ohne Inschriften).
- Hahn, Kostbarkeit, S. 11 (C).
- Kämmerer/Lufen, Landkreis Northeim, Südlicher Teil, S. 346 (nur Abb.).
Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 34 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0003401.
Kommentar
Bemerkenswert an der regelkonformen gotischen Minuskel ist der Balken des t, der in den Nimbeninschriften A, B und E an beiden Seiten gleich weit über den Schaft hinausragt, in (A) und (B) mit einem Zierstrich an der rechten Hälfte des Balkens. Die Oberlängen von b, h, l, t ragen in (A) und (B) über die Zeile hinaus und sind gespalten. Allgemein wird das runde s verwendet, wobei die Bögen (auch in C) gegeneinander verschoben sind; in (D) findet sich zweimal ein langes s am Ende des Wortes. Der als Zierstrich nach innen in den Buchstaben geführte linke Bogenabschnitt des a läuft in den punzierten Inschriften teilweise (B, E) in blattartige Formen aus.
Die erstmals von Reinhold Behrens geäußerte These, dass der Maler des 1424 geweihten Göttinger Barfüßeraltars (heute Landesgalerie Hannover) die vorliegenden Malereien ausgeführt habe, ist durch die technischen Untersuchungen von Babette Hartwieg bestätigt worden.8) Die Nimbeninschriften zeigen in beiden Fällen einen Wechsel von punzierten Buchstaben vor glattem Hintergrund und glatten Buchstaben vor punziertem Hintergrund.9) Die Buchstaben weisen bei den Zierformen (z. B. an a und t ) Übereinstimmungen auf, ebenso die blattartigen Worttrenner.
Außer dem bereits von Behrens herangezogenen Magdalenenretabel aus Hildesheim schreibt Hartwieg der Werkstatt auch noch die für den Braunschweiger Dom angefertigte Gedächtnistafel für Herzog Heinrich den Löwen, Kaiser Otto IV. und ihre Ehefrauen zu.10) Behrens war der Ansicht, dass die Offenser Malereien zwischen dem Hildesheimer Magdalenenretabel (1416) und dem Barfüßeraltar (1424) entstanden seien, und datierte sie daher auf um 1420 (bzw. 1418 bis 1422).11) Hartwieg setzt das Offenser Retabel ebenfalls vor dem Göttinger, einmal auch vor dem Magdalenenretabel an.12)
Interessanter ist Hartwiegs These, dass der vorwiegend in Uslar residierende Herzog Otto Cocles (um 1380–1463) neben dem Barfüßerretabel und der Gedächtnistafel im Braunschweiger Dom auch das Offenser Retabel bei derselben Werkstatt in Auftrag gegeben hat, die auch die Figuren im Schrein angefertigt habe. Diese Werkstatt arbeitete im Raum zwischen Braunschweig, Hildesheim und Göttingen und nahm Einflüsse sowohl aus dem Harzraum (Halberstadt) wie auch aus dem Kölner Raum (bei der Punzierungstechnik und möglicherweise auch bei der Ausbildung des Hauptmalers, vermittelt über Herzogs Ottos Mutter Margarethe von Berg?) auf.13) Das Offenser Retabel könnte damit in den Rahmen des von dem Herzog unternommenen Ausbaus von Uslar als Residenz gehören.14) Es hat möglicherweise in der (kleinen) Burgkapelle gestanden, deren repräsentativen Ausbau der Herzog 1428 mit dem Bau des spätgotischen Chores der Johanniskirche (Nr. 35) begann. Der Chor weist einen teilweise noch erhaltenen, den Offenser Schreinfiguren verwandten Skulpturenschmuck auf.15) E. Widder sieht das Retabel wegen seiner Thematik als Ausdruck des vergeblichen Kinderwunsches des Herzogspaares, das nur eine überlebende Tochter, aber keinen Sohn und Nachfolger hatte. Zu dem vorliegenden Retabel käme in dieser Hinsicht noch das von dem Herzogspaar um 1435/40 gestiftete Ahnaberger Retabel mit Darstellungen aus der Kindheit Jesu hinzu, das sich heute im Museum in Kassel befindet.16) Denkbar wäre unter diesen Voraussetzungen auch eine Aufstellung des Offenser Altaraufsatzes in der Marienkapelle vor dem Uslarer Isertor, die Herzog Otto 1423 dem Uslarer Kaland überlassen hatte. Gleichzeitig hatte er mit Zustimmung seiner Braunschweiger Vettern für die Kapelle ein Seelgerät gestiftet, das viermal im Jahr gefeiert werden sollte.17)
Der Weg des Retabels, das möglicherweise erst nach 1870 nach Offensen gekommen ist – bei Mithoff wird es noch nicht erwähnt –, muss offenbleiben.18) Der um 1960 gegebene Hinweis eines früheren Lehrers aus Offensen, der Aufsatz stamme aus dem nahegelegenen Kloster Lippoldsberg (im nördlichsten Teil Hessens), lässt sich laut K. Hahn nicht bestätigen.19)