Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 16 Trögen, St. Laurentius nach 1332

Beschreibung

Glocke. Bronze. Inschrift A unterhalb der Schulter zwischen Kordelstegen, die erhaben gegossenen Buchstaben sind geformt durch gedrehte Wachsfäden, die teilweise Knoten bilden und beim Guss verrutscht sind; einzelne Buchstaben sind retrograd. Am Anfang drei griechische Kreuze. Unterhalb der Inschrift auf der Flanke vier Kruzifixe – drei gebildet aus gotischen Kreuzen, der Balken und der Stamm in Dreipässe auslaufend, unter C(V)M ein nach oben leicht konisch verbreitertes Kreuz mit schlichten Enden. Unter den Kruzifixen jeweils der Abdruck eines medaillonförmigen Pilgerzeichens mit einer Kreuzigungsgruppe (Christus am Kreuz, daneben links Maria und rechts Johannes) und umlaufender Inschrift. Drei im Guss teilweise stark gestörte Abdrücke nach derselben Vorlage (das Ende der Jahreszahl ist immer lesbar) unter REX, CRISTE und C(V)M mit Inschrift B, unter LAVENTI der insgesamt deutlichste Abdruck nach einem Original mit der leicht abweichenden Inschrift C. Die Inschriften B und C werden trotz des seriellen Charakters der Vorlagen aufgenommen, weil ihre Dokumentation und die Feststellung der Lesungen bei der Vielzahl von in Gottsbüren verwendeten Modeln für die Datierung von Bedeutung ist.

Maße: H.: 58 cm; Dm.: 65 cm (Glocke), 3,8 cm (Medaillon); Bu.: 2 cm (A), 0,15 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Jörg Lampe) [1/5]

  1. A

    + + + O REX · GLORJE · CRJSTE · VENJa) · C(V)Mb) · PACE · LAVENTIc)

  2. B

    + + SIGNV(M) GODESBVRE ORTV(M) [AN(N)O DO(MINI) M] CCC XXXId)

  3. C

    + SIGNV(M) GOD[E]SBVRC ORTV[M AN(N)O DO(MINI)] M CCC XXXIIe)

Übersetzung:

Oh König der Ehre, Christus, komm mit Frieden! Laurentius. (A)

Das Wunderzeichen, das sich im Jahr des Herrn 1331 (bzw. 1332) in Gottsbüren gezeigt hat. (B, C)

Kommentar

Die Buchstaben der Inschrift A sind an den Schaftenden mit Sporen versehen; bemerkenswert ist das Bemühen, durch zusätzliche Fäden Bogenschwellungen an O, C und am Schaft des J zu erzeugen. Der Bogen des G ist oben nach links umgebogen, N und S sind retrograd, der Balken des T reicht nach links nicht über den Schaft hinaus; das unziale E ist fast geschlossen, das unziale M ist rechts geschlossen (ebenfalls retrograd?), das spitze A ist mit Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken versehen. Die Schrift zeigt eine fast vollkommene Übereinstimmung mit der auf einer Glocke in Bühren (Lkr. Göttingen); die einzige Abweichung sind dort Zierpunkte zwischen und in den Buchstaben, die auf der vorliegenden Glocke nicht vorkommen. Auch die Inschrift ist, mit Ausnahme des Heiligennamens, identisch.1)

Die Wallfahrt nach Gottsbüren begann im Jahr 1331 kurz nach Auffindung einer „blutenden“ (rot verfärbten) Hostie und gewann sehr schnell überregionale Anziehungskraft bis nach Schweden und Norwegen.2) Die Hochphase endete nach etwa 50 Jahren. Nach der Auffindung von drei „blutenden“ Hostien in Wilsnack (Brandenburg) im Jahr 1383 löste dieser Ort Gottsbüren als überregionales Pilgerziel ab, das danach nur noch regionale Bedeutung in Nordhessen besaß.3) Die älteste Form des Pilgerzeichens, das mit der Kreuzigungsgruppe die Form der Hostie nachbildet, verweist in der Inschrift auf das Wunderzeichen, das sich im Jahr 1331 in Gottsbüren gezeigt hat; es wird möglicherweise noch im selben Jahr entstanden sein. Später wurden nach dem ersten Muster neue Modeln angefertigt, auf denen die Inschrift teilweise sinnentstellt erscheint. Am häufigsten ist die Verwandlung eines der beiden am Anfang stehenden Kreuze in ein zweites I, so dass die Jahreszahl als 1332 zu lesen ist.4) Die Bedeutung der Wallfahrt zeigt sich auch darin, dass zahlreiche Glocken in Nordhessen und in Mitteldeutschland Abdrücke des Pilgerzeichens aufweisen. Die frühesten datierten Glocken mit dem Pilgerzeichen aus Gottsbüren stammen aus dem Jahre 1336;5) es gibt aber auch noch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Anzahl von Exemplaren,6) im Jahr 1495 sogar aus Frøslev in Dänemark.7) Die Schrift und die Ausführung der Buchstaben von Inschrift A deuten darauf hin, dass die vorliegende Glocke noch im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts – wegen des für Inschrift B verwendeten Pilgerzeichens wahrscheinlich nicht lange nach 1332 – gegossen wurde.

Das Gebet O rex glorie veni cum pace wurde bereits im Jahr 1200 auf einer Glocke in St. Martin am Ybbsfeld (Niederösterreich) angebracht. Es wurde zu der wohl häufigsten Glockeninschrift.8) Das Gebet leitet sich aus dem liturgischen Formular der Kirchweihe her, die der Glockensegnung nahe steht, weil beide liturgische Handlungen dem Bischof vorbehalten waren. Rex glorie wird in Ps. 23,7–10 als Ehrentitel Gottes gebraucht und ist zusammen mit anderen Elementen dieses Psalms in eine Wechselrede zwischen Bischof und Diakon eingegangen, die beim Einzug des Bischofs während der Kirchweihe gesprochen wurde.9) Diese Wechselrede endet mit dem bischöflichen Friedenswunsch nach Lc. 10,5: Pax huic domui, ‚Friede sei diesem Haus‘. Das Gebet O rex gloriae leitet auch den mittelalterlichen Wettersegen gegen Blitze (Benedictio contra fulgura) ein.10) Die apotropäische (schadensabwehrende) Funktion der Glocke wird darüber hinaus auch durch den Abdruck der Pilgerzeichen aus Gottsbüren zum Ausdruck gebracht, wobei die Anbringung in alle vier Himmelsrichtungen bezeichnend ist.11)

Textkritischer Apparat

  1. VENJ] E und N sind beim Guss nahe aneinander geraten, der aufgesetzte Schwellbogen am J ist verrutscht.
  2. C(V)M] Kürzungsstrich über dem rechts geschlossenen M.
  3. LAVENTI] Statt LAV(R)ENTIVS.
  4. Der Anfang der Inschrift bis ORTV[M] nach dem Abdruck unter CRJSTE; von dem Abdruck unter REX ist + SIGNV(M) GOD[ES]BV[RE] OR[– – –] CCC XXI zu erkennen, von dem unter C(V)M nur + SIG[– – –] CC XXI. Ergänzungen nach dem in Kassel überlieferten Pilgerzeichen; vgl. Köster, Gottsbüren, S. 206 u. Tafel 1.1; Pilgerzeichendatenbank, Nr. 252.
  5. Ergänzungen nach dem in Bergen (Norwegen) gefundenen Pilgerzeichen; das M von ORTVM ist um 90° nach rechts gedreht; vgl. Köster, Gottsbüren, S. 206f. u. Tafel 1.2; Pilgerzeichendatenbank, Nr. 206.

Anmerkungen

  1. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 5; die Glocke ist daher in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts einzuordnen. Auch die nicht erhaltene Glocke in Wollbrandshausen (ebd., Nr. 6) könnte vom selben Gießer stammen.
  2. Vgl. Köster, Gottsbüren, S. 198–205.
  3. Ebd., S. 217–222; Köster kannte allerdings nur wenige Belege für Pilgerzeichenabdrücke auf Glocken aus dem 15. Jahrhundert. Zu weiteren vgl. Anm. 5 u. 6.
  4. Köster, Gottsbüren, S. 213–216; die Beispiele S. 206–208 (mit Tafeln).
  5. Vgl. Pilgerzeichendatenbank, Nr. 1430 (Kannawurf, Thüringen) und Nr. 1467–1477 (Steuden, Sa.-Anh.). Weitere Glocken aus dem 14. Jahrhundert gab oder gibt es in Waltersbrück (Hessen, Nr. 255), Ringleben (Thüringen, Nr. 253), Amsdorf am See (Nr. 257), Coswig (Nr. 256) und Neukirchen (Nr. 1499–1501; alle Sa.-Anh.), Großkienitz (Brandenburg, Nr. 1425).
  6. Vgl. Pilgerzeichendatenbank, Nr. 260 (Räbke, Lkr. Helmstadt) u. Nr. 1299–1302 (Canitz, Sa.-Anh., beide 1431), Nr. 216 (Singlis), 218 (Kassel-Waldau, beide Hessen), Nr. 1311 (Polkau, Sa.-Anh.), Nr. 220 (Poremba, Schlesien).
  7. Vgl. Pilgerzeichendatenbank, Nr. 219.
  8. Vgl. Walter, Glockenkunde, S. 162–167. Schilling, Glocken, S. 133–144 u. ö. Außer der Glocke in Bühren (wie Anm. 1) vgl. im selben Zeitraum und in der Nähe nur noch DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 12 (1355).
  9. Zum Text vgl. Steffens, Kirchweihe und Glockensegnung, S. 42–45. Siehe auch Poettgen, Theologie früher Glockeninschriften, S. 75f. Die Ausführungen zur Textgeschichte folgen dem Kommentar von Christine Wulf zur Glocke in Nettlingen von 1302; vgl. DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 6.
  10. Vgl. Franz, Die kirchlichen Benediktionen, Bd. 2, S. 87.
  11. Köster, Gottsbüren, S. 211. Ebenfalls vier Pilgerzeichen finden sich auch auf den Glocken in Canitz (Pilgerzeichendatenbank Nr. 1299–1302) und Neukirchen (Nr. 1499–1501); elf sind es auf der Glocke von 1336 aus Steuden (Nr. 1467–1477).

Nachweise

  1. Chronik Trögen – Üssinghausen, S. 67 (A).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 16 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0001603.