Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

G1, Nr. 5 Bad Gandersheim, Stiftskirche 11. Jh.

Für eine ältere Fassung dieser Katalognummer, siehe DIO02 Nr. 5

Beschreibung

Tragaltar.1) Rechteckiger Eichenholzkasten, Kupfer, vergoldet. Die Inschrift ist auf einer an den Ecken abgeschrägten Kupferplatte an der Unterseite des Kastens angebracht.2) Sie ist zwischen blind geritzten und in Gold nachgezogenen Linien in acht Zeilen in Gold auf dunklem Grund in Braunfirnistechnik ohne Worttrennung ausgeführt. Als Verstrenner stehen bis zu drei Punkte. Textverlust am Ende der Zeilen 4 und 5 durch Beschädigung der Kupferplatte an der rechten Seite. Oberhalb der ersten und unterhalb der letzten Zeile der Inschrift je eine Akanthus-Ranke.

Maße: H.: 9,7 cm; B.: 31,5 cm; T.: 17 cm; Bu.: 0,7 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Inga Finck [1/4]

  1. HOC ALTARE TIBIa) S(AN)C(T)EQ(VE) TVE CENI/TRICIb) .CORPORA S(AN)C(T)ORV(M) IN PACE SE/PVLTA TVORV(M)3) HICc) VT MVNIMENd) / CERTV(M) SINTe) OMNIBVS AME[N]f)ME SI PORTEg) LOCO QVISP[IAM] / SVSTOLLATh) AB IPSO : DELEAT / HVNC IPSVM CHRISTOi) DE SOR/TE SVORVM

Übersetzung:

Dieser Altar (ist) für dich und deine heilige Mutter (gestiftet). Die Leiber deiner Heiligen, die im Frieden begraben sind, seien hier wie ein sicherer Schutz für alle. Amen. Wenn mich etwa irgendjemand von diesem Ort wegnehmen sollte, dann soll Christus diesen Betreffenden aus der Gemeinschaft seiner Erwählten tilgen.

Versmaß: Fünf leoninische Hexameter, 1, 3, 4, 5 einsilbig, 2 zweisilbig gereimt.

Kommentar

Die Inschrift wird in der Forschungsliteratur ins 11. Jahrhundert oder karolingisch-ottonisch datiert.4) Anlass für die Frühdatierung durch Steinacker kann die mit Ausnahme des unzialen Q ausschließliche Verwendung von Kapitalisformen für die Inschrift gewesen sein. Die geschwungene Cauda des R, die TV-Ligatur sowie die Schreibung E für AE sprechen allerdings eher für eine spätere Entstehungszeit etwa ab dem zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts. Die dendrochronologische Untersuchung legt das Jahr 989 als terminus post quem für die Entstehung des Tragaltars nahe.5)

Der zweite Vers der Inschrift stimmt, abgesehen vom letzten aus vers- und reimtechnischen Gründen hier gewählten Wort TVORVM, mit der Kamminschrift auf dem Gründungsreliquiar des Hildesheimer Doms überein: CORPORA SANCTORVM IN PACE SEPVLTA SVNT.6) Auch die Widmung des Gandersheimer Tragaltars an Christus und Maria entspricht dem Hildesheimer Reliquiar. Dieses enthielt ebenfalls hochrangige Reliquien Christi und der Gottesmutter als Geschenk aus der Aachener Hofkapelle für das im Jahr 815 neu gegründete Bistum. Die annähernd gleichlautende Inschrift auf dem Gandersheimer Tragaltar ist bei näherem Hinsehen aber keineswegs als ein Indiz für eine Beziehung zwischen der nahegelegenen Bischofsstadt und dem Stift Gandersheim zu werten. Die Inschrift CORPORA SANCTORVM geht nämlich auf den Bibelvers Sir. 44,14 zurück, der auch in das Brevier eingegangen ist.7) Folglich war der Text – wenn auch bisher nicht in Inschriften auf Stücken der Schatzkunst nachgewiesen8) – allgemein und überall gleichermaßen verfügbar. Die textliche Übereinstimmung kann also nur bedingt die vermutete Lokalisierung des Tragaltars nach Hildesheim stützen.9)

Die beiden letzten Verse enthalten eine Anathem-Formel, wie sie sich auch in mittelalterlichen Handschriften häufig findet. Die Struktur dieser Formel ist vielfach so angelegt, dass die Handschrift, wie hier das Reliquiar, selbst spricht und den potenziellen Dieb vor dem Entwenden des Gegenstands warnt.10)

Textkritischer Apparat

  1. TIBI] I unter T.
  2. CENI/TRICI] Statt GENITRICI; in CENITRICI das zweite I über R gelegt, es schneidet den unteren Abschnitt des Bogens; das dritte I als Enklave in C.
  3. HIC] Davor ein redundanter Schaft. Budde erwägt, diesen Schaft als Abkürzung für I(D EST) ‚das ist‘ zu verstehen; id est ist allein schon aus metrischen Gründen ausgeschlossen.
  4. MVNIMEN] I schneidet den Schrägschaft des N, Munimentum Kdm. (scheidet aus metrischen Gründen aus).
  5. SINT] SIT Kdm. Kreis Gandersheim.
  6. AME[N]] N durch einen Nagel beeinträchtigt.
  7. PORTE] Statt FORTE (liegt der Übersetzung zugrunde); PORTE(T) Budde. Budde fasst den Befund hier offenbar als Suspensionskürzung auf. Eine Form PORTET ist aber an dieser Stelle aus metrischen Gründen unmöglich.
  8. QVISP[IAM] / SVSTOLLAT] quis prorsus tollat Kdm.
  9. CHRISTO] XPO mit Kürzungsstrich; statt richtig: XPC = CHRISTVS.

Anmerkungen

  1. Ev. Stiftskirchengemeinde Gandersheim, Inv. Nr. 57. Es ist nicht sicher, ob es sich tatsächlich um einen Tragaltar handelt, da sich kein Altarstein erhalten hat, vgl. Michael Budde, Altare portatile. Kompendium der Tragaltäre des Mittelalters 600–1600. Münster u. a. 1998, CD-Rom, Kat. Nr. 7, S. 59–61, hier S. 60; Goetting (Kanonissenstift Gandersheim, S. 45) spricht von einem „Altarsepulcrum“. Eine ausführliche Beschreibung des Tragaltars gibt Budde, ebd., S. 59–61.
  2. An den ausgesparten Ecken der Kupferplatte sind Nagellöcher für Beschläge erkennbar, möglicherweise waren dort vier Füßchen angesetzt.
  3. Nach Sir. 44,14: corpora ipsorum in pace sepulta sunt; vgl. auch Anm. 6.
  4. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 148: karolingisch-ottonisch; Kat. Europas Mitte um 1000, S. 441: 11. Jahrhundert.
  5. Dendrochronologisches Gutachten von Prof. Dr. Peter Klein, Hamburg, zitiert bei Popp, Schatz der Kanonissen, S. 64, Fußnote 260.
  6. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 1.
  7. Der Wortlaut der Hildesheimer Inschrift folgt nicht den Rezensionen, die der Textkonstitution der gängigen Ausgaben der lateinischen Bibel zugrunde liegen: Corpora ipsorum in pace sepulta sunt, sondern einer seit dem 5. Jahrhundert gebräuchlichen spanischen Vulgata-Rezension, deren Text auch in liturgische Zusammenhänge Eingang gefunden hat, in diesem Fall als 3. Antiphon der Laudes im Commune plurimorum Sanctorum (Breviarium Romanum und Missale Romanum). Vgl. Biblia sacra iuxta latinam Vulgatam versionem, hg. von Aidano Gasquet, Heinrich Quentin u. a. 18 Bde. Rom 1926–1995, hier Bd. 12, S. 339: Apparat zu Sir. 44,14.
  8. Durchgesehen wurden die bis Ende 2010 erschienenen Bände der Reihe „Die Deutschen Inschriften“.
  9. Vgl. Budde (wie Anm. 1), S. 59: „Lokalisierung Hildesheim?“.
  10. Vgl. Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter. 3Leipzig 1896, S. 527–534.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 148.
  2. Brackebusch, Inventar 1892, S. 17.
  3. Kat. Europas Mitte um 1000, S. 441 (mit Abb.).
  4. Michael Budde, Altare portatile. Kompendium der Tragaltäre des Mittelalters 600–1600. Münster u. a. 1998, CD-Rom, Kat. Nr. 7, S. 61.
  5. Röckelein, Gandersheimer Reliquienschätze, S. 81 (nur Abb.).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, G1, Nr. 5 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017g1000508.