Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 156 Northeim, Museum 1579

Beschreibung

Epitaph für Heinrich Wullenweber. Holz, bemalt.1) Das ursprünglich in der St.-Sixti-Kirche aufgehängte Epitaph befindet sich seit 1912 im Museum; bis etwa 1970 war es in der ehemaligen Kapelle St. Fabian und Sebastian am Markt ausgestellt.2) Querrechteckige Holztafel im schwarzen Rahmen. Auf der Tafel, umgeben von einem gemalten grünen Rahmen, zwei helle, scheinbar vertiefte Felder. Auf diesen in zwei Kolumnen die in Form eines Dialogs zwischen Wanderer (VIATOR: V ) und Muse (MVSA: M ) abgefasste Grabschrift A. Die Rede ist schwarz auf hellem Untergrund gemalt, die – in der Edition fett wiedergegebene – Angabe der Redner rot. Als Fragezeichen dient eine rechtsschräge Tilde über einem Punkt. Die Hilfslinien des Malers sind noch zu erkennen. Auf dem grünen Scheinrahmen schwarze florale Muster und sechs goldene Sterne; jeweils in der Mitte oberhalb und unterhalb der Kolumnen die gold gemalten Initialen B. Der äußere, ebenfalls mit goldenen Sternen geschmückte Rahmen trägt in der Mitte der unteren Langseite die ineinander verschlungenen, gold auf schwarz gemalten Initialen C, umgeben von der Jahreszahl. Zu dem Epitaph könnte ein größeres Gemälde gehört haben, unter dem die erhaltene Grabinschrift angebracht gewesen wäre.

Maße: H.: 85 cm; B.: 135 cm; Bu.: 1,2–1,5 cm (A), 1,4 cm (B), 3,5 cm (C).

Schriftart(en): Schrägliegende Kapitalis (A), Kapitalis (B, C).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Lara-Sophie Räuschel) [1/2]

  1. A

    VIATOR, MVSA ·a) / V· QVIS SITVS HIC? CVIVS SERVAS O MVSA SEPVLCHRVM? / HAEC NE VIRI CLARI TVMBA CADAVER HABET? / M· SISTE GRADVM : BREVIS EST MORA, PAVCIS O(MN)IA DICAM : / CARMINA SVSCIPIAS QVALIACVNQ(VE) ROGO · /

  2. 5

    HENRICVS VIXIT SEPTEM BIS LVSTRA PER ANNOS, / CVM SVA COMPOSVIT MEMBRA CADVCA THORO · / DOTIBVS HIS ANIMI FVIT HIC ORNATVS ABVNDÈ : / HIC PHOEBVS, SOLON, TVLLIVS IPSE FVIT · / V· CVR PHOEBVS? M· MVSAS COLVIT CVM SEDVLITATE · /

  3. 10

    V· CVR SOLON? M· QVIA VIX IVSTIOR ALTER ERAT · / V· CVR CICERO? M· QVIA FACVNDO EST HIC ORE LOCVTVS, / QVALI VSVS QVONDAM TVLLIVS IPSE FVIT · / V· PATRIA QVAE TANTO GAVISA EST CIVE? PARENTES / QVI SVNT? QVI TANTVM PROGENVERE VIRVM · /

  4. 15

    M· PATRIA NORTHEIM : LANIFICVM STIRPS : CASTAQ(VE) MATER / EX VETERI ET CELEBRI STEM(M)ATE NATA FVIT · / V· QVI MORES? M· PLACIDI. V· QVAE VITA? M· MODESTA GRAVISQ(VE) / PRINCIPIBVS QVALIS CONVENIT ESSE VIRIS · / CONCIVES TRIBVVNT INSIGNIA LAVDIS EIDEM /

  5. 20

    PRAEMIA, QVOD FVERIT SIMPLICITATIS AMANS · / QVOD FVERIT SEMPER RECTI STVDIOSVS ET AEQVI / PACIS AMANS, NVLLI NOXIVS ATQ(VE) PROBVS, / ET NVLLVM OB PATRIAM SOLITVS VITARE LABOREM · / V· QVOD TVLIT OFFICIVM NOBILE? M· CONSVL ERAT · /

  6. 25

    V· VT PRAEERAT SIBI COMMISSIS? M· PIETATE FIDEQ(VE) / I(N)TER HONORATOS NOBILITATE VIROS . // HINC PIETAS, CVM IVSTITIA, MVSAQ(VE) QVERELAS / IVNXIT, ET AMPLECTENS OSCVLA SVM(M)A DEDIT : / IVSTITIA ILLACHRIMANS, AIT, O QVAM SVM TIBI AMATA /

  7. 30

    VTILITER, VIXI, DVM MEVSb) IGNIS ERAS · /CVI PIETAS AT ME FOELICIVS, INQVIT, AMAVIT / MORTVVS IN GREMIOc) IAM CVBAT ILLE MEO · / TERTIA MVSA REFERT, COMMVNIA DAMNA DOLORI / SVNT MIHI, PERPETVO VIVERE DIGNVS ERAT · /

  8. 35

    V· AST HEV QVO TANDEM MVTAVIT FVNERE VITAM? / M· QVO DECET IN CHRISTVM QVI POSVERE FIDEM · / ILLE ETENIM VERAE STVDIO PIETATIS ADHAERENS, / IN MERITO CHRISTI FIXIT VBIQ(VE) FIDEM · / SIC QVOQ(VE) CVM MORBVS IAM MEMBRA DIVTINVS AEGRA /

  9. 40

    DEBILITARAT, ERAT NEC NECIS HORA PROCVL · / TVNC MORIENS DIXIT: PER TE MIHI REDDITA VITA / CHRISTE. MIHI PER TE REDDITA VERA SALVS · / TV MEDIATOR ET ES SOLVS, SALVATOR ET VNVS, / ERGO ANIMAM HANC MANIBVS SVSCIPE CHR(IST)E TVIS : /

  10. 45

    TALIA CONSTANTI FVERAT CVM CORDE PRECATVS, / FRIGIDA MEMBRA IACENT, SPIRITVS ASTRA SVBIT · / V· HIS VERO MORS EST SOMNVS? M· SED SOMNVS EIDEM / MORS ERAT, AD CHRISTVM, DVM LEVIS AVRA FVGIT · / V· QVO MORBO FVIT OPPRESSVSd)? M· CVRA ATQVE LABORE · /

  11. 50

    V· QVIS LOCVS INTERITVS? M· HAEC LOCA SACRA VALE · / V· MIRA REFERS : SANCTVM CVSTODI MVSA SEPVLCHRVM, / OSSAQ(VE) SANCTA VIRI COLLIGE : MVSA VALE ·

  12. B

    H(ENRICVS) W(VLLENWEBER) / G(EORGIVS)e) W(VLLENWEBER)

  13. C

    1·5 GPVSf) 7·9·

Übersetzung:

Wanderer (W), Muse (M).

W: Wer ist hier begraben? Wessen Grab bewachst du, oh Muse? Enthält dieses Grabmal den Leichnam eines berühmten Mannes? M: Verhalte den Schritt. Kurz ist die Weile, mit wenigen Worten will ich dir alles sagen: In Versen nimm entgegen, wonach immer ich gefragt werde. Heinrich lebte zweimal sieben Lustren (d. h. 70 Jahre) lang, als er seine hinfälligen Glieder auf das Lager bettete. Mit folgenden Geistesgaben war er überreich geziert: Er war Phoebus, Solon, Tullius in Person.

W: Warum Phoebus? M: Die Musen pflegte er mit Eifer.

W: Warum Solon? M: Weil kaum ein Zweiter gerechter war.

W: Warum Cicero? M: Weil er mit beredtem Munde gesprochen hat, wie ihn einst Tullius selbst geführt hat.

W: Welches Vaterland hat sich über einen so bedeutenden Bürger gefreut? Wer sind seine Eltern, wer brachte einen solchen Mann hervor? M: Sein Vaterland war Northeim, seine Vorfahren Wollenweber, seine keusche Mutter stammte aus einem alten und berühmten Geschlecht.

W: Welcher Charakter? M: Friedfertig.

W: Welche Lebensweise? M: Bescheiden und ernst, wie es führenden Männern angemessen ist. Die Mitbürger spenden ihm als Auszeichnungen des Lobes (wörtlich: Lobes-Abzeichen) Belohnungen, weil er ein Liebhaber der Einfachheit, weil er immer Beförderer von Recht und Billigkeit gewesen sei, ein Liebhaber des Friedens, niemandem schädlich, und rechtschaffen und keine Mühe für das Vaterland zu scheuen gewohnt.

W: Welches vornehme Amt hatte er inne? M: Er war Bürgermeister.

W: Wie erfüllte er, was ihm aufgegeben war? M: Mit Frömmigkeit und Treue unter durch Adel geehrten Männern.

Da vereinigte die Frömmigkeit mit der Gerechtigkeit und der Muse ihre Klagen und ihn umfangend gab sie ihm die letzten Küsse: Weinend sprach die Gerechtigkeit: Oh, nützlich war es, von dir geliebt zu werden; ich habe gelebt, solange du mein Feuer warst. Zu ihr sprach die Frömmigkeit: Aber mich hat er glücklicher geliebt, tot schon liegt er in meinem Schoß. Als dritte sagte die Muse: Der gemeinsame Verlust ist mir Anlass des Schmerzes, auf Dauer zu leben wäre er würdig gewesen.

W: Aber, weh, mit welchem Tod ging er schließlich aus dem Leben? M: Wie es denen geziemt, die ihre Hoffnung auf Christus gesetzt haben. Er nämlich, dem Eifer der rechten Frömmigkeit anhängend, setzte auf das Verdienst Christi überall seinen Glauben. So auch, als die Krankheit die schon lange ermatteten Glieder geschwächt hatte und die Todesstunde nicht fern war, da sagte er sterbend: Durch dich ist mir das Leben gegeben, Christus, durch dich ist mir das wahre Heil gegeben. Du allein bist sowohl der Mittler als auch einzig der Heiland, also nimm diese meine Seele in Deine Hände, Christus. Als er solches mit standhaftem Herzen gebetet hat, liegen die Glieder erstarrt, der Geist steigt zu den Sternen auf.

W: Für sie (die Glieder) aber ist der Tod ein Schlaf? M: Aber Schlaf war es auch ihm (dem Geist), während das leichte Lüftchen (die Seele) zu Christus flieht.

W: Von welcher Krankheit wurde er befallen? M: Von Sorge und Mühe.

W: Welches war der Ort seines Todes? M: Diese heilige Umgebung. Lebe wohl.

W: Wunderbares erzählst du: Bewahre, Muse, das heilige Grabmal und sammle die heiligen Gebeine des Mannes. Muse, lebe wohl. (A)

Versmaß: Elegische Distichen (A).

Kommentar

Die Schrift zeichnet sich durch ausgeprägte serifenartige bzw. dreieckige Sporen an Schaft-, Balken- und Bogenenden aus. Bögen sowie obere und untere Balken sind leicht über die Schäfte hinaus nach links verlängert. Ein Wechsel von Schatten- und Haarstrich findet, wenn auch nur schwach betont, statt: Als Haarstrich ausgeführt sind die rechtsschrägen Schäfte von A, V, M und X sowie der nach oben ausgebuchtete Mittelbalken des H; die linken Schrägschäfte am A und am konischen M sind, vor allem am Wortanfang, leicht durchgebogen. Die Bögen weisen überwiegend Schwellungen auf, ebenso der Mittelteil des S; die spitze Cauda des R ist geschwungen, die Cauda des Q geht aus der Verlängerung des linken Bogens hervor. Der mittlere Balken des E ist verkürzt, der untere verlängert und gleich dem des L mit einem Sporn am Ende versehen. Bemerkenswert an der Schreibung ist, neben der konsequenten Verwendung von V, vor allem die konsequente Anwendung einer einzigen Ligatur: mit der Ausnahme von FOELICIVS (Z. 31) nur bei AE.

Die Ausführung der Inschrift zeigt eine bemerkenswerte Nähe zu dem Nienstedt/Rumann-Epitaph von 1573 (Nr. 142) – vor allem die AE- und die OE-Ligatur sowie das Kürzel für -Q(VE) in Form eines zweistöckigen z. Allerdings ist im vorliegenden Fall der Maler noch stärker als dort um die Verwirklichung der klassischen Form der Kapitalis bemüht, von der nur der ausgebuchtete Mittelbalken des H abweicht.

Bei den Initialen der Inschrift C dürfte es sich um die Signatur des Malers handeln. Mit ihren verschlungenen Buchstaben erinnert sie an das Monogramm des aus Northeim stammenden, in Hannover tätigen Bildhauers Jeremias Sutel.3)

Heinrich Wullenweber, laut der Grabschrift etwa 1509 geboren, besaß 1564 ein Haus in der Straße „Neustadt“.4) Seit 1568 war er mehrfach Bürgermeister. Die Familie stellte im 16. und frühen 17. Jahrhundert weitere Ratsmitglieder. Ein gleichnamiger Verwandter ist als Ratsherr zwischen 1516 und 1532 nachgewiesen, ein Hans Jürgen Wullenweber erscheint zwischen 1602 und 1623 im Rat.5) Er könnte einer der Auftraggeber gewesen sein, da sein zweiter Vorname latinisiert Georgius lautet.

Ein Epitaph mit einer dialogischen Grabschrift befand sich auch in Lüthorst; Nr. 153.

Textkritischer Apparat

  1. Zentriert angeordnet.
  2. MEVS] Das vom Maler zunächst wohl vergessene E zwischen M und V gedrängt.
  3. IN GREMIO] Auf der Tafel zusammengeschrieben.
  4. OPPRESSVS] Das vom Maler zunächst vergessene zweite S ist über den linken Schrägschaft des V gemalt.
  5. G(EORGIVS)] Ergänzung spekulativ; vgl. den Kommentar.
  6. GPVS] Größeres V, an den linken Schrägschaft ist oben der Bogen des P angesetzt; der obere Bogenabschnitt des G hinter dem Schaft, der untere davor; der Mittelteil des S hinter dem rechten Schrägschaft des V, der obere und untere Bogen vor diesem. Möglich ist auch die Auflösung GVPS.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 1998/14; Acc. Nr. 1579. Zur Zeit der Aufnahme (Februar 2014) im Magazin.
  2. Hueg, Leichensteine, S. 73. Weigand, Raum, S. 19.
  3. Vgl. DI 36 (Stadt Hannover), Nr. 283: Meisterzeichen M13.
  4. Vgl. Hueg, Pfahlzinsregister, S. 98 (Nr. 435).
  5. Jaeger, Bürgermeister, S. 89.

Nachweise

  1. Hueg, Leichensteine, S. 73–76.

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 156 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0015607.