Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 108† Bad Gandersheim, ehem. Barfüßerkloster 1. V. 16. Jh.

Beschreibung

Gemälde auf Pergament (Totentanz), aufgezogen auf einer langen Tafel. Die Tafel stand laut Letzner im Kreuzgang des Klosters am Kapitelhaus; sie wurde zerstört bei der Einnahme und Plünderung des Klosters durch hessische Soldaten im Jahr 1542.1)

Inschrift nach Letzner.

  1. Hie hebt sich an des Todes TantzDer hat gut acht auff seine Schantz2) Daß niemand ihm entspring davonDer nicht bekom der Sünden LohnEr nimpt hie aller Stende warKein Trinckgeldt nimpt von keinem darNicht achtet er des Königs SchwerdtDes Bapstes Chron ist ihm vnwerthDer Fürsten Standt der Bischoff AndachtDer Graffen und der Ritter MachtFür ihm nicht sind eins Hellers werthAuch acht er nicht der Krieger SchwerdtNach Kunst vnd groß GeschickligkeitFragt er mit nicht ist nur bereitDie all zu führen an den Rey3) Da ist doch ihrer keiner freyDer Grossen Stoltza) vnd Weiber PrachtDer Todt derselben gar nicht achtAuch nicht das Hüpffen der JungfrawnSo jung Gselln liebr als den Todt anschawnDie Nonnen in dem Clösterlein Nimpt auch hinweg nach seinem SinnNiemand ist frey müssen all darvonDan Todt ist gwiß der Sünden Lohn Vnd alles ist vergengligkeitIn dieser Welt nur EitelkeitDas muß vergehn wie groß es istDie Weltlich Pracht ist gar vmb sustNur allein Gotts BarmhertzigkeitSteht vest vnd bleibt in Ewigkeit

Versmaß: Deutsche Reimverse.

Kommentar

Der Totentanz entsprach nach Letzners Beschreibung ganz dem Muster des Genres und zeigte den Versen zufolge mindestens zwölf Stände bzw. Altersgruppen und Geschlechter. Bemerkenswert ist, dass er mit dem König beginnt, was den sonst am Anfang stehenden Papst an die zweite Stelle rücken läßt. Auch werden den Menschen nicht, wie üblich, ihre Verfehlungen vorgehalten, sondern die Unbestechlichkeit des Todes gegen Rang, Verdienste, Eigenschaften sowie Bestechlichkeit (Trinckgeldt) hervorgehoben. Da über Letzner hinaus keine selbständige Überlieferung bekannt ist, lässt sich über Ausführung und Ausmaße nichts sagen. Die Aufstellung im Kreuzgang in der Nähe des Eingangs zum Kapitelsaal entspricht der üblichen Nähe zu Begräbnisstätten.4) Die Anbringung in einem Franziskanerkloster bestätigt andererseits die Beobachtung, dass das Genre des Totentanzes im Zusammenhang mit den Bußpredigten und -mahnungen der städtischen Bettelorden stand.5) Dass am Ende allein die Hoffnung auf die Barmhertzigkeit Gottes bleibt, ist ein ebenfalls in vielen Beispielen zu findender Gedanke, der auf Rö. 3,24–26 zurückgeht.6) Als Autor ist ein Geistlicher, vermutlich aus dem Franziskanerorden selbst, anzunehmen.

Zur Entstehungszeit dieses Totentanzes lassen sich nur Vermutungen anstellen. Der früheste bekannte norddeutsche Totentanz wurde 1463 in Lübeck geschaffen.7) Das Franziskaner- oder Barfüßerkloster in Gandersheim wurde im Jahr 1501 von Herzog Wilhelm d. J. (1425–1503, reg. bis 1495) und seiner Frau Elisabeth von Stolberg (1428–1520/21) gegründet. Herzogin Elisabeth wurde 1520/21 in dem Kloster bestattet.8) Wilhelm d. J. war nach seinem Tod nach Hann. Münden gebracht worden, wo er bereits 1494 einen Prunksarkophag in Auftrag gegeben hatte.9) Als Entstehungszeit kommt demnach die Gründungszeit des Klosters in den Jahren nach 1501 infrage. Vermutlich handelt es sich um eine Stiftung des 1503 gestorbenen Herzogs oder seiner ihm spätestens 1521 in den Tod nachgefolgten Witwe.

Die Zerstörung des Totentanzes ist durch den oben zitierten Hinweis Letzners, der von 1544 bis 1547 selbst die in dem Kloster von der schmalkaldischen Regierung eingerichtete Schule besuchte,10) auf 1542 datiert. Die von Letzner wiedergegebene hochdeutsche Sprachform ist vermutlich auf eine sprachliche Normalisierung zurückzuführen, wie er sie auch an anderer Stelle in seinem Werk vorgenommen hat; vgl. Nr. 40.

Textkritischer Apparat

  1. Grossen Stoltz] grosse Stoltz Letzner; verbessert wegen der Parallelität zu Weiber Pracht.

Anmerkungen

  1. Letzner, Dasselische Chronik, 8. Buch, fol. 156r.
  2. Schantz: Gelegenheit, nach frz. chance; vgl. DWb, Bd. 14, Sp. 2163f.
  3. Rey: Gekürzter Nominativ bzw. Akkusativ für Reihen, Reigen; vgl. ebd., Sp. 642f.
  4. Vgl. Sörries, Totentanz, bes. S. 28–30 u. 44 (mit älterer Literatur).
  5. Vgl. Wilhelm-Schaffer, „Ihr mußet alle …“, S. 9–21. Frey, Tradition, bes. S. 68. Krüger, Heilsgeschichtliche Bezüge, bes. S. 111–113 u. 120–127.
  6. Freytag/Schulte/Vogeler, Der Totentanz der Marienkirche, bes. S. 107. Sörries, Totentanz, S. 28. Krüger, Heilsgeschichtliche Bezüge, bes. S. 124. Kat. Tanz der Toten, S. 111–124 (Nr. 14–21); zu Gandersheim vgl. ebd., S. 122f. (Nr. 19).
  7. Vgl. Wilhelm-Schaffer, „Ihr mußet alle …“, S. 16.
  8. Kronenberg, Chronik, S. 49f. Ausführlich: Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 303–319, bes. S. 311f.
  9. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 76.
  10. Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 314.

Nachweise

  1. Letzner, Dasselische Chronik, 8. Buch, fol. 156r.
  2. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 202 (nach Letzner).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 108† (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0010808.