Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 96 Northeim, St. Sixti 1517?

Beschreibung

Altarretabel („Hieronymusaltar“). Holz. Das Retabel ist gegenwärtig an der Ostwand der früheren Nikolaikapelle, der östlichen Verlängerung des südlichen Seitenschiffs aufgestellt. Holzschnitzereien, farbig und gold gefasst vor goldenem, mit punziertem Granatapfeldekor geschmücktem Hintergrund; die Nimben sind glatt. Das vermutlich für die 1517 geweihte Hieronymuskapelle im südlichen Turmanhang geschaffene Retabel befand sich um 1870 in der Sakristei,1) wo es nach deren Renovierung 1884 durch das Passionsretabel Nr. 102 ersetzt wurde.2) 1894 war das Retabel wieder in der damals als Lagerraum für die aus der Kirche entfernten Ausstattungsstücke genutzten Hieronymuskapelle,3) seit 1912 in der Außenstelle des Museums in der Fabian-Sebastian-Kapelle am Markt.4) Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Aufsatz zurück in die Kirche;5) 1974 befand er sich im Gemeindesaal, 1993 am gegenwärtigen Ort in der Kirche.6)

Im Mittelschrein Jesus an einem schlichten Kreuz, darüber der gemalte (gold auf rotem Hintergrund) Titulus A. Links neben dem Gekreuzigten Maria und außen Hieronymus mit Kardinalshut, Buch und Löwen zu seinen Füßen, rechts Johannes und Eustachius (mit Hirschkopf in der rechten Hand), jeweils durch die gemalten Inschriften B–E auf dem Sockel bezeichnet. Im linken Seitenflügel Maria Magdalena mit turbanartiger Kopfbedeckung und Salbentiegel sowie Barbara mit Kelch, im rechten die heilige Juliana, die den Teufel an einer Kette führt, und die heilige Odilia, beide mit Büchern in den Händen, auf dem der Odilia plastisch geformte Augen; die gemalten (schwarz auf goldenem Hintergrund) Beischriften F–I auf den Sockeln. Bei Maria Magdalena beginnt der Name auf dem Brustsaum des Kleides (gold auf rot gemalt) und wird auf dem Sockel fortgesetzt (F), bei Barbara wird der auf dem Brustsaum (gold auf grün) gemalte Name auf dem Sockel wiederholt (G). Als Worttrenner in (C, D, H, I) Quadrangel mit oben und unten angesetzten Zierhäkchen. In den Flügeln als Schleierbretter vergoldetes gotisches Rankenwerk mit farbig abgesetzten Ästen, das im Schrein verloren ist. Auf den Außenseiten der Flügel Gemälde der Titularheiligen des Altars, jeweils mit großen Scheibennimben vor Landschaften: links der sitzende Hieronymus vor einem Lesepult mit aufgeschlagenem Buch (die Schrift ist imitiert), dem Löwen den Dorn aus der Pfote ziehend; rechts Eustachius als kniender Ritter, die Hände zum Gebet erhoben, vor ihm die Erscheinung des Hirschens mit dem Gekreuzigten inmitten des Geweihs.7) Die Predella ist verloren.

Von den Figuren, die um 1870 auf dem Schrein standen, war eine Anna Selbdritt 1964 im Museum vorhanden.8)

Maße: H.: 103 cm; B.: 115 cm (Schrein), 57,5 cm (Flügel); Bu.: 2,1 cm (A), 1,3 cm (B, D, F, G, I), 1,1 cm (C, E, H), 0,7 cm (Sauminschriften F, G).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B, D, F, G, I), gotische Minuskel (C, E, H).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Lara-Sophie Räuschel) [1/5]

  1. A

    I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDEORUM)9)

  2. B

    MARIA ∙ VIR(G)Oa)

  3. C

    · ieronimus ·

  4. D

    · IOHANNES ·

  5. E

    ewstachius

  6. F

    MARIA // MAGDALENAb)

  7. G

    BARBARA // BARBARA ·

  8. H

    iuliana ∙ v(ir)go

  9. I

    ∙ ODILIA ∙

Übersetzung:

Jungfrau Maria. (B)

Jungfrau Juliana. (H)

Kommentar

Die frühhumanistische Kapitalis zeichnet sich durch eine konische Verbreiterung der Schaft- und Bogenenden (B, F, G) oder serifenartige Abschlussstriche (immer am I) aus. G und D sind spiegelverkehrt gestaltet, was besonders in MAGDALENA ins Auge fällt; die Grundform ist die des unzialen, eingerollten D mit Zierhäkchen im Inneren des Buchstabens. Das spitze A ist mit Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken versehen, der Mittelteil des konischen M endet deutlich über der Mittellinie, die Schäfte sind leicht durchgebogen. Das offene R ist mit Bogenschwellung und Schwellung an der Cauda versehen, O weist eine leichte, außen angesetzte Bogenschwellung auf, L Schwellungen an Schaft und Balken. Das N zeigt eine Ausbuchtung am als Haarstrich gezeichneten Schrägschaft. Die Ausbuchtung am I ist teilweise nach rechts, teilweise nach links gerichtet; der Balken des H ist nach unten ausgebuchtet. Die Bogenenden des epsilonförmigen E sind in der Mitte eingerollt; der Mittelteil des B, dessen Bögen nicht zum Schaft geführt sind, ist spiegelverkehrt dazu gestaltet; am Schaft ebenfalls eine Ausbuchtung. S weist teilweise Zierhäkchen an den Bogenenden auf. Die gotische Minuskel entspricht weitgehend dem Formenkanon: Der obere Bogenabschnitt des a ist als zunächst waagerechter, dann gebogener Zierstrich in das Innere des Buchstabens geführt; der Bogen des offenen e ist in ewstachius stark verkleinert, der Balken ist zum gebogenen Zierstrich reduziert. Die leicht gegeneinander verschobenen Bögen des s sind durch einen langen Diagonalstrich verbunden, der oben und unten eingebogen ist.

Die Plastik wurde von Buhmann der Werkstatt des Bartold Kastrop zugeschrieben, der 1488 Bürger in Northeim wurde und von 1499 bis zu seinem Tod 1531/32 in Göttingen tätig war.10) Ähnlich wie den Marienaltar aus St. Martin in Geismar (1499) wird man auch das Hieronymus-Retabel im Zusammenhang mit den seit den späten 1470er Jahren im südniedersächsischen Raum entstandenen Altaraufsätzen sehen müssen. In Betracht kommen vor allem das von Kastrop inschriftlich gezeichnete Marienretabel aus Geismar (heute Stadtteil von Göttingen) aus dem Jahr 1499, sein Retabel in Hetjershausen von 1509 sowie das nur fragmentarisch erhaltene Retabel in Reinhausen von 1498. Eine explizite Zuschreibung an Kastrop ist damit nicht verbunden.11) Neben der verwandten Gestaltung des Schreins (Goldhintergrund mit Granatapfelmotiv, Schleierbretter mit naturalistischen Ästen im Rankenwerk, schwarze Flämmchen vor senkrechten farbigen Streifen hinter den Sockeln) betrifft dies vor allem die korkenzieherartige Form der Locken der Maria Magdalena in Reinhausen und bei den Northeimer Figuren. Obwohl in anderer Technik ausgeführt – in Northeim gemalt, in Reinhausen und Geismar punziert –, zeigt die frühhumanistische Kapitalis eine große Nähe. Dies gilt vor allem für das eingerollte G, das konische M mit hohem Mittelteil, die einseitige Ausbuchtung am I, das offene R mit Schwellung an der Cauda, und das oben beschriebene L; das epsilonförmige E kommt auch in der gemalten Inschrift des Geismarer Retabels vor. Bei der gotischen Minuskel ist vor allem die Form des a mit teilweise geradem oberen Bogenabschnitt auffallend, sowie das s mit durchgezogenem Zierstrich.12) Der bemerkenswerte Wechsel der Schriftarten bei den vorliegenden Sockelinschriften findet allerdings keine Parallele. Eine Datierung im Zusammenhang mit der Fertigstellung der Hieronymus-Kapelle 1517, nur wenige Jahre nach den zum Vergleich herangezogenen Retabeln, lässt sich mit den Befunden vereinbaren. Möglicherweise hat das Retabel zu diesem Zeitpunkt auch bereits fertig vorgelegen. Dem Maler gab Gmelin den Notnamen „Meister des Hieronymusaltars“, der in Northeim zwischen 1500 und 1520 eine Werkstatt betrieben haben könne. Insgesamt sechs Werke schrieb Gmelin diesem Meister zu, darunter auch die Malerei auf dem Retabel in Hetjershausen von 1509.13)

Der als Krieger und Jäger verehrte – ihm war der Legende nach im Traum der Gekreuzigte im Geweih eines Hirsches erschienen – Eustachius zählt zu den Vierzehn Nothelfern.14) In norddeutschen Adelsfamilien (vor allem die von Münchhausen), ist der Name des Heiligen in der Kurzform ‚Statius‘ verbreitet. Barbara zählt gleichfalls zu den Nothelfern. Ihr Verhalten im Angesicht von Verfolgung und Tod galt als Symbol der Wehr- und Standhaftigkeit im Glauben. Sie wurde gegen Gewitter, Feuergefahr, Fieber, Pest und allgemein gegen plötzlichen und unvorhersehbaren Tod angerufen und deshalb mit Kelch dargestellt.15) Juliana erlitt zur Zeit der Christenverfolgung unter Diokletian das Martyrium zusammen mit Barbara. Die Darstellung mit dem Teufel an der Kette ist charakteristisch.16) Odilia, Herzogstochter und Klostergründerin im Elsass aus dem 8. Jahrhundert, wird als Schutzpatronin bei Augenkrankheiten angerufen. Die zumeist auf einem Buch liegenden Augen sind ihr häufigstes Attribut.17) Während Hieronymus als „Inbegriff des rigorosen Gesetzes- und Tugendlehrers“ und Vorbild eines gottgefälligen Lebens verehrt wurde,18) wurden die anderen dargestellten Heiligen in Notlagen, häufig bei Krankheiten, um Hilfe angerufen.

Textkritischer Apparat

  1. Befund: kleineres O hochgestellt. Das R über den Winkel zur rechten Schrägseite der Basis hinausgehend.
  2. MARIA auf dem Brustsaum; das Schluss-A in MAGDALENA reicht über die Kante zur rechten Schrägseite der Basis.

Anmerkungen

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158.
  2. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 83.
  3. Ebd., S. 81.
  4. Hueg, Wandel, Abb. auf S. 345. Weigand, Raum, S. 18 (1934).
  5. Das Retabel wird von Eggeling 1954 und 1964 nicht mehr im Bestand des Museums genannt: Eggeling, Aufgaben; Ders., Heimatmuseum, [S. 55].
  6. 1974: Gmelin, Tafelmalerei, S. 606f. 1993: Von Hindte, St.-Sixti-Kirche, S. 11.
  7. Zur Malerei vgl. Gmelin, Tafelmalerei, S. 606–608 (Nr. 202).
  8. Außerdem ein segnender Christus; Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158. 1894 waren diese abgenommen: Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 81. Zur Anna Selbdritt vgl. Eggeling, Heimatmuseum, [S. 26f.].
  9. Io. 19,19.
  10. Buhmann, Kastrop, S. 19. Skeptischer: Gmelin, Tafelmalerei, S. 606f. Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 98.
  11. Vgl. Middeldorf Kosegarten, Marienretabel, bes. S. 145–153 (mit Abb. 1–3 u. 9–10). Das Retabel aus der Göttinger Marienkirche fällt als Spätwerk von 1524 aus dieser Betrachtung heraus; vgl. Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 96–103, hier bes. S. 97f.; Giroud, Hochaltarretabel, bes. S. 262–264 u. 269–271. Vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 87.
  12. Vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57 (Geismar 1499); dazu auch Middeldorf Kosegarten, Marienretabel, Tafel 39–40. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82 (Reinhausen 1498); ebd., Nr. 116 (Hetjershausen 1509).
  13. Gmelin, Tafelmalerei, S. 599–608 (Nr. 197–202).
  14. Vgl. LCI, Bd. 6, Sp. 194–199.
  15. Vgl. LCI, Bd. 5, Sp. 304–311.
  16. Vgl. LCI, Bd. 7, Sp. 228–231.
  17. Vgl. LCI, Bd. 8, Sp. 76–79.
  18. Bernd Hamm, Religiosität im Späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 54), S. 170–175, das Zitat S. 174.

Nachweise

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 158.
  2. Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 81.
  3. Engel, Kunstdenkmäler, Tafel [10–12].

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 96 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0009603.