Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 96: Lkr. Northeim (2016)
Nr. 41 Northeim, St. Sixti 1445
Beschreibung
Glocke. Bronze. St.-Georgs-Glocke. Die erhaben gegossene Inschrift A verläuft unterhalb der Schulter zwischen Kordelstegen; am Ende eine mit Model geformte Figur des heiligen Georg, die sich darunter in einem Fries unter gotischen Spitzgiebeln wiederholt. Dieser Fries wird nach unten durch einen hängenden Bogenfries abgeschlossen. An der Flanke eine Kreuzigungsgruppe mit Dreipässen an den Kreuzenden; der Kreuzstamm sitzt auf einem mit Schnüren geformten großen Herz auf, dessen untere Spitze in ein weiteres, kleineres Herz übergeht. Gegenüber an der Flanke eine Pietà unter einem gotischen Spitzgiebel, dessen Strebepfeiler nach unten in Herzen auslaufen; die Pietà ist vermutlich ein Pilgerzeichen, der Architekturrahmen ist vom Gießer in den Mantel geritzt. Die erhaben gegossene Inschrift B über dem dreifach getreppten Schlag beginnt links von der Pietà. Als Worttrenner in (A) Kreuze, in (B) Quadrangel, oben und unten mit kleinen Zierhäkchen; am Anfang jeder Inschrift ein größeres Weihekreuz.
Maße: H.: 142 cm; Dm.: 165 cm; Bu.: 10,5 cm (A), 4 cm (B).
Schriftart(en): Gotische Minuskel.
- A
+ anno · d(omi)ni · m° · cccc° · xlv°a) · defv(n)ctosb) · pla(n)go · viuosb) · voco · fvlgvra · frango
- B
+ borchart · von · stenhem · et · mathias · to · northem · fecervnt ·
Übersetzung:
Im Jahr des Herrn 1445. Die Toten beklage ich, die Lebenden rufe ich, die Blitze zerbreche ich. (A)
Borchart von Steinheim und Mathias haben (die Glocke) in Northeim hergestellt. (B)
Versmaß: Hexameter, zweisilbig leoninisch gereimt (A, defvnctos … frango).
Textkritischer Apparat
- xlv° ] xiv Vennigerholz u. Rau.
- Die letzten zwei Buchstaben kleiner.
Anmerkungen
- Vgl. Walter, Glockenkunde, S. 185–187.
- Vgl. Steffens, Kirchweihe und Glockensegnung, S. 169f. Beispiele aus den Nachbarregionen sind: DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 29 (1406) u. 31 (1408); DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 36 (1468), 92 (1510) u. 132, 133 sowie 134 (1526/27).
- Vgl. Nr. 25 u. Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache, S. 76–80.
- 1431 bezeugt ein Borchard von Steynhem in Warburg einen Vertrag, den sein Bruder Johann geschlossen hat; vgl. Ulrike Stöwer (Bearb.), Das Archiv des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Paderborn e.V.: die Urkunden bis zum Jahr 1500, Münster 1994 (Inventare der nichtstaatlichen Archive Westfalens, N. F. 14), Nr. 392, S. 204. 1427 erhielt der Priester Henryk von Steinheim zusammen mit seinen Brüdern Johann und Borchard das Gut Dalheim bei Warburg als Lehen; de.wikipedia/wiki/Gut_Dalheim (15.10.2015). Eine Identität des Lehensnehmers mit dem Gießer bleibt spekulativ.
- Walter, Glockenkunde, Bd. 2, S. 699.
- Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 52: an(n)o · d(omi)nj · m° cccc · lviii · dev(m) · laudo · verv(m) · plebe(m) · voco · co(n)grego · cleru(m) · defu(n)ctos · ploro · hoste(m) · fugo · festa · decoro · matias · c (A); · maria · (B): ‚Im Jahr des Herrn 1458. Ich lobe den wahren Gott. Ich rufe das Volk. Ich versammle den Klerus. Ich beweine die Toten. Ich vertreibe den Feind. Ich schmücke die Festtage. (Meister) Mathias‘.
- Vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 40: + lavdo · dev(m) · verv(m) · plebe(m) · voco · co(n)grego · clerv(m) · defv(n)ctos · ploro hoste(m) fvgo · festa · decoro · anno · d(omi)ni · m° · cccc° · xlvij + (A); · maria · (B). Die Glocke wurde 1917 abgegeben und eingeschmolzen.
- Kdm. Kreis Wolfenbüttel, S. 426: + anno + (d)omi)ni + m° + cccc° + xl° + mathias + me + fecit ‚Im Jahr des Herrn 1440 hat Mathias mich gegossen‘.
- Die Inschrift ist nur bruchstückhaft gelesen: (math… + gos mich); vgl. Paul Lehfeldt (Bearb.), Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, Bd. 2: Herzogthum Sachsen-Altenburg – Westkreis – Amtsgerichtsbezirke Roda, Kahla, Eisenberg, Jena 1888, S. 123f. Heinrich Bergner, Zur Glockenkunde Thüringens, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichts- und Alterthumskunde zu Kahla und Roda 5, 1900, S. 129–230, hier S. 194.
- Ich danke Ingrid Schröder, Hamburg, für die Bestätigung dieser Überlegung.
Nachweise
- Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 160.
- Otto, Notizen, S. 136.
- Vennigerholz, Beschreibung, Bd. 2, S. 91.
- Rau, Beschreibung, S. 45.
- Müller, Entschlüsselung, S. 57.
Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 41 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0004104.
Kommentar
Inschrift A zeigt eine kunstvolle Ausführung der Buchstaben, wie sie sonst nur auf Goldschmiedearbeiten zu finden ist. Die Brechungen werden als scheinbar umgeklappte Bänder ausgeführt, das t mit einem optisch durch den Schaft gezogenen Balken. Das runde Schluss-s besteht aus zwei gegenläufigen Bögen, die so zusammengeschoben sind, dass der Buchstabe kleiner wird; der Gießer hat dem s die Größe des davorstehenden o angepasst, so dass die Endung -os in beiden Fällen kleiner ausfällt. An der Fahne des f ein oben und unten umgebogener Zierstrich. Der Schaft und der senkrechte linke Bogenabschnitt des g sind gleich lang, die Unterlänge ist waagerecht darunter gesetzt. Der linke Schrägschaft des x ist senkrecht gestellt, der rechte zum Quadrangel mit leicht durchgebogenem Zierstrich reduziert; der Mittelbalken ist rechts hochgebogen.
Inschrift A stellt eine Version der seit dem 13. Jahrhundert in vielen Varianten nachzuweisenden Funktionsbestimmung von Glocken dar: die Gläubigen zur Kirche zu rufen, die Toten zu beklagen, Donner oder Blitze zu brechen.1) Diese Funktionen der Glocke sind auch Bestandteile des bischöflichen Gebets im Rahmen der liturgischen Glockensegnung.2) Bemerkenswert an Inschrift B ist die Mischung von deutschsprachigen und lateinischen Formen.3)
Borchart von Stenhem4) – gemeint ist vermutlich Steinheim bei Höxter, das im Stift Paderborn lag – wird bei Walter nur mit der vorliegenden Glocke genannt.5) Meister Mathias (matias) goss 1458 eine Glocke mit einer längeren Version der Inschrift A für Eddigehausen (Lkr. Göttingen).6) Auf dieser finden sich ebenfalls eine Kreuzigungsgruppe und die ausgeprägten hochgestellten o. Die Buchstabenformen auf dieser Glocke entsprechen denen der vorliegenden Inschrift B; das auffällige doppelbögige s wiederholt sich allerdings nicht. Eine Glocke, die ohne Meisternennung im Jahr 1447 für St. Albani in Göttingen entstand, entspricht in ihren Inschriften und in ihrer Gestaltung der Eddigehäuser von 1458.7)
Letzner zufolge sind Meister Mathias außerdem noch zwei 1463 für die Liebfrauenkirche in Moringen entstandene Glocken zuzuschreiben; vgl. Nr. 51. In Westerode (Bad Harzburg, Lkr. Goslar) gibt es eine 1440 von einem Meister mathias gegossene Glocke.8) Die Zuschreibung einer 1433 für St. Blasius in Langenorla (Saale-Orla-Kreis, Thüringen) angefertigten Glocke bleibt unsicher.9) Der deutschsprachige Einschub to northem ist als Bezeichnung des Gussortes zu verstehen und nicht als Herkunftsbezeichnung des Meisters, die eher mit van oder ut ausgedrückt worden wäre.10)