Inschriftenkatalog: Landkreis Luwigsburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 25: Lkr. Ludwigsburg (1986)

Nr. 4 Gemmrigheim, ev. Pfarrkirche Johannes d. T. um 1250?

Beschreibung

Kreuzigungsgruppe mit Beischrift. Außen in der Nordwand des Langhauses über dem östlichen Fenster. In einen Sandsteinblock ist eine asymmetrische spitzbogige Nische eingetieft, darin in Hochrelief ein Christus des Dreinageltyps am Astkreuz, unter dem Kreuz verschleierte Maria und Johannes mit Buch. Auf dem Bogenrand läuft eine Inschrift um, deren mittlerer Teil sorgfältig ausgeschabt ist; zwei Worttrennpunkte sind noch sichtbar. Der Stein hat leichte Verwitterungsschäden.

Maße: H. 97, B. 88, Bu. 2–3 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/1]

  1. P(RAE)P(OSITV)Sa) · HENRIC(V)Sb) · [. . . . . . . . . . . . .] [. . . . . . . . . .] · RECORDA(MI)NI · IP(SIV)Sc)

Übersetzung:

Propst Heinrich ……….. gedenket seiner

Kommentar

Die Entstehungszeit der Inschrift läßt sich durch baugeschichtliche Daten und Stilvergleiche eingrenzen. Das Langhaus der Kirche entstand im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, der Stein ist also in Zweitverwendung eingesetzt. Der Turm stammt von einer älteren Anlage aus der Mitte des 13. Jahrhunderts1, die vermutlich anstelle eines noch älteren Baues errichtet wurde, der wohl in den Kämpfen zwischen Kaiser Friedrich II. und seinem Sohn Heinrich (VII.) um das Jahr 1235 zerstört worden war.2 Der Stil der Kreuzigungsgruppe weist auf den Übergang von der Romanik zur Gotik und korrespondiert mit dem Stil des Turmes.3 Der Stein dürfte demnach ebenfalls aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammen.

Die Gemmrigheimer Kirche wurde im Jahr 1231 von Propst Dietrich für das Augustinerchorherrenstift Backnang – damals Grablege der Markgrafen von Baden – erworben.4 Unter Dietrichs Nachfolgern muß demnach der in der Inschrift erwähnte Heinrich gesucht werden. Tatsächlich wird im Jahre 1246 ein ‚Heinricus prepositus in Bacgenangc’ genannt, auf den sich allem Anschein nach zwischen 1244 und 1266 fünf weitere Urkunden beziehen.5 Er war ein einflußreicher Kirchenmann, der im Auftrag der Päpste Innozenz IV. und Clemens IV. mehrfach für Kloster Ellwangen (Ostalbkreis) und Stift Oberstenfeld tätig war6, und der wohl auch Adressat des im Jahre 1245 von Papst Innozenz III. ausgestellten Schutzbriefes für Stift Backnang ist.7 Es ist danach wahrscheinlich, daß er in der Inschrift angesprochen ist. Der Zusammenhang läßt sich jedoch nicht klären, weil die getilgten Worte sich nicht ergänzen lassen und der Grund für ihre Tilgung nicht zu ermitteln ist. Die Wortwahl RECORDAMINI macht eher eine Sühnekreuzgruppe wahrscheinlich; vielleicht besteht ein Bezug zu dem namentlich nicht bekannten Propst, der 1235 im Verlauf der Kämpfe erschlagen wurde, denen auch die erste Gemmrigheimer Kirche zum Opfer fiel.8 Möglicherweise wurde gerade dieser zweite Name später durch die ‚deletio memoriae’ getilgt, der erste Name und die Fürbittformel blieben erhalten.9

Die Inschrift zeigt einen breiten Duktus ohne Ligaturen. Neben offenem unzialen E und C und unzialem H finden sich nur kapitale Formen. Das ist der Formbestand der romanischen Majuskel. Besonders archaisch wirkt das N, das mit seinen verlängerten Hasten bis in die Karolingerzeit zurückweist. Einflüsse der Gotik manifestieren sich dagegen in einer leichten Schwellung der Bögen von C, D und O.10 Die Skulpturen sind wenig proportioniert, die Linienführung der Gewandfalten ist unsicher und schematisch, eine provinzielle Ausführung unverkennbar.

Textkritischer Apparat

  1. Erstes P mit oben offenem Bogen; über dem Wort Kürzungsstrich. Bossert liest EP(ISCOPU)S.
  2. S um 90° nach vorn gekippt, um Kürzung anzuzeigen. Bossert liest HENRI(CVS) F(E)C(IT).
  3. S um 90° nach vorn gekippt. Über dem Wort zwei Kürzungsstriche. Das spricht eher für die Auflösung IPSIVS als das auch diskutierte IPSVM.

Anmerkungen

  1. G. Bossert d. Ä., Die Kirche in Gemmrigheim, in: WürttJahrbücher 1915, 238ff.; Paulus, Neckarkreis 74; Gradmann, Kunstwanderungen 31955, 110; Dehio-Piel 156.
  2. Bossert d. Ä. (wie Anm. 1) 245.
  3. So schon Bossert d. Ä. (wie Anm. 1) 245.
  4. WUB IV nr. 112 (Nachtrag) S. 409f.
  5. WUB IV nr. 151 (Nachtrag) S. 449. – WUB IV nr. 1031, S. 82f.; ebd. V nr. 1588, S. 347f.; ebd. IV nr. 1136, S. 201f.; ebd. VI nr. 1843, S. 239; ebd. nr. 1866, S. 261. – Vgl. H. U. Schäfer, in: HgW 22 (1971) 6f.
  6. Der Oberstenfelder Nekrolog gedenkt seiner unter dem 2. März; Mehring, in: WürttVjh. 6 (1987) 266.
  7. WUB IV nr. 1040, S. 90ff.
  8. Die früher geäußerte Vermutung, es handele sich um ein Weihedatum der Kirche des 13. Jahrhunderts, das anläßlich des Neubaues im 16. Jahrhundert getilgt worden sei (vgl. Schäfer, wie Anm. 5) ist zu berichtigen; solche Daten wurden bei Kirchenneubauten in aller Regel nicht gelöscht, sondern sorgfältig tradiert.
  9. Solche Beispiele einer ‚deletio memoriae’ kommen in Inschriften gelegentlich vor; vgl. DI. XII (Heidelberg) nr. 164, ferner R. M. Kloos, in: Münchener Hist. Studien, Abt. Geschichtl. Hilfswissenschaften Bd. 19 (1982), S. 29.
  10. Vgl. Kloos, Epigraphik 116f., 124, 130f.

Nachweise

  1. Bossert d. Ä. (wie Anm. 1) 245.
  2. Schäfer (wie Anm. 5) Abb.

Zitierhinweis:
DI 25, Lkr. Ludwigsburg, Nr. 4 (Anneliese Seeliger-Zeiss und Hans Ulrich Schäfer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di025h009k0000403.