Inschriftenkatalog: Landkreis Holzminden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 83: Landkreis Holzminden (2012)

Nr. 53 Forst, Alter Amtshof 1549

Beschreibung

Haus. Fachwerk. Das sog. Kornhaus, die fünfzehn Gefache lange östliche Verlängerung des ehemaligen Brauhauses (vgl. Nr. 71), ist ein Teil des im 16. Jahrhundert ausgebauten Amtshofes, für dessen Bau das Dorf Forst gelegt wurde.1) Die Inschriften verlaufen auf der ganzen Länge an der südlichen Oberstockschwelle des auf einem hohen Steinsockel errichteten zweistöckigen Fachwerkbaus. Beide Inschriften sind farbig gefaßt, Inschrift B teilweise noch als erhaben geschnitzt zu erkennen. Die auf den Bibelvers A folgende Inschrift B ist durch frühere Restaurierungen überformt, die gegenwärtige Farbfassung (2011) ist schadhaft. Im Anschluß an den Namen folgen am Ende zwei unleserliche, nicht farbig gefaßte Worte, der Schluß ist durch die Ersetzung eines kurzen Balkenstückes verloren. In Inschrift B folgen auf die fünf durch Versalien hervorgehobenen Nomen die fünf Prädikate in durchgehender Folge; sie werden so wiedergegeben, daß die jeweils zugehörigen Paare untereinander stehen, die zwei Hexameter aber je eine Zeile bilden.

Maße: Bu.: 8 cm (A), 8–10 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Elementen der Fraktur und Versalien.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Christine Wulf) [1/5]

  1. A

    An(n)o d(omi)ni dvsent vifhvnderta) · xlix · nisi : dominvs : edificaverit : domvm : in vanum : laboraverunt · qui ed[ific]antb) · eam · psalm cxxviic)2) 1 · 5 · 4 · 9d)

  2. B
    Virtvs · Ecclesia Clervs [De]mon · [Si]moniae) 
    cessat tvrbaturf) · errat regnat · dominatvr3) 

    Iohan berttelg) [– – –]

Übersetzung:

Im Jahr des Herrn 1549. Wenn der Herr nicht das Haus erbaut hat, so haben umsonst gearbeitet, die daran bauen. (A)

Die Tugend schwindet, die Kirche ist erschüttert, der Klerus irrt, der Teufel herrscht, die Simonie regiert. (B)

Versmaß: Hexameter, singula singulis. (B)

Kommentar

In den farbig gefaßten Teilen findet sich ein rundes d, doppelstöckiges a und Schleifen-s in dominvs. Die erhaben geschnitzten Formen in (B) lassen erkennen, daß die Inschrift ursprünglich in einer gotischen Minuskel ausgeführt war: r mit zum Quadrangel reduzierter Fahne, beim e ist der Balken zu einem unten umgebogenen Strich reduziert. I (Iohan) ist mit einem Nodus versehen.

Bei Inschrift A handelt sich um eine im protestantischen Bereich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, überwiegend allerdings in deutscher Sprache, häufige Hausinschrift.4) Inschrift B ließ im selben Jahr 1549 auch der Kanoniker Johannes Oldecop an der Dechanei des Heilig-Kreuz-Stiftes in Hildesheim anbringen.5) Nach der Rückkehr von Herzog Heinrich d. J. (1489–1568) in sein Herzogtum und der Abwehr des Schmalkaldischen Bundes, der ihn von 1542 bis 1547 zeitweise der Herrschaft entsetzt und gefangengenommen hatte,6) drückte dessen – sonst nicht nachzuweisender – Amtmann Johann Berttel (oder Hertel, 1537 „Befehlshaber und Amtmann“ Herzog Heinrichs d. J. auf dem Ottenstein?7)) mit seiner Wahl dieselben Gefühle der Verunsicherung aus, die auch den Hildesheimer Kanoniker beherrschten. Die aus der kirchenkritischen Dichtung des 12. Jahrhunderts stammenden Verse, die u. a. in den Carmina Burana tradiert wurden,8) werden in Hildesheim wie in Forst von Verteidigern des alten Glaubens gegen die Erschütterung der Kirche gewendet, die in ihren Augen von der Reformation ausgeht. Obwohl in Forst als durchgehender Text angebracht, zeigt die Verwendung der Versalien für die Substantive, daß die besondere Form des Hexameters singula singulis dem Auftraggeber bewußt war. Die Zusammenstellung mit Inschrift A illustriert exemplarisch die konfessionelle Gemengelage der Mitte des 16. Jahrhunderts, in der die sich herausbildenden Glaubensrichtungen in ihren kulturellen Ausdrucksformen noch ungefestigt sind.9)

Der Komplex des Amtshofes wurde in den Folgejahren ausgebaut, wie eine weitere Gebäudeinschrift zeigt; vgl. Nr. 71.

Textkritischer Apparat

  1. vifhvndert] So Kdm.; rt heute falsch als n restauriert.
  2. ed[ific]ant] Ergänzung nach Kdm. Heute falsch restauriert in ed[vv]ant.
  3. cxxvii] Kdm. haben nur CXX gelesen und VII ergänzt; danach möglicherweise restauriert. Die Nummer des Psalms heute nach der Zählung der Lutherbibel.
  4. Die 5 mit linksgewendeter Fahne.
  5. [Si]monia] Die heutige farbige Fassung weicht von der ursprünglichen Fassung ab; entweder war das i früher ein y oder die Buchstaben begannen ab m jeweils einen Schaft früher.
  6. tvrbatur] Heute falsch restauriert in tvrbaaur.
  7. berttel] Möglich wären auch die Lesarten herttel oder berthel (Kdm.: berth ...). Die Inschrift B weist aber sonst keine Ligaturen auf; der Anschluß des e an das t entspricht auch nicht der Form des gebrochenen Bogens am h. Gegen ein h am Anfang spricht der Vergleich mit Iohan, wo der Schaft des h oben keilförmig verbreitert ist und der Bogen unmittelbar am Schaft ansetzt.

Anmerkungen

  1. Vgl. Kdm. Kr. Holzminden, S. 43–45, mit Lageplan S. 43 (Abb. 31). Abbildung und Modell des Kornspeichers: Schönlau, Alter Amtshof, S. 156f.
  2. Ps. 126,1. Die abweichende Angabe der Bibelstelle in der Inschrift beruht auf der Zählung der Lutherbibel.
  3. Vgl. Walther, Proverbia 5, Nr. 33656, 33679 u. ö.
  4. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 148 (1545), 169 (1565), 228 (um 1595), 281 (1606) u. 428 (Mitte 17. Jh.). DI 28 (Stadt Hameln), Nr. 141 (1638) u. 174 (vor 1650?). DI 36 (Stadt Hannover), Nr. 157 (um 1585), 241 (1606) u. 346 (1646).
  5. Vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 222.
  6. Vgl. Brüdermann, Glaubensspaltung, S. 447–450. Lippelt, Hoheitsträger, S. 175f.
  7. Vgl. Freist, Ottensteiner Chronik, S. 18 (ohne Vornamen). Vgl. Anm. g.
  8. Vgl. Carmen buranum 5: Carmina Burana, S. 18.
  9. Vgl. Arnd Reitemeier, Die Reformation und ihre Folgen in Niedersachsen. Inschriften und die Frage nach der Einführung und Konsolidierung des lutherischen Glaubens in den welfischen Territorien des 16. Jahrhunderts, in: Nikolaus Henkel (Hg.), Inschriften als Zeugnisse kulturellen Gedächtnisses. 40 Jahre Deutsche Inschriften in Göttingen. Beiträge zum Jubiläumskolloquium vom 22. Oktober 2010 in Göttingen, erscheint voraussichtlich 2012.

Nachweise

  1. Kdm. Kr. Holzminden, S. 45 (nur A, von B nur der Name).

Zitierhinweis:
DI 83, Landkreis Holzminden, Nr. 53 (Jörg H. Lampe und Meike Willing), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di083g015k0005305.