Inschriftenkatalog: Landkreis Holzminden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 83: Landkreis Holzminden (2012)

Nr. 37† Kemnade, Klosterkirche St. Marien 1504 od. später

Beschreibung

Inschrift auf einem zerteilten und wieder zusammengesetzten Brett, das 1750 hinter der Herrenprieche (Adelsempore) angebracht war.1) Die Inschrift wurde zuerst von Letzner Ende des 16. Jahrhunderts überliefert und zuletzt von Pastor Richelmann im Jahr 1750. Am zuverlässigsten erscheint die Lesung des Pastors Johann Büttner von 1676, die Steinacker in den Kunstdenkmälern zugrundegelegt hat.

Inschrift nach Kdm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.2)

  1. Quingentis mille quatuor si junxeris annosa) Virgineumb) coetum clauserunt Kaminadensemc)Corbensisd) abbas Hinricus Brunsviciie) duxBennoniae virensf) princeps claustrique magisterg)h)

Übersetzung:

Wenn du vier Jahre mit 1500 Jahren verbindest, da haben das Jungfrauenkloster in Kemnade klausuriert der Abt von Corvey (und) Heinrich Herzog von Braunschweig, der junge Fürst der „Bennonia“ (Hildesheim) und Herr des Klosters.

Versmaß: Hexameter.

Kommentar

Die Inschrift auf der Holztafel, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz war, verweist C. Römer zufolge auf den Anschluß Kemnades an die Bursfelder Kongregation, den zuvor interne Corveyer Streitigkeiten – Corvey hatte seit 1147 das Propsteirecht in Kemnade inne – verhindert hatten. In dieser Situation habe der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel die Initiative ergriffen und zusammen mit dem neuen Abt von Corvey, Franz von Ketteler (1504–1547), Kemnade reformiert und der Kongregation angeschlossen. Vorbereitungen für eine Reform in Kemnade lassen sich tatsächlich bereits für 1501 belegen. Urkunden vom 14. April und 16. Juni 1504 sprechen vom reformerten Gotshuse. Das Kloster versprach gleichzeitig Herzog Heinrich jährlich eine Seelenmesse.3) Allerdings wird die Aufnahme der Kemnader Nonnen in die Bursfelder Kongregation erst auf einem Generalkapitel im Jahr 1520 vollzogen.4) Die Verwendung des Ausdrucks „klausuriert“ für die Reform rückt die Einführung strengerer Regeln für das Klosterleben in die Nähe einer Neukonstituierung des Klosters, wenn auch 1579 ein späterer Klosterverwalter die Reform (aufgrund der Inschrift?) mit dem Bau einer Mauer um das Kloster in Verbindung brachte.5)

Die Inschrift enthält innere Unstimmigkeiten, die auch eine Anfertigung in einem größeren zeitlichen Abstand zum Jahr 1504 möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich machen. Seit 1495 regierte in Braunschweig-Wolfenbüttel Herzog Heinrich (1463–1514), der zur Unterscheidung innerhalb des Welfenhauses bereits zu dieser Zeit „der Ältere“ genannt wurde und mit über 40 Jahren 1504 auch lebensaltersmäßig nicht mehr jung war. Die gelehrte Anspielung auf Hildesheim (Bennonia – falls nicht für Brunonia verlesen) ist allerdings nur mit seinem Sohn und Nachfolger Heinrich d. J. (1489–1568) in Verbindung zu bringen, der am Ende der Hildesheimer Stiftsfehde (1519–1523) den größten Teil des Stiftes an sich brachte. In der Reformationszeit blieb er dem Katholizismus treu. Die Charakterisierung des Herzogs als Herrscher über Hildesheim und Herr des Klosters deutet, wie auch die gleichzeitige Erwähnung des Abtes von Corvey, auf eine Situation hin, in der die Nonnen Heinrich d. J. als ihren weltlichen und konfessionellen Schutzherrn herausstellen wollten, während Corvey nur nebenbei erwähnt wurde. Diese Situation war nach 1547 gegeben, nachdem das Kloster, das 1542/44 unter dem Regiment der Schmalkaldischen (evangelischen) Statthalterregierung gestanden hatte, endgültig wieder unter die Herrschaft Heinrichs zurückgekehrt war, der nun selbst Ansätze zur Klosterreform entwickelte. Gleichzeitig war das Wissen um die tatsächlichen Verhältnisse von 1504, das in der Person der Domina Anna von Hörde (1504–1534) bis in die 1530er Jahre gegenwärtig gewesen war, in den Hintergrund getreten. Ab 1555 wurde schließlich Corvey durch seinen Abt Rainer von Bocholtz zum wichtigsten Verteidiger der Selbständigkeit des Klosters und des Katholizismus seiner Insassen.6)

Textkritischer Apparat

  1. annos] annis Letzner (alle Hss.).
  2. Virgineum] Virginum Letzner, MS XXIII, 227a.
  3. Kaminadensem] Kemnadensium Letzner (alle Hss.).
  4. Corbensis] Corbejus Letzner, MS XXIII, 227a.
  5. Hinricus Brunsvicii] Henricus Brunsvicensis Letzner (alle Hss.).
  6. Bennoniae virens] Bennone juvere Letzner, Cod. Ms. Hist. 248, S. 740 u. MS XXIII, 227a, p. 767; Bennoneiuuere Cod. Ms. Hist. 249, fol. 820r. Vgl. aber auch Anm. h.
  7. princeps claustrique magister] patres claustri Mariae Letzner (alle Hss.).
  8. Die Lesung des Pastors Richelmann von 1750 (LkAW, Corpus bonorum) weicht stärker von der Überlieferung bei Büttner und Letzner ab; sie lautet insgesamt: Quingentos mille quatuor si inspicis annos / virginum coetum aedificavit Kemnadensem / Conventus abbas Henricus Brunovicent. Dux /Brunovium claustrique Mariae. Mehrere Lesungen wie aedificavit oder Conventus erscheinen inhaltlich unsinnig; auch fehlen in der vierten Zeile offenbar Worte. Die Lesung dieser Zeile war für alle Autoren offenbar besonders schwierig; nicht ausgeschlossen ist daher, daß am Anfang, trotz der Doppelung, doch ein Ausdruck für Braunschweig (Brunoniae statt Bennoniae) stand und am Ende Mariae, das auch Letzner immer hat (vgl. Anm. g).

Anmerkungen

  1. LkAW, Corpus bonorum von Kemnade (1750), S. 1. Kdm. Kr. Holzminden, S. 389. Bei der „Herrenprieche“ dürfte es sich um das nach der Reformation eingebaute, besondere Kirchengestühl für die Familie (von) Hake handeln; ebd., S. 389 u. S. 373. Vgl. Hake, Familiengeschichte, S. 19.
  2. „Mönchsschrift“; Kdm. Kr. Holzminden, S. 389 (nach Büttner 1676). In alter Münche-Schrift; LkAW, Corpus bonorum von Kemnade (1750), S. 1.
  3. Vgl. Römer, Kemnade, S. 306. Letzner schreibt: Anno Domini 1504 ist das ... Kloster Kemnade auf vielfeltiges und fleisiges anhalten etzlicher Jungfrauen und anderer Gottsehliger Leute reformiret worden. Letzner, Klösterchronik, Cod. Ms. Hist. 248, S. 739.
  4. Vgl. Volk, Generalkapitels-Rezesse, S. 485 u. 486: Ad nostram confraternitatem infrascripti sunt recepti: (...) dna. Anna de Hadenen sanctimonialium Emnorden [andere Hss.: Kymnorden] cum sororibus presentibus et futuris. Römer, Kemnade, S. 306f.
  5. Zit. bei Römer, Kemnade, S. 306.
  6. Vgl. Römer, Kemnade, S. 307f. Zum Hintergrund vgl. Brüdermann, Glaubensspaltung, S. 445–449 u. 460. Täubrich, Herzog Heinrich der Jüngere, passim.

Nachweise

  1. Kdm. Kr. Holzminden, S. 389 (Büttner 1676).
  2. Letzner, Klösterchronik, Cod. Ms. Hist. 248, S. 739f.; Cod. Ms. Hist. 249, fol. 820r; Cod. MS XXIII, 227a, p. 766f.
  3. LkAW, Corpus bonorum von Kemnade (1750), S. 1f.

Zitierhinweis:
DI 83, Landkreis Holzminden, Nr. 37† (Jörg H. Lampe und Meike Willing), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di083g015k0003701.