Inschriftenkatalog: Landkreis Holzminden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 83: Landkreis Holzminden (2012)

Nr. 7(†) Amelungsborn, Klosterkirche 3. V. 14. Jh.

Beschreibung

Glasmalereien, heute im nördlichen Langhaus-Seitenschiff. Die Glasmalereien des früheren großen Ostfensters des Chores wurden bei einem Bombenangriff am 8. April 1945 stark beschädigt. Erhalten sind von den ehemals insgesamt 96 Scheiben (ohne den Maßwerkgiebel) nur noch Fragmente, die 1957 durch den Hannoveraner Glasmaler Heinz Mühlenbein in den drei östlichen Fenstern des nördlichen Langhaus-Seitenschiffes zu möglichst sinnvollen Einheiten wieder zusammengesetzt wurden; diese tragen mit einer Ausnahme (s. u.) jedoch keine Inschriften.1)

Das Glasgemälde des Ostfensters verteilte sich in acht Reihen zu je zwei Zeilen auf sechs Bahnen; in den ersten sechs Reihen folgte über einer Zeile mit sechs Bildfeldern jeweils eine Zeile mit einem aus zwei Wimpergen bestehenden Baldachin. Ab der oberen Zeile der siebten Bildreihe folgten Architekturelemente, die zur dreiteiligen Maßwerkpyramide im Spitzbogen überleiteten; im Mittelpunkt des zentralen Radkreises ein Lamm Gottes. In der untersten Reihe war in jedem Bild (Feld 1–6, von links nach rechts gezählt) ein Prophet des Alten Testaments dargestellt, der ein Spruchband hielt; diese Bilder wurden um 1880 bei einer Restaurierung durch den Braunschweiger Glasmaler Thomas Sander angefertigt und ersetzten eine Reihe zerstörter Bilder unbekannten Inhalts.2) Inschriftenlose Fragmente der bei der Restaurierung ergänzten oder ersetzten Bilder finden sich heute im Städtischen Museum Göttingen, zwei weitere seit 1998 wieder im Kloster.3) Die Bilder 7 bis 42 in der zweiten bis siebten Reihe thematisierten Ereignisse aus dem Marienleben sowie der Jugend und der Passion Christi. Inschrift A auf einem von einem Engel gehaltenen Spruchband innerhalb der Darstellung der Verkündigung an Joachim und Anna (Feld 7). Inschrift B auf einem Inschriftenstreifen am rechten Rand der Darstellung des Joseph vor dem sitzenden Hohenpriester (Feld 10). Inschrift C auf einem von einem Engel gehaltenen Spruchband bei der Verkündigung an Maria (Feld 11). Inschrift D auf einem Spruchband bei der Verkündigung des Engels an die Hirten (Feld 14).4)

Im mittleren Fenster des nördlichen Langhaus-Seitenschiffes findet sich heute in der dritten Reihe eine Darstellung des Lanzenstichs aus der Passion Christi (Jh. 19,33–37), die vermutlich aus dem zweiten Feld der sechsten Reihe des Ostfensters stammt.5) Von der Figur des Gekreuzigten sind nur Reste, darunter Teile des linken Arms, original. Unter dem Arm ein Schriftband mit der ebenfalls teilweise zerstörten Inschrift E.6)

Inschriften A–D nach Kdm.

Maße: Bu.: ca. 1 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Meike Willing) [1/1]

  1. A †

    Anna uxor tua pariet tibi filiam7)

  2. B †

    (v)irga Joseph florvit8) cvi Maria desponsari d(ebuit)a)9)

  3. C †

    ave gratia plena d(omi)n(u)s tec(u)m10)

  4. D †

    evangelizo vobis gaudium magnum quia natus est vobis salvator mundi11)

  5. E

    Ve[re] · fi[liu]s · [d]ei12)

Übersetzung:

Deine Frau Anna wird dir eine Tochter gebären. (A)

Der Zweig Josephs blühte, mit dem Maria verlobt werden sollte. (B)

Gegrüßt seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. (C)

Ich verkünde euch große Freude, denn euch ist der Retter der Welt geboren. (D)

Wahrhaftig der Sohn Gottes. (E)

Kommentar

Inschrift E zeigt eine gotische Minuskel – die älteste im heutigen Landkreis Holzminden – mit einzeln ausgeformten Buchstaben, die durch breite Schäfte und ausgeprägte Zierformen charakterisiert sind. Die Ecken der Quadrangeln sind zu Haken ausgeformt, i ist am oberen Ende mit zwei schrägen Zierstrichen versehen, am Wortende ein langes s.

Die Glasmalereien, vor ihrer Zerstörung der größte Zyklus in Niedersachsen (Wentzel) – 1639 waren in der Klosterkirche zwölf Fenster mit Glasmalereien versehen, 1819 immerhin noch neun,13) von denen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber nur noch wenige Reste existierten (vgl. Nr. 6) –, sind in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Bau des gotischen Ostchors entstanden. Dieser wurde nach schriftlichen Quellen zwischen 1363 und 1371 fertiggestellt.14) Die Glasmalereien können daher nicht vor dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden sein, wohingegen Wentzel sie stilkritisch auf 1330/40 datiert hat, Parello zuletzt auf 1340/50.15)

Die Aufweichung der zuvor rigiden Bestimmungen der Zisterzienser ließen seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts Farbverglasungen und figürlichen Schmuck in den Ordenskirchen zu, der in Amelungsborn eine außergewöhnliche Dichte annahm.16) Möglicherweise steht dahinter auch ein Interesse von Stiftern, die nach der Überlieferung zu dem Bau des Chores beitrugen. Künstlerisch stehen die Fenster in Niedersachsen allein; Wentzel nimmt einen Bezug zu Kölner Werkstätten an, Heutger verweist auf die früheren Glasmalereien im Kloster Bebenhausen und in St. Dionysius in Esslingen, Parello stellt einen Bezug zu einer Hersfelder Werkstatt her, die vor allem das frühere „Katharinenfenster“ in der dortigen Stadtkirche hergestellt hat.17) Von einer eigenen Werkstatt der Zisterziensermönche, die Göhmann annimmt, wird man wohl nicht ausgehen können.18)

Im Zusammenhang mit der wachsenden Marienfrömmigkeit nahm die Verehrung ihrer in den Evangelien nicht erwähnten Eltern Anna und Joachim im Spätmittelalter zu. Die ersten beiden Inschriften sind ganz (A) bzw. teilweise (B) abhängig vom apokryphen sog. Evangelium der Geburt Mariens (8./9. Jahrhundert?), das letztlich auf das Protoevangelium des Jakobus zurückgeht. Ausgangspunkt ist die Zurückweisung des Joachim im Tempel, dem als Kinderlosen der Vollzug des Opfers verweigert wird. Daraufhin erscheint ihm, der auf diese Weise in den Stammbaum Jesu eingefügt wird, der Engel. Durch ihre Aufnahme in die weitverbreitete „Legenda Aurea“ (entstanden um 1251/60) wurde die Geschichte der Mariengeburt seit dem späten 13. Jahrhundert allgemein bekannt.19)

An Inschrift D fällt gegenüber dem Text der Vulgata die kontrahierte Form des Zitats aus dem Lukasevangelium (2,10f.) auf. Diese spezielle Form findet sich, soweit sich dies überblicken läßt, im Mittelalter nur in Predigten von Angehörigen des Franziskanerordens, nämlich bei Antonius von Padua (1195–1231) im 13. und dem sonst unbekannten Roger de Platea in der Mitte des 14. Jahrhunderts.20) Dieser textgeschichtliche Befund stützt die von Seiten der Kunstgeschichte erwogene Annahme, daß die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts plötzlich mit großen Programmen auftretende Ausstattung von Zisterzienserkirchen mit Glasmalereien durch das Vorbild der Bettelordenskirchen beeinflußt wurde.21)

Textkritischer Apparat

  1. d(ebuit)] d(ecet) Kdm.

Anmerkungen

  1. Vgl. Elena Kozina, Art. Amelungsborn, in: CVMA Deutschland, Bd. VII,1 (in Vorbereitung). Wentzel, Meisterwerke, S. 93. Ders., Glasmalereien, S. 139f. Göhmann, 850 Jahre, S. 80 u. 226f. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 234f.
  2. Kdm. Kr. Holzminden, S. 131, mit Tafel V nach S. 120. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 43, 92, 94 u. 231. Der Architekt Ernst Wiehe (1842–1894) hatte 1874 mit den 1896 von seinem Nachfolger Pfeifer beendeten Arbeiten an der Klosterkirche begonnen; Kdm. Kr. Holzminden, S. 121. Pfeifer zufolge waren zuvor im Ostfenster nur noch „Reste“ vorhanden; Pfeifer, Amelungsborn, S. 12f. 1894 als Jahr der Restaurierung der Fenster beruht wohl auf einem Mißverständnis Pfeifers; vgl. Wentzel, Glasmalereien, S. 141, mit Anm. 13, S 145. Am genauesten wohl die Datierung „vor 1881“ bei Parello, Bildprogrammatik, S. 171.
  3. Vgl. Korn, Scheiben, S. 93–102. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 95.
  4. Kdm. Kr. Holzminden, S. 131f., mit Tafel VI nach S. 128. Vgl. die Abbildung des Fensters in Wentzel, Meisterwerke, Tafel 137; ders., Glasmalereien, S. 140. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 94. Zwei Ausschnitte vergrößert enthält: Korn, Scheiben, S. 101 (mit einer gesonderten Zählung der beiden Zeilen einer Reihe).
  5. Vgl. die Abbildung des Fensters in Wentzel, Meisterwerke, Tafel 137; ders., Glasmalerei, S. 140.
  6. Aufmerksam gemacht auf die Inschrift hat mich: Elena Kozina, Art. Amelungsborn, in: CVMA Deutschland, Bd. VII,1 (in Vorbereitung). Elena Kozina sei für die frdl. Überlassung des Artikel und des von einem Gerüst erstellten Photos hier ausdrücklich gedankt.
  7. De nativitate Mariae 3,3. Joachim erscheint ein Engel, der ihm verkündet: Anna uxor tua pariet filiam, et vocatis nomen eius Mariam; in: Tischendorf, Evangelia apocrypha, S. 115. Vgl. De nativitate Sancte Marie virginis: Proinde Anna uxor tua pariet filiam et uocabis nomen eius Mariam; Legenda Aurea (ed. Maggioni), Tom. 2, CXXVII, V. 52, S. 904. In der viel zitierten älteren Ausgabe von Graesse: CXXXI, S. 588.
  8. Entsprechend zu: Virga Jesse floruit; Tropus ad Graduale, in: Analecta Hymnica, Bd. 49, Nr. 472, S. 243.
  9. De nativitate Mariae 8,1: ... virgam suam non attulisse, qui virginem desponsare deberet; in: Tischendorf, Evangelia apocrypha, S. 119.
  10. Lc. 1,28.
  11. Lc. 2,10f. Nach magnum ist der zweite Satzteil von Vers 10 (quod erit omni populo) ausgefallen, ebenso in Vers 11 hodie zwischen vobis und salvator; mundi gehört nicht zum Bibeltext. Die verkürzte Form erscheint in Predigten des Antonius von Padua und des Roger de Platea: Ecce evangelizo vobis gaudium magnum. Quia natus est vobis hodie Salvator; In nativitate Domini 9, in: Antonius von Padua, Sermones festivi, S. 7. Annuntio vobis gaudium magnum, quia natus est vobis hodie Salvator; in: Roger de Platea, Sermones I, S. 108.
  12. Mt. 27,54: ... vere dei filius erat iste.
  13. Vgl. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 93. Pfeifer, Amelungsborn, S. 12.
  14. Abt Engelhard (1355–1371) wurde Beginn und Vollendung des Baus zugeschrieben; bereits 1363 wird eine Altarstiftung in dem neuen Chor (nygen kore) errichtet; vgl. Kdm. Kr. Holzminden, S. 119. Mahrenholz, Abtsliste I, S. 28. Göhmann, 850 Jahre, S. 76f. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 76–79, 171 u. 173. Maier, Klosterkirche Amelungsborn, S. 32f. Die stilgeschichtlichen Datierungsversuche Maiers – der den Beginn des Querhaus-Umbaues bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ansetzt, den Bau des Chores vom späten 13. bis zum späten 14. Jahrhundert – überzeugen gegenüber der Quellenlage nicht, wenn auch für den Bau mehr als nur acht oder 15 Jahre anzunehmen sind; ebd., S. 53. Vgl. auch Elena Kozina, Art. Amelungsborn, in: CVMA Deutschland, Bd. VII,1 (in Vorbereitung).
  15. Vgl. Wentzel, Meisterwerke, S. 93 u. 40. Parello, Bildprogrammatik, S. 170.
  16. Vgl. allgemein dazu Parello, Bildprogrammatik, S. 165–167, speziell zu Amelungsborn S. 170–172.
  17. Vgl. Wentzel, Glasmalereien, S. 141f., mit Anm. 14, S. 145. Zu Bebenhausen auch Parello, Bildprogrammatik, S. 168–170. Heutger, Kloster Amelungsborn, S. 96f. Parello, Farbverglasung, S. 125.
  18. Göhmann, 850 Jahre, S. 50f.; ders., Glasscheiben, S. 59f. Vgl. demnächst Elena Kozina, Art. Amelungsborn, in: CVMA Deutschland, Bd. VII,1 (in Vorbereitung).
  19. Vgl. Anm. 7. TRE Bd. 2, S. 752–755. LCI Bd. 5, Sp. 168–184. Cullmann, Kindheitsevangelien, bes. S. 333f. u. 340f. Schneider, Evangelia Infantiae Apocrypha, S. 66–68. Zur „Legenda Aurea“, deren Entstehung und Verbreitung, vgl. Rhein, Legenda Aurea, bes. S. 7f. u. 15–18.
  20. Vgl. Anm. 11.
  21. Vgl. Parello, Bildprogrammatik, bes. S. 179.

Nachweise

  1. Kdm. Kr. Holzminden, S. 131f., mit Tafel VI nach S. 128.
  2. Wentzel, Meisterwerke, Tafel 137.
  3. Wentzel, Glasmalereien, S. 139–143 (ohne Inschriften).
  4. Elena Kozina, Art. Amelungsborn, in: CVMA Deutschland, Bd. VII,1 (in Vorbereitung).

Zitierhinweis:
DI 83, Landkreis Holzminden, Nr. 7(†) (Jörg H. Lampe und Meike Willing), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di083g015k0000703.