Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)
Nr. 4 Bad Homburg, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, aus Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine E. 9./1. H. 10. Jh.
Beschreibung
Memorienstein des Priesters und Mönchs Egilhelm. Der rote Sandstein war am südlichen Abstieg zur Krypta in Zweitverwendung vermauert.1) Er wurde aus der Wand herausgenommen und befindet sich nun in der Obhut der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten in Bad Homburg vor der Höhe (Inventar-Nr. 3.4.275). Es handelt sich nicht um die Beschriftung eines einfachen Quaders, sondern um die der Auflagefläche eines einfachen, hier karolingischen Kapitells mit annähernd quadratischem Fuß. Die Inschrift ist in drei Zeilen angebracht. Als Worttrenner dienen Dreiecke. Der Stein ist oben und an den Seiten beschädigt. Zudem zeigt auch die Oberfläche des Steins Beschädigungen, wovon die gesamte Inschrift betroffen ist.
Maße: H. 20, B. 47, Bu. 3,5–4 cm.
Schriftart(en): Kapitalis, nachkarolingische.
IX ∙ K(A)L(ENDAS) ∙ OCT(OBRIS)a) ∙ OBIIT / EGILHELM ∙ P(RES)B(ITE)R / ET ∙ MONACHVS
Übersetzung:
Am 9. Tag vor den Kalenden des Oktober (23. September) starb Egilhelm, Priester und Mönch.
Textkritischer Apparat
- SEP(TEMBRIS) Bramm, Inschriftenstein; OKT ders., HARTVVIN. Die Auflösung der Kürzung ist hypothetisch, da im 9.-10. Jahrhundert die alte adjektivische Benennung und der Genitiv des Nomens in Konkurrenz stehen, vgl. DI 71/2 (Trier II) 183. Wie der einzige ausgeschriebene Monatsname von Nr. 11 zeigt, kommt die adjektivische Form in Hersfeld vor.
Anmerkungen
- Vonderau 35.
- Scholz, Karolingische Buchstaben passim.
- Lebek, Versepitaph des Augsburger Bischofs Witgar 73–85; Sturm, Bau- und Kunstdenkmale der Stadt Fulda 29 mit Abb.; Scholz, Karolingische Inschrift; CIFM 14, Nr. 47 mit Abb. Tafel XXVII,56.
- Darauf hat zu Recht Rüdiger Fuchs in DI 70 (Trier I) Nr. 31, Anm. 3 und Nr. 44 hingewiesen; zur Entwicklung der Inschriftenpaläographie vom 9. zum 10. Jahrhundert allgemein vgl. Koch, Inschriftenpaläographie 118–121.
- Urkundenbuch der Abtei Hersfeld 1, 49, Nr. 26; zu Brunward I. vgl. Struve, Lampert von Hersfeld 118 f.
- Urkundenbuch des Klosters Fulda 1, 330, Nr. 229; 348, Nr. 242; 350, Nr. 243.
- Bramm 62, Nr. 3. Ihm folgte etwa May, Hersfelder Inschriften 28, auch aufgrund damals unzulänglicher Differenzierungen der karolingischen Kapitalis.
- DI 29 (Worms) Nr. 4 mit Abb. 1.
- Favreau, Épigraphie médiévale 97; vgl. auch Treffort, Mémoires carolingiennes 201, Abb. III. 66.
- CIFM 24, Nr. 100.
- Vgl. Hessen und Thüringen 116 f., Nr. 111 mit Abb.; in Klostergemeinschaft Fulda 249 MF 126 wird diese Inschrift mit dem auf 863 datierten Nekrologeintrag für den Mönch Hartleih in Verbindung gebracht, da der Eintrag dasselbe Tagesdatum aufweist und der Name Hartleih im Fuldaer Nekrolog sonst nicht bezeugt ist. Zu weiteren Belegen für das Formular im 10. und frühen 11. Jahrhundert vgl. DI 50 (Bonn) Nrr. 2, 4, 10; DI 58 (Hildesheim) Nr. 8 mit Abb. 21; Nisters-Weisbecker, Grabsteine Nrr. 62, 63, 64, 65, 68, 70, 79, 84, 101, 104, 112, 117. Trotz des reichen frühmittelalterlichen Materials kommt dieses Formular in Trier erst zum Jahr 931 vor; dieser Beleg wird jedoch wie wenige ähnliche ins 11. Jahrhundert datiert, vgl. DI 70 (Trier I) Nr. 81, 82, 84, 86. Den frühesten epigraphischen Beleg für das Formular stellt die Bleitafel für den 845 gestorbenen Bischof Leuderich von Bremen dar, vgl. 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit 336 f. Nr. VI.14, doch ist es aufgrund des verwendeten Materials und der Schrift zweifelhaft, ob die Inschrift wirklich aus dieser Zeit stammt; zu entsprechenden Tafeln vgl. grundsätzlich Ehrentraut, Bleierne Inschriftentafeln 190–225.
- Daß der Wiederaufbau bald nach dem Brand begonnen wurde, ergibt sich aus den naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Gerüsthölzer. Zwar hatte die 1998 erfolgte dendrochronologische Untersuchung von im Querhaus in Höhe der Fensterbänke gefundenen Gerüsthölzern keine eindeutige Datierung ergeben, doch mittels einer im Jahr 2000 an einem Gerüstholz vorgenommenen zusätzlichen C-14-Untersuchung konnte festgestellt werden, daß der Baum zwischen 985 und 1040 gewachsen war. Ein Vergleich der Standardeichenringkurven mit den Eichenringkurven der Hersfelder Gerüsthölzer ergab im fraglichen Zeitraum nur eine Übereinstimmung und durch die erhaltenen Waldkanten von zwei Gerüsthölzern Fälldaten von 1044/45 und 1047/48; die Informationen verdanke ich den freundlichen Mitteilungen von Herrn Dr. Thomas Ludwig, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, vom 01.12.1998 und 08.09.2000.
Nachweise
- Vonderau, Ausgrabungen (1921/22) 7.
- Vonderau, Ausgrabungen 35 mit Abb. XXXVII.
- Hörle, Lullusgrab 35.
- Bramm, HARTVVIN 15.
- Bramm, Inschriftenstein 62.
- „Egilhelm 9.–10. Jahrhundert, Hersfeld“, in: Grabdenkmäler <http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/gdm/id/1114> (Stand: 14. 11. 2006, Bearb. Andreas Schmidt, HLGL).
- Scholz, Bedeutung und Möglichkeiten 539 m. Abb. 1.
Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 4 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0000408.
Kommentar
Die Inschrift zeigt eine Kapitalis mit zumeist gleichstrichigen Buchstaben. Nicht nur das X besitzt eine Linksschrägenverstärkung, sondern auch A, M, N und V. Die Bogenverstärkungen sind allerdings nur schwach ausgebildet. Ebenso scheinen die Sporen an den Enden von Schäften und Balken wenig ausgeprägt zu sein, doch verhindert hier die Oberflächenbeschädigung einen eindeutigen Befund. Das A ist ganz leicht trapezförmig, das E erscheint zweimal in kapitaler und einmal in unzialer Form, und das G ist eckig. Beim M reicht der Mittelteil bis auf die Grundlinie, während die beiden äußeren Schäfte sehr schräggestellt sind. Das O ist nicht kreisrund, obwohl so beabsichtigt, der Bogen des P ist geschlossen, und die gerade Cauda des R setzt außen am Bogen an. Die Inschrift weist somit Buchstabenformen auf, die nicht mehr denjenigen hochentwickelter und klassizierender karolingischer Inschriften zwischen etwa 830 und 880 entsprechen.2) Sie sind im Duktus eher mit der Inschrift für den Augsburger Bischofs Witgar, der 887 starb, oder der Inschrift des 938 verstorbenen Mönchs Meginbrath in der Krypta der Fuldaer Michaelskirche vergleichbar, hinsichtlich der schwachen Linksschrägenverstärkung auch mit den spätkarolingischen Inschriften in Neuenheerse (um 900) und Arles (883).3) Allerdings ist die Frage, wann und in welchem Maße im 9. Jahrhundert Veränderungen der Schriftformen eintraten, keineswegs geklärt.4) Deshalb bleibt gerade bei der paläographischen Untersuchung von Inschriften, die nur wenige Elemente der hochkarolingischen Buchstabenbildung aufweisen, ein gewisser Unsicherheitsfaktor, ob sie noch dem ausgehenden 9. Jahrhundert oder erst dem 10. Jahrhundert zugerechnet werden können.
Das weitgehende Fehlen von Schriftmerkmalen der hochkarolingischen Epigraphik (830–880) veranlaßte Otto Bramm, den Stein auf die Zeit um 800 zu datieren. Er wies auf eine Schenkungsurkunde hin, die 815 unter Abt Brunward I. von Hrandolf und seiner Frau Theodrath für das Kloster Hersfeld ausgestellt wurde.5) Dort findet sich der Name Egilhelm in der Zeugenliste. Auch in drei Schenkungsurkunden an das Kloster Fulda aus den Jahren 795 und 796 erscheint ein Egilhelm als Zeuge.6) Bramm erschloß daraus eine Identität des (der?) in den Urkunden genannten Zeugen und des in der Inschrift verewigten Hersfelder Mönchs.7) Allerdings bieten die Urkunden für eine derartige Konstruktion keine Grundlage, denn der Name Egilhelm steht ohne weitere Kennzeichnung stets mitten in den Zeugenlisten. Normalerweise wurden Schenkungsurkunden von den Standesgenossen der Schenker bezeugt, so daß man hier von einem Hersfelder Mönch ausgehen müßte, der ohne jede Kennzeichnung zwischen Adeligen steht, was völlig unwahrscheinlich ist. So läßt sich mit den Urkunden nur belegen, daß es den Namen Egilhelm um 800 im Umfeld des Klosters Hersfeld gab.
Gegen diese Frühdatierung spricht aber nicht nur die Paläographie, sondern auch die Verwendung der in Form von Dreiecken gestalteten Worttrenner. Trennzeichen kommen zwar bereits in frühchristlichen Inschriften vor, doch dienen sie dort ausschließlich als Auszeichnungspunkte bei der Datumsangabe, als Sinntrenner oder zur Absetzung von Versen. Die Abtrennung von einzelnen Wörtern im Zusammenhang, wie sie in der Inschrift für Egilhelm und in weiteren vergleichbaren Hersfelder Inschriften zu beobachten ist, läßt sich erst ab dem 10. Jahrhundert regelmäßig nachweisen und ist im 8. und 9. Jahrhundert nur sehr selten zu belegen. Der in insularer Schrift mit Worttrennern ausgeführte Wormser Alduhaluhus-Stein aus dem 8. Jahrhundert8) muß ebenso als Ausnahme angesehen werden wie das Epitaph des 876 verstorbenen Gishwalus aus Bazouges (Dép. Mayenne).9) Beim Grabstein einer Frau namens Ingelsen in Angers vom Ende des 9. Jahrhunderts stehen Trenner nur bei Elementen des Tagesdatums.10)
Besonders wichtig für die Datierung der Inschrift ist das Formular, das aus dem Sterbetag, dem Sterbevermerk (OBIIT) sowie dem Namen und dem Stand des Verstorbenen besteht. Eine Durchsicht der publizierten Inschriftenbestände Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und Frankreichs ergab, daß sich dieses nekrologartige Formular ohne Anbindung an einen weiteren Text erst ab der Mitte des 9. Jahrhunderts nachweisen läßt. Der früheste sicher datierbare Beleg in Stein ist die heute im Fuldaer Dom-Museum aufbewahrte Inschrift für den 863 gestorbenen Fuldaer Mönch Hartleih.11)
Insgesamt sprechen die Ergebnisse der Untersuchung von Paläographie, Worttrennern und Formular dafür, daß die Inschrift gegen Ende des 9. oder in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ausgeführt wurde. Nachdem ein Brand die Hersfelder Kirche 1037 oder 1038 zerstört hatte, wurde der Stein zusammen mit weiteren vergleichbaren Inschriftensteinen beim anschließenden Neubau als Baumaterial verwendet.12) Die Inschrift war schon früher auf ein obsoletes Bauglied geschrieben worden, dessen Herkunft wegen des Verlustes der karolingischen Bausubstanz nicht mehr festgestellt werden kann.