Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)
Nr. 101† Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine E. 15.–A. 16. Jh.?
Beschreibung
Beschriftung eines Reliquienkastens. Im Jahre 1749 wurde der Regierungsrat Johann Christoph Kopp1) von Kassel nach Hersfeld gesandt, um festzustellen, welche Reliquien sich dort noch aus katholischer Zeit befanden; in der Antwort Kopps erfährt man übrigens, daß er „Stift“ auf den alten Herrschaftsbereich ausgedehnt verstand und daher etwa auch nach Schenklengsfeld ging. Der Kanzleisekretär H. Hartmann übergab ihm eine „Specificatio …“, wonach unter Nr. 6 „Ein alter hölzerner verdeckter, auch meist überall verguldeter Kasten, worauf ein Abts-Kopf mit einer Inful und vorne angeschrieben befindlich“. Diese Aktivität ist offenbar den Wünschen des 1749 zum Katholizismus übergetretenen Prinzen, des nachmaligen Landgrafen Friedrich II. (1760–1782), geschuldet.
Nach Specificatio.
Corpus S(anc)ti Lulli
Anmerkungen
- Vgl. knapp zu Johann Christoph Kopp in landgräflichen Diensten Strieder, Grundlage VII 263 ff.
- Die Präsentation der Heiltümer des Trierer Doms im Jahre 1655 zeigt fünf Büstenreliquiare, von denen vier Korrekt mit „Caput S. …“ und das fünfte ohne Präzision bezeichnet sind.
- Vgl. etwa DI 70 (Trier I) Nr. 327, jünger ebd. Nrr. 512, 519. Im vorliegenden Bestand zu 1500 Scti, vgl. Nr. 98.
- DI 70 (Trier I) Nr. 281: sti nicht zuverlässig als mißglücktes sci auszuschließen.
- Vgl. dazu Wunder, Wigberttradition 139 f.
Nachweise
- Specificatio dernjenigen Sachen, welche von Catholischen Zeiten hehr in hiesiger Stiftskirchen annoch verwahrlich geblieben, alß … (HStA Marburg, Best. 17e, Nr. Hersfeld 142).
- Reliquien in Hersfeld 31.
Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 101† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0010108.
Kommentar
Die prekäre Überlieferung gestattet keine weitergehenden Aussagen zur Zeitstellung, da anders als beim spätmittelalterlichen reinen Holzkasten (Nr. 102) keine Angaben zur Schrift gemacht werden und auch im Zitat kaum verläßliche Anhaltspunkte vorhanden sind. An äußeren Merkmalen festzuhalten sind der Goldüberzug, der über das gesamte Mittelalter und die frühe Neuzeit verbreitet war, und der „Abtskopf“ mit Mitra. Daraus könnte man ableiten, daß es sich um ein spätmittelalterliches Büstenreliquiar handelte; dann ginge allerdings die Beischrift zum Leib des Heiligen weit über den vom Bild vermittelten Inhalt hinaus.2) Im Zitat der Inschrift erkennt man keinen Versuch, den Buchstabenbestand oder Merkmale der Schreibung zu übermitteln. Die Kürzung Sti ist vielmehr eine Schreibweise der Zeit der Aufzeichnung, da bis zum Ende des Mittelalters neben der regulären Kürzung SCS (hier SCI) des nomen sacrum fast ausschließlich die radikale Suspension S und prekär Scts3) vorkommen.4) Eine erstaunenswerte Ausnahme bildet die Grabplatte Beckstein (Nr. 53), wo ste allerdings mit einem grammatischen Fehler behaftet scheint.
Eine Gelegenheit, den Reliquienkasten anfertigen zu lassen, bot nach dem Tod Luls im Jahre 786 die erste Erhebung vor 1040, aber damals waren bildliche Darstellungen des Heiligen oder seiner Körperteile am Reliquiar noch nicht möglich. Weder die Kirchweihe von 1144 an Luls Festtag5) noch eine Erwähnung beim Grab Wittas (Nr. 164) oder das Bild des Zyklus (Nr. 211/E, D) lassen sich mit der Erhebung von Luls Gebeinen in einen Reliquienkasten in Verbindung bringen. So bleibt nur die Wahrscheinlichkeit einer spätmittelalterlichen Entstehung des Kastens. Auch wenn es im späten 16. Jahrhundert Versuche gab, etwa mit Hilfe des erwähnten Bildzyklus, die Bedeutung der Abtei in Erinnerung zu rufen und zu festigen, bestand in einer langen Phase seit Crato Melles (Kraft Myle) (1516–1556) unter den wenigstens äußerlich dem Protestantismus freundlich gesinnten Äbten kein Umfeld für einen Reliquienkult. Dennoch scheinen Witta-Grab und Reliquiar des Klostergründers zusammen darauf angelegt, die Bedeutung des Heiltumsschatzes der Abtei in die Öffentlichkeit zu tragen. Spät käme noch der eher altgläubige Joachim Roell (1592–1606) als Auftraggeber in Frage. Ob diese Überlegungen und gegebenenfalls konkreten Bestrebungen angesichts der Reformation in Hessen und der tiefgreifenden Einflußnahme der Landgrafen in Hersfeld irgendwelche realen Folgen zeitigten, läßt sich nicht abschätzen. Möglicherweise waren diese Ansätze des Reliquienkults im Stift eine eher interne Angelegenheit der Selbstvergewisserung und allenfalls auf künftige Veränderungen ausgerichtet.