Inschriftenkatalog: Landkreis Göttingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 66: Lkr. Göttingen (2006)

Nr. 321† Kerstlingerode, ev.-luth. Kirche St. Johannes d. T. 1619

Beschreibung

Epitaph des Johann Wilhelm von Kerstlingerode und der Maria von Minnigerode. Beim Neubau der Kirche 1857/8 wurde das Grabdenkmal zerstört.1) Das Epitaph, dessen Material von Heise als weißer und schwarzer Marmor angegeben wird (vgl. Kommentar),2) war mit bildlichen Darstellungen und Wappen verziert. Es hing an der Wand neben den mit Stein verkleideten Särgen der Verstorbenen (vgl. Nr. 269). Das Begräbnis war von einem schmiedeeisernen Gitter umgeben. Es wurde im Dreißigjährigen Krieg durch plündernde Soldaten schwer beschädigt und im Jahr 1710 auf Veranlassung des Freiherrn Carl Friedrich Görtz von Schlitz restauriert.3)

Inschrift nach Heise.

  1. A

    Equestris familiae antiquitate non minus quam propria virtute nobilissimus Dominus Johannes Wilhelmus a Kerstlingeroda natus Hierapoli Anno Christi MDXLIX die XXIIX Februarii obiit ibidem in vera Christi agnitione et invocatione Anno MDCIII die XXIV Septembr(is) Anno aetatis LIV conjugii XIIX

  2. B

    Quantumvis properes paulum subsiste viator Et quod te monitum vult Libitina lege Corpus inane vides levi de marmore sculptum Compositis manibus quod jacet ante Deum Inque Dei natum fixos intendit ocellos In cruce qui nobis flebile pendet onus Effigie Janus Wilhelmus vivit in ista Kerstlingrodeo sanguine natus eques Ortus, nobilitas virtutum fama, laborum Moles, factorum gloria splendor opum Non describuntur celato marmore terris Haec sidunt, superas non aditura domos Sed pietas quae trinuni bene conscia Jovaea) Quae fidit meritis maxime Christe tuis AErumnas tolerans quae forti pectore rebus E Coelo dubiis sperat et optat opem Enitido statuam merito sibi marmore poscit Hanc auri fulvi bractea multa decet Altius haec terris tendit post fata superstes Ducit ad aetheriae regna beata domus Hac ovat ante Deum jam Christlingrodius heros Et carpit fidei praemia opima suae Haec ipsum comitata fuit dum vita manebat Vita ubi destituit non ea destituit Hanc ille asseruit suprema voce fideli Testibus hanc coram tradidit ille libro

  3. C

    Psalm CXII Des Gerechten wird nimmermehr vergessen 4)

  4. D

    Zur Christlichen Gedächtniß hat dies die Witwe fertigen lassen

  5. E

    Anno MDCXIX obiit nobilissima ejus conjux Maria de Minigeroda

Übersetzung:

Durch das Alter des ritterlichen Geschlechts nicht weniger als durch eigene Tugend hochberühmt starb Herr Johann Wilhelm von Kerstlingerode, geboren in Heiligenstadt am 28. Februar im Jahr Christi 1549, ebendort in wahrer Erkenntnis und Anrufung Christi am 24. September im Jahr 1603 im Alter von 54 Jahren nach 18jähriger Ehe. (A)

Wie sehr du auch eilst, bleib ein wenig stehen, Wanderer, und lies, woran der Tod dich mahnen will. Du siehst den leeren Körper aus glattem Marmor gebildet mit zusammengelegten Händen, weil er vor Gott auf dem Boden liegt, und er richtet die starren Augen auf den Sohn Gottes, der für uns als beweinenswerte Last am Kreuz hängt. In diesem Ebenbild lebt der Ritter Johann Wilhelm, der Kerstlingeröder Geblüt entstammt. Herkunft, Adel, der Ruhm der Tugenden, die Last der Mühen, der Ruhm der Taten, der Glanz der Werke werden nicht in den mit Reliefs verzierten Marmor geschrieben, sie sinken zu Boden, ohne daß sie in die himmlischen Wohnungen Eingang finden. Aber die Frömmigkeit, die dem dreieinigen Gott wohl bekannt ist, die auf deine Verdienste, größter Christus, vertraut, die Trübsal mit tapferem Herzen ertragend in schwierigen Situationen Hilfe vom Himmel erhofft und sich Kraft wünscht, fordert mit Recht für sich eine Statue aus glänzendem Marmor, ihr stehen viele Blättchen funkelnden Goldes wohl an. Höher hinauf als die Erde strebt sie, den Tod überlebend, sie zieht zu den seligen Reichen des himmlischen Hauses. Hier jubelt vor Gott bereits der Kerstlingeröder Held und erntet den stattlichen Lohn seines Glaubens. Diese war sein Begleiter, solange er lebte, als das Leben ihn verließ, verließ sie ihn nicht. Diese bekräftigte er mit letzter zuverlässiger Stimme, vor Zeugen übergab er sie einem Buch. (B)

Im Jahr 1619 verstarb seine hochedle Gattin Maria von Minnigerode. (E)

Versmaß: Elegische Distichen (B).

Kommentar

Das Epitaph wurde mit einiger Sicherheit erst nach dem Tod der Maria von Minnigerode 1619 angefertigt. Dies läßt sich aus der Materialangabe Heises schließen, derzufolge das Epitaph aus weißem und schwarzem Marmor gefertigt war. Diese für den südniedersächsischen Raum ungewöhnliche Materialangabe, die vermutlich nicht ganz zutreffend war, in Kombination mit der Entstehungszeit und der engen Verbindung zu Johann von Minnigerode, einem Bruder der Maria von Minnigerode, legen die Vermutung nahe, daß das Epitaph von derselben Werkstatt gefertigt wurde wie das Epitaph des Johann von Minnigerode aus grauem Quarzit und weißem Marmor in Wollershausen aus dem Jahr 1616, das Hagen-Epitaph in Zaunröden, wohl 1614, und das Rauschenplat-Epitaph von 1619 in Wülfinghausen (vgl. dazu ausführlich Nr. 309). Hinzu kommt die ungewöhnlich detaillierte Beschreibung des Epitaphs in der Inschrift B, die nicht nur eine Statue des Verstorbenen mit zum Gebet zusammengelegten Händen erwähnt, sondern auch auf eine – möglicherweise vergoldete – Statue der Pietas Bezug nimmt, die einen wesentlichen Bestandteil des Epitaphs bildete, vermutlich wie am Minnigerode-Epitaph als zentrale Figur im Mittelteil. Auch die Verkleidung der Zinnsärge des Ehepaars Kerstlingerode/Minnigerode wurde offensichtlich passend zu ihrem Epitaph in derselben Werkstatt gefertigt (vgl. Nr. 269). Da die Tätigkeit der unbekannten Werkstatt bislang nur von 1614 bis 1619 nachzuweisen ist, spricht vieles für eine Entstehung des Epitaphs nach dem Tod der Ehefrau 1619.

Johann Wilhelm von Kerstlingerode wurde 1549 als Sohn des Otto von Kerstlingerode und der Margaretha von Bischhausen geboren. Der Vermerk bei Heise, daß Johann Wilhelm im lutherischen Glauben aufwuchs, steht in gewissem Widerspruch dazu, daß er am erzbischöflichen Hof in Mainz erzogen wurde.5) Im Jahr 1564 immatrikulierte er sich in Marburg.6) Als Page des Mainzer Erzbischofs nahm Johann Wilhelm 1570 am Reichstag in Speyer teil. Anschließend leistete er mehrere Jahre Kriegsdienst in Frankreich und in den Niederlanden. Am 24. Juni 1585 heiratete er die aus einer protestantischen Adelsfamilie des Eichsfelds stammende Maria von Minnigerode, eine Tochter des Jobst von Minnigerode und der Brigitta von Rüxleben und eine Schwester des Johann von Minnigerode (vgl. Nr. 309). Die Ehe blieb kinderlos. Im Jahr 1583 begann Johann Wilhelm von Kerstlingerode mit dem Bau des Herrenhauses in Rittmarshausen, das jedoch zunächst unvollendet blieb, übernahm dann das Amt Scharzfeld und 1593 das Schloß und Amt Gebesee an der Unstrut in Thüringen. Dort wohnte er bis zu seiner Übersiedlung nach Heiligenstadt im Jahr 1602, wo er am 24. September 1603 starb. Kurz vor seinem Tod hatte er zu seinem Trost ein Kirchenlied verfaßt, das Heise überliefert.7) Johann Wilhelm von Kerstlingerode legte wenige Tage vor seinem Tod vor Zeugen aus Adel und Bürgerschaft in Heiligenstadt ein Bekenntnis zum lutherischen Glauben und zu den Inhalten der Confessio Augustana ab, das aufgezeichnet und ihm wiederum in Gegenwart von Zeugen drei Tage später vorgelesen wurde – offenbar um Gerüchten zu begegnen, daß er mit der katholischen Konfession sympathisiere.8) Der letzte Vers der Inschrift B verweist auf diese Begebenheit. Angesichts der auch gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen um die politische Zugehörigkeit der Gartedörfer zu Mainz oder Braunschweig in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts, in denen die Herren von Kerstlingerode sich auf die Seite des Mainzer Kurfürsten stellten und zusammen mit Mainzer Beamten gegen die Dörfer vorgingen,9) lag wohl der Verdacht nahe, daß sie sich auf die katholische Seite geschlagen hatten.

Textkritischer Apparat

  1. Gemeint ist Jehovae.

Anmerkungen

  1. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 118.
  2. Heise, Antiquitates, S. 75.
  3. Heise, Antiquitates, S. 74f.
  4. Ps. 112,6.
  5. Heise, Antiquitates, S. 60.
  6. Matrikel Marburg, Teil 2, S. 60. Hier ist er mit dem Vermerk Hilgenstadiensis sub Episcopo Moguntino eingetragen.
  7. Heise, Antiquitates, S. 62–64; Was betruebstu dich mein Hertz / Machst mir Unruhe / und Schmertz. Die erste Zeile läßt sich in zeitgenössischen Kirchenliedern häufiger nachweisen, vgl. Wackernagel, Kirchenlied, Bd. 4, Nr. 190–192; Fischer, Kirchenlieder-Lexicon, Bd. 2, S. 321ff., 323, 326.
  8. Die biographischen Angaben nach Heise, Antiquitates, S. 59–77.
  9. Vgl. dazu Lücke, Garte, S. 74–78.

Nachweise

  1. Heise, Antiquitates, S. 75f.
  2. Veldeck, Göttingen, S. 116 (A, E).

Zitierhinweis:
DI 66, Lkr. Göttingen, Nr. 321† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di066g012k0032105.